Einleitung
Wissenschaftsjahre haben die Aufgabe, für die Wissenschaft zu werben. Dem kann sich auch ein Geisteswissenschaftler nicht entziehen. Wenn nach Jahren der Physik, der Technik, der Lebens- oder der Geowissenschaften ein Jahr der Geisteswissenschaften angekündigt ist, wird jeder mit seiner Profession auch innerlich verbundene Geisteswissenschaftler für sein Fach die Trommel rühren.
Denn selbst, wenn er sich nur für seine Wissenschaft interessierte (und für gar nichts sonst), müsste er wollen, dass seine Einsichten Aufmerksamkeit finden. Es ist die Logik seiner eigenen Tätigkeit, die ihn wünschen lässt, dass man ihn auch außerhalb seiner Disziplin versteht und dass er weiterhin mit öffentlicher Unterstützung rechnen kann.
Wissenschaft und Öffentlichkeit
Die Belange der Öffentlichkeit ernst zu nehmen, empfiehlt sich nicht erst für die Wissenschaft in demokratisch legitimierten Gemeinwesen. Die Empfehlung gilt auch dann, wenn Forschung und Lehre nicht auf öffentliche Gelder angewiesen sind und keine Aufträge für Erziehung und Bildung übernommen haben. Nehmen wir an, es gäbe eine Wissenschaft, die weder auf staatliche Mittel noch auf private Förderung (und somit auf keinerlei allgemeines Wohlwollen) angewiesen ist: Könnte sie gleichgültig gegenüber äußeren Ansprüchen sein? Wohl kaum, denn sie bliebe, vermutlich stärker als jede andere Wissenschaft, auf Anerkennung durch Andere angewiesen. Diesen hätte sie sich verständlich zu machen, wenn sie als Wissenschaft gelten und als solche wirksam sein wollte.
Der Grund dafür liegt darin, dass es eine konditionale Verbindung zwischen wissenschaftlicher Arbeit und öffentlicher Rechtfertigung gibt - unabhängig von den Formen, in denen Wissenschaft betrieben und gefördert wird. Wissenschaft sucht nach Erkenntnissen, die sie allgemein belegen und begründen kann. Sie ist von Anfang an darauf eingestellt, Gründe für ihre Ansprüche und für ihre Leistungen sowie für deren Verständnis zu nennen. Folglich kann sie auch keinen Einwand geltend machen, wenn von ihr erwartet wird, ihre Kompetenz unter Beweis zu stellen. Damit bin ich bei meiner ersten These: Die wissenschaftliche Rationalität des Erklärens und des Verstehens ist nicht auf die Kommunikation zwischen den Wissenschaftlern beschränkt. Sie erstreckt sich - zumindest tendenziell - auf alle Individuen, die mit der Wissenschaft in Berührung kommen. Unter diesem Anspruch sind szientifische und politische Öffentlichkeit aufeinander bezogen. Beide bewegen sich im Medium des Begründens, und beide haben, wie sich gleich zeigen wird, sowohl historisch wie auch systematisch viel miteinander zu tun.
Die öffentliche Geburt der Wissenschaft
Dass es schon vor weit mehr als zweitausendfünfhundert Jahren so etwas wie wissenschaftliche Erkenntnis gegeben hat, ist eine geschichtliche Tatsache. Mathematik, Astronomie, Medizin, Recht, Bau-, Agrar-, Ernährungs-, und, sagen wir vereinfachend, Technikwissenschaften gehören zum gleichermaßen theoretischen wie praktischen Ursprung der menschlichen Zivilisation. Die ersten großen politischen Reiche Ägyptens, Mesopotamiens und Chinas hatten eine organisierte Gelehrsamkeit mit großen praktischen Effekten, die, wie wir allein aus dem Aufstieg der phönizischen, kretischen und ionischen Kultur erschließen können, auch grenzüberschreitend wirksam war.
Dieses technisch ausgerichtete Wissen stand, wie wir dem auch in diesem Punkt überaus eindrucksvollen Buch Hiob entnehmen können, gewiss nicht allein unter kultischer Leitung. Der alttestamentarische Autor schreibt - etwa um 500 v. Chr.: "Eisen wird aus dem Erdreich hervorgeholt, und Gestein schmilzt man zu Kupfer. Man setzt der Finsternis ein Ende und durchforscht bis zur äußersten Grenze das Gestein der Dunkelheit und Finsternis. Man bricht einen Schacht fern von den [droben] Wohnenden. (...) Die Erde, aus der Brot hervorkommt, ihr Unterstes wird umgewühltwie vom Feuer."
Doch erst von den in verschiedenen Stadtkulturen untereinander und zugleich mit den vorderasiatischen Kulturen konkurrierenden Griechen wissen wir sicher, dass Wissenschaft öffentlich betrieben worden ist. Sie entstand, so wie wir sie heute kennen, in der Ausrichtung auf jeden, der sich um Wissen bemüht, und sie suchte nach Gründen, die grundsätzlich alle überzeugen können; sie rechnete mit der Aufmerksamkeit eines Publikums, das sich zumindest für die technischen und lebenspraktischen Folgen interessierte; sie zog Schüler an, die sich nicht auf die Wiederholung des Gelernten beschränkten und so zur Ausbildung von Lehren in Nachvollzug und Widerspruch führten.
Diese Suche nach allgemeiner Kenntnis von den allgemeinen Gesetzen der Natur, die insbesondere der Medizin eine völlig neue und bis heute wirksame Fassung gab,
Insbesondere die attische Wissenschaft, die sich zwischen 650 und 300 v. Chr. entwickelte, war Element einer Kultur, in der sie mit der Entfaltung der nautischen, der militärischen und der nicht nur auf Tempel und Theater, sondern vor allem auch auf die Infrastruktur der Stadtstaaten bezogenen architektonischen Technik, mit der Ausweitung von Handel und Industrie, mit der Geltung einesschriftlich erfassten und öffentlich praktizierten Rechts, mit dem Aufstieg der Künste, mit der Perfektionierung einer öffentlich exponierten Gymnastik, und - um dies nicht zu vergessen - mit der ersten Erprobung demokratischer Herrschaft auf das Engste verbunden war. Man braucht jetzt nur noch hinzuzufügen, dass eben jenes erstmals im klassischen Griechenland sichtbar hervortretende Publikum keineswegs nur unterrichtet und unterhalten werden wollte, sondern dass sein Anspruch erstmals ausdrücklich (und selbst von den Gegnern der Demokratie im Prinzip anerkannt) auf politische Mitwirkung ausgerichtet war - und schon tritt der enge Zusammenhang zwischen szientifischer und politischer Öffentlichkeit hervor. Also lautet meine zweite These: Wissenschaft ist von ihrem historischen Ursprung her auf Öffentlichkeit angelegt. Diese Öffentlichkeit deckt sich, wenn nicht vollständig, so doch in weiten Teilen mit der politischen Öffentlichkeit, die in den griechischen Stadtstaaten auch die kulturelle Aufmerksamkeit für ästhetische Ereignisse im weitesten Sinn umschließt. Sie ist, der Lebensform der Griechen entsprechend, agonal verfasst. Man sagt also nicht zuviel, wenn man sie bereits als kritische Öffentlichkeit bezeichnet.
Wissen und Handeln
Das Kennzeichen der Wissenschaft, die erstmals mit den Zeugnissen der ionischen Naturphilosophie aus dem sechsten und siebten Jahrhundert überliefert ist, liegt in der Ausrichtung auf Ursachen oder Gründe (aitiai), die als Träger allgemeiner Gesetzmäßigkeiten (nomoi) überzeugen. Das einzelne Vorkommnis interessiert als exemplarischer Fall, als Beleg für einen logos, der als einsichtige Ordnung (kosmos/taxis) ein überall auf gleiche Weise ablaufendes Geschehen beherrscht. Ganz gleich, ob Thales eine Sonnenfinsternis oder eine ertragreiche Ölernte beobachtet: Er sucht nach dem kausallogischen Zusammenhang, der im jeweiligen Ereignis zum Ausdruck kommt. Ihm und seinen Nachfolgern geht es um das Gesetz, das der Vielfalt vorkommender Fälle eine Einheit gibt. Ein Gesetz erlaubt, das Geschehene im Kontext mit anderem Geschehen zu verstehen. Im Rahmen des Verstandenen sind auch Vorhersagen möglich, die ihrerseits Grundlage einer technischen Verfügung über einzelne Naturvorgänge sind. Die wissenschaftliche Erkenntnis der Griechen fasste die uns zugängliche Realität als Erscheinung einer sie regierenden Gesetzmäßigkeit. Ist sie erkannt, lässt sich über die von ihr getragene konkrete Wirklichkeit verfügen.
Bei dieser Auffassung ist die Wissenschaft bis heute geblieben, auch wenn in der Neuzeit der Verfügungsanspruch gelegentlich überzogen und in jüngster Zeit entschieden kritisiert worden ist. Durch die Vielfalt der in ihr durchaus gegensätzlich wirksamen Kräfte gestaltet sich die Disposition über einzelne Erscheinungen oft viel schwieriger, als man denkt. Insofern ist das Auftreten der Wissenschaft (wenigstens in ihren Reden) bescheidener geworden. Aber am grundsätzlichen Anspruch des Erkennens sowie am verfügenden Zugriff des Handelns hat auch die Kritik an übertriebenen Erwartungen nichts geändert. Das war auch deshalb nicht nötig, weil in der skizzierten Relation von Gesetz und Einzelfall keine kulturelle Spezialität der frühen Griechen, sondern lediglich die Dynamik eines im öffentlichen Raum kommunizierten Handelns zum Ausdruck kommt. Wer unter Bedingungen allgemeiner Mitteilbarkeit tätig sein will und dabei die prinzipiell mögliche Einsicht eines jeden unterstellt, der muss auch heute noch so verfahren, wie es die Griechen taten. Sie brauchten nur einen öffentlichen Handlungsraum, in dem jeder Gegenstand im Prinzip von jedem verhandelt werden kann, um mit der von ihnen favorisierten wissenschaftlichen Erklärungsform zugleich den Zugang zu den Handlungsbedingungen zu eröffnen.
Das liegt daran, dass es in jeder politischen, militärischen, pädagogischen, musischen, medizinischen oder technisch-konstruktiven Leistung darauf ankommt, das bestehende Problem als Fall eines erkennbaren Zusammenhangs zu identifizieren. Es muss ein Zusammenhang sein, der sich uns als Kontext von regelmäßiger Wirksamkeit erschließt. Durch die Beziehung der hier als einschlägig diagnostizierten Gesetzmäßigkeit auf den vorkommenden Fall kann man dann, entsprechende Eingriffe vorausgesetzt, auf mögliche Handlungsfolgen schließen. Darin besteht die technische Verfügung, die jeden Handlungserfolg bestimmt, nicht nur beim Bau von Tempeln oder Schiffen, sondern auch im institutionellen Aufbau des Rechts, in der Diätetik für Olympioniken oder in der individuelle Eigenständigkeit erfordernden Ethik. Das sei mit größtem Nachdruck gesagt: Auch die Selbsterziehung zur Tugend ist ein Fall von Technik, nämlich einer nachvollziehbar und somit einsichtig geordneten Disziplinierung seiner selbst. Die dritte These lautet daher, dass im Medium einer Öffentlichkeit, in der mit den im Prinzip gleichen Rechten auch die im Grundsatz gleiche Einsicht eines jeden angenommen wird, die Struktur des wissenschaftlichen Erklärens mit der technischen Struktur des Handelns zur Deckung kommt. Es ist das Paradigma einer alle gleichermaßen einbindenden Technik, die den bis heute andauernden Erfolg der erstmals in Griechenland entwickelten Wissenschaft ermöglicht. Dieses Paradigma ist von den vorhandenen kulturellen Differenzen im europäisch-asiatischen Raum weitgehend unabhängig, was die offenbar problemlose Übernahme durch die Römer, durch andere mediterrane Anrainer, später auch durch die germanischen Völker und heute vornehmlich durch die asiatischen Kulturen beweist.
Natur und Geschichte
Auffällig ist, dass die frühen Griechen nicht die geringste Neigung zeigen, sich auf die Naturerkenntnis zu beschränken. Man könnte sogar die These vertreten, dass sie in allen ihren Bemühungen um Erkenntnis von ethisch-ästhetischen Motiven bestimmt und auf geschichtliche Wirkung ausgerichtet sind. Zwar gibt es die erklärte Abkehr des Sokrates von der Naturphilosophie seiner Vorgänger. Der Weise begründet sie mit der für ihn vorrangigen Selbsterkenntnis, zu der er aber nur gelangen kann, wenn er sich mit seinesgleichen vergleicht. Also braucht er die Unterredung mit den Menschen auf dem Marktplatz, am Rande sportlicher Übungsstätten oder beim Gastmahl.
Es steht außer Zweifel, dass sich dadurch das Interesse der Philosophie hin zu den Fragen des menschlichen Verhaltens verschiebt. Die Ethik, als Lehre von dem seiner Einsicht entsprechenden Handeln des Menschen, entsteht und tritt als drittes Gebiet zu den Erkenntnisbereichen der Physik und der Logik hinzu. Gleichwohl kommt kein Philosoph der Antike auf den Gedanken, zwischen der Logik, der Physik und der Ethik eine methodologische Hürde aufzubauen. Wir sehen im Gegenteil, dass Sokrates die Probleme der Naturphilosophie weiterhin mit großer Aufmerksamkeit verfolgt (Phaidros 229a - 230e), dass sein Schüler Platon ihr eine große Untersuchung widmet (Timaios) und offenbar nicht die geringsten Bedenken hat, den Menschen als Naturwesen zu bestimmen (Politikos 261c - 266e).
Dass es in der Antike keine Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gibt, ist bekannt. Das systematisch Bedeutsame daran ist, dass sie diese Unterscheidung gar nicht nötig hatte, obgleich sie der Erkenntnis jener Bereiche nicht ausgewichen ist, die heute eine methodologische Abgrenzung angeblich erforderlich machen. Die Antike stellt sich dem Problem des spezifisch menschlichen Verhaltens, sie fragt nach der Besonderheit der Seele und des Geistes, sie kennt das Spezifikum des Selbstbewusstseins und mit ihm auch die Beziehung des Menschen zu sich selbst (Alkibiades maior 132b - 133e); sie hat einen Begriff von der Individualität einzelner Wesen, einzelner Teile wie auch einzelner Vorgänge, sie denkt im höchsten Maße geschichtlich, ist zur Analyse ästhetischer und rhetorischer Fragen fähig, hat, wie sich vor allembei Aristoteles zeigt, eine Theorie des Lebens, schließt eine bis heute unübertroffene Beschreibung der Funktionen der Seele ein und kann das Göttliche als erste Ursache, als alles durchdringende Ordnung, als Ideal der Lebensführung oder als dasjenige denken, das dem Geist des Einzelnen am nächsten ist. Im Themen- und Problemspektrum der antiken Wissenschaft fehlt somit nichts, zu dessen Entdeckung es einer Zweiteilung der Wissenschaften bedurft hätte. Damit lässt sich die vierte These formulieren: Mit Blick auf den Träger des Wissens, nämlich den menschlichen Geist, können alle Wissenschaften als Geisteswissenschaften angesehen werden; mit Blick auf ihre Gegenstände aber befassen sich alle Wissenschaften mit der Natur. Denn Geschichte, Gesellschaft und Kultur, ja, selbst die psychischen und intellektuellen Phänomene des Geistes müssen letztlich als Formen der Natur begriffen werden. So gesehen, hätten alle Disziplinen Grund, sich zu den Naturwissenschaften zu rechnen.
Individuelles im Universellen
In seiner problemorientierten Ausrichtung auf Sachverhalte und Gründe ist das ursprünglich auf Mitteilung bezogene Wissen in der Lage, nicht nur abstrakte gesetzliche Zusammenhänge zu erfassen, es hat sich vielmehr bereits in jeder Beobachtung, Beschreibung und Anwendung auf singuläre Situationen und individuelle Vorkommnisse zu beziehen. Also ist es auch in der Lage, geschichtliche Prozesse, seelische Dispositionen und lebendige Konstellationen zu erfassen. Da es in alledem einen Begriff von sich selbst benötigt, kann es die Eigentümlichkeit des Wissens - damit auch des Wahrnehmens, des Vorstellens, des Erinnerns oder des Glaubens - kenntlich machen. Dabei erweist es sich als so beweglich, dass es einer eklatanten Unterschätzung der darauf beruhenden Wissenschaft gleichkommt, wenn man die epistemischen Leistungen auf simple Alternativen wie etwa das Erklären und das Verstehen, auf das Generalisieren und das Individualisieren oder auf nomothetisches und ideographisches Wissen reduziert.
Eine Reduktion dieser Art sollte man schon deshalb vermeiden, weil jede Erkenntnis den in einem Akt erfolgenden Bezug auf individuelle Fälle und auf generalisierende Schlüsse voraussetzt. Wissen ist überdies an einen geschichtlichen Vorlauf gebunden, und es greift notwendig in die Zukunft vor. Was ich jetzt weiß, kommt nicht ohne Erinnerung zustande. Weil zujedem Wissen aber auch eine Erwartung gehört, greift es notwendig auf Kommendes aus. Darin begreift es sich selbst als zweckmäßig. Schließlich ist es durch die ihm innewohnende Funktion der Mitteilung nicht nur auf das wissende Individuum beschränkt, sondern ursprünglich auf andere Individuen ausgerichtet, die der Vorstellungskraft bedürfen, um das eine Individuum in dem, was es an seiner Stelle sagt, in ihrer davon zwangsläufig unterschiedenen eigenen Position gleichwohl so zu verstehen, als sei die Differenz der Individuen und der Situationen nichtig.
Daraus kann man folgendes Fazit ziehen: Durch die ihm eigene Tendenz zur zweckmäßigen und nachvollziehbaren Verfügung über etwas Individuelles, das nur in seiner universellen Form begriffen werden kann, ist das Wissen gleichermaßen auf physikalische Strukturen, biologische Konditionen, gesellschaftliche Situationen und historische Perspektiven bezogen. Eine Einteilung des Wissens ist nur sinnvoll, wenn man es nach Gegenständen oder Problemen sortiert. Soll es dennoch nach unterschiedlichen Methoden unterschieden werden, verbietet es sich, das Individuelle vom Universellen oder den konkreten Einzelfall vom allgemeinen Gesetz zu trennen. Man muss vor allem vermeiden, die (ohnehin fließenden) Unterscheidungen zwischen Natur, Leben, Gesellschaft, Kultur und Geschichte in das Wissen hineinzutragen, so als bilde es für jeden Bereich seine eigenen Formen aus. Also lautet meine fünfte These: Eine kategoriale Trennung zwischen den Wissenschaften, die nach dem Muster einer Unterscheidung zwischen Geist und Natur verfährt, wird weder dem Charakter des Wissens noch dem der Wissenschaft gerecht. Das Gleiche gilt für die Oppositionen zwischen Natur auf der einen und Gesellschaft oder Kultur auf der anderen Seite. Vollends unsinnig wäre es, wollte man, wie es der Titel der "Humanwissenschaften" suggerieren könnte, der Natur den Menschen gegenüberstellen. Denn die Wissenschaft kann immer nur eine sein.
Einheit in der Vielheit
Wenn die Lage so ist, wie in den fünf Thesen angedeutet, dann versteht man sofort, warum das griechische Modell einer Einheit der Wissenschaften fast zweieinhalbtausend Jahre in selbstverständlicher Geltung geblieben ist. Die Wissenschaft war vielfältig von Anfang an. Der Unterschied zwischen dem, was der Anwalt der Vielfalt, Heraklit, und sein Widersacher im Dienste der Einheit, Parmenides, was der Atomist Empedokles und der Intellektualist Anaxagoras, was der Historiker Thukydides und der Arzt Hippokrates, was derJurist, Staatstheoretiker und Anthropologe Protagoras und seine großen Kontrahenten Sokrates und Platon (und was aus alledem dann wenig später Aristoteles in großartiger Verbindung aus Physik, Meteorologie, Biologie, Ethik, Politik, Rhetorik, Logik, Topik, Ontologie, Theologie, ja sogar aus der Hermeneutik) gemacht haben, könnte größer nicht sein.
Und dennoch haben sie und ihre Nachfolger in Athen, Alexandria, Rom, Byzanz, Paris, Oxford, Bologna und später auch in Florenz, London, Basel, Rotterdam, Hannover, Königsberg, Weimar, Jena, Berlin (oder auch im Hamburg Ernst Cassirers) nicht daran gezweifelt, dass es eine alles verbindende Rationalität des Wissens gibt. Sie unterstellt dem auf alle Vorkommnisse und Erwartungen bezogenen Bemühen um Erkenntnis ein und denselben Anspruch, der in der menschlichen Vernunft seinen Ursprung, in der kontrollierten Erfahrung seine Bedingung und in der öffentlichen Erörterung sein immer wieder neu anzulegendes Kriterium hat.
Natürlich hat es ergänzende und erweiternde Gliederungen, neue Themen und Aufgaben gegeben. Das ließe sich mit Blick auf die Wiedergewinnung der antiken Wissenschaft durch die universitäre Gelehrsamkeit des Hochmittelalters zeigen. Theologie und Jurisprudenz kommen als neue, wesentlich berufsbezogen arbeitende Großdisziplinen hinzu. Beide bilden eine vielfältig gegliederte Arbeitsweise aus, vornehmlich durch Orientierung an den überlieferten Gehalten und Verfahren. Sie hegen eigene Ziele, pflegen ihre Tradition und halten sich jeweils selbst für etwas Besseres. Aber sie sind und sie bleiben dadurch verbunden, dass sie sich allesamt als Wissenschaften verstehen, die sich zwar in unendlich vielen Einzelheiten, in Interessen, Themen und natürlich auch in ihren Methoden unterscheiden - und dennoch zu einer Wissenschaft gehören.
Im Humanismus, den man nicht auf die Renaissance beschränken kann, sondern der -wie die Aufklärung - eine Daueraufgabe von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik darstellt, hat sich der wissenschaftliche, praktisch-technische und pädagogische Impuls der Wissenschaft unter Rückbesinnung auf die Antike verstärkt. Die von den Humanisten gepflegten humaniora hatten die Aufgabe, in allgemeinbildender Absicht die kulturelle Tradition des Menschen in Erinnerung zu halten. Deren Erschließung, Sicherung und Vergegenwärtigung verlangt Fertigkeiten, die in jeder gesellschaftlichen Stellung von Nutzen sind. In der Sache sollten sie zu Einsichten führen, in der sich die Menschheit als Ganze ihrer Herkunft, ihrer Eigenart und ihrer Ziele vergewissert.
Der jugendliche Pico della Mirandola suchte Ende des 15. Jahrhunderts die Einheit der Wissenschaften gerade angesichts ihrer Vielfalt zu wahren, um in den von ihm als bedrohlich erfahrenen religiösen und kulturellen Gegensätzen der Welt, vornehmlich zwischen Islam, Judentum und Christentum (aber auch zwischen der östlichen Orthodoxie und dem westlichen Katholizismus), den alle verbindenden Grund im Streben nach Einsicht aufzuzeigen. Der Wunsch, dem Göttlichen auf menschliche Weise nahe zu sein, kam hinzu.
Eine Generation später hatten sich mit der Reformation die Gegensätze in Europa bereits vervielfacht, und dennoch hat der alte, mit allen Größen seiner Zeit verkehrende und an vielen Orten Europas wirksame Erasmus das gleiche Ziel verfolgt und im Vertrauen auf die disziplinierende Wirkung der Philologien sowie auf den Zauber der dadurch erschlossenen Kontinuität des Wissens die humanisierende Wirkung der Wissenschaft in den Vordergrund gerückt. In der Leistung der Druckerpresse, der er selber reichlich Arbeit gab, war ihm gegenwärtig, dass sich diese Hoffnung nur in Verbindung mit der neuen Technik erfüllen ließe, und mit seinem Freund, dem für seine Wahrhaftigkeit mit dem Tode bestraften Thomas Morus, war er sich einig, dass auch unter den neuen Lebensbedingungen die Naturerkenntnis das Fundament alles verlässlichen Wissens zu sein hat.
Unter den Neueren sollten wir vor allem an Gottfried Wilhelm Leibniz denken, den ersten Theoretiker, der die Einheit der Wissenschaft angesichts der Vielfalt akademischer Anstrengungen nicht nur zu sichern sucht, sondern in der eigenen - Mathematik, Physik, Chemie, Informatik, Bergbau, Linguistik, Sinologie und Philosophie umschließenden - wissenschaftlichen Leistung repräsentiert. Die Resignation, mit der rückblickend von ihm alsdem "letzten Universalgelehrten" gesprochen wird, ist schon von der Müdigkeit angekränkelt, die uns heute erst gar nicht mehr darauf setzen lässt, dass die Wissenschaft gerade in ihrer Vielfalt das größte einheitliche Vorhaben der Menschheit ist. Wenn wir, um einmal selbst technisch zu reden, in dieses Projekt nicht investieren, hat die Menschheit keine Chance, sich auf dem Niveau ihres Selbstbegriffs zu halten. Damit ist die sechste These ausgesprochen: Der Mensch hat sich unendlich viele Schwächen, Irrtümer, Maßlosigkeiten und Verbrechen vorzuwerfen. Niemand, der ernst genommen werden will, darf annehmen, dass es damit ein Ende haben wird. Selbst wenn es dem Menschen gelingen sollte, das erstmals in Athen in Angriff genommene Projekt der Demokratie im kontinuierlichen Kampf um das Recht in eine weltweit wirksame Form grundrechtlich gesicherter Konstitution zu überführen,
Wenn wir gleichwohl auf die Menschheit setzen und hoffen, sie könne sich durch eine auf das Menschenrecht gegründete Politik selbst disziplinieren, dann unterstellen wir nicht nur den Juristen, Soziologen und Politologen bleibende Aufgaben, sondern erwarten auch von der Ökonomie, dass sie uns die Kenntnisse zur Verfügung stellt, die uns erlauben, mit dem weiterhin erwarteten Wachstum an Menschen und Gütern möglichst berechenbar und möglichst gerecht umzugehen. Die stillschweigende Voraussetzung für das Wachstum aber liegt in der fortgesetzten Produktivität der Grundlagenforschung in jedem Fach, angefangen bei der Mathematik und Physik bis hin zu den Sprach-, Kultur- und Religionswissenschaften. Wir brauchen alle Disziplinen, und wir benötigen sie in zunehmend interdisziplinärer Kooperation. Dass sie dazu erst einmal als Fächer solide ausgestattet und gefördert werden müssen, sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.
Die Notwendigkeit der Wissenschaft
Nach zweieinhalb Jahrhunderten pauschaler Verwerfung der Wissenschaft tut man gut daran, ihre Unverzichtbarkeit zu exponieren. Nicht sie ist das Verhängnis der modernen Zivilisation. Die Fehler, die der Mensch in seiner Geschichte gemacht hat und vermutlich auch weiterhin machen wird, dürfen wir weder der Wissenschaft noch der Aufklärung zurechnen. Im Gegenteil: Wenn es eine Chance geben sollte, mit diesen Fehlern offener und kenntnisreicher umzugehen,so dass man ihnen wirkungsvollere Korrektive beigeben kann, ist nichts wichtiger als die Wissenschaft - freilich, wie Kant sagt, in einer "das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft".
Die seit Rousseau in Umlauf gekommene Kulturkritik unterliegt bis in die jüngste Gegenwart einem alten metaphysischen Fehler: Sie unterstellt Substanzen, wo lediglich Funktionen zu entdecken sind. So macht sie aus der Wissenschaft, der Aufklärung, der Technik, ja, neuerdings sogar aus dem Risiko ein eigenständiges Wesen, dem der Mensch beinahe machtlos unterworfen ist. Sie verwechselt Ursache und Wirkung und schreibt die Schuld für Fehlentwicklungen nicht dem Menschen, sondern seinen Erfindungen zu. Damit lenkt sie von der alleinigen Zuständigkeit des Menschen, genauer: von der Verantwortung des Einzelnen und seiner jetzt lebenden Generation für die anstehenden Fragen ab.
Schon ein kurzes Nachdenken reicht aus, um zu erkennen, dass der Mensch nur durch seine Geschichte zum Subjekt seines eigenen Handelns wird. Diese ist es, die ihn zum Handeln befreit. Wenn die Kulturkritik hingegen in allem ein tragisches "Verhängnis" entdeckt, wenn sie in der Ökonomie nur die verselbständigte Macht des "Kapitals" am Werke sieht oder von einer "Dialektik der Aufklärung" spricht, macht sie den Menschen von vornherein zum Opfer seiner eigenen Vergangenheit. Ausgerechnet das, was erstmals der Menschheit als Ganzer Lebenschancen eröffnet, wird als weltgeschichtliches Hindernis ausgegeben.
Unter den heute gegebenen Bedingungen bieten tatsächlich nur Wissenschaft und Technik (zu der wohlgemerkt auch Ethik und Recht gehören) der Menschheit die Hoffnung auf Sicherung ihrer Zukunft. Dass sie dennoch in immer neuen Variationen als die zivilisatorische Inkarnation des Bösen vorgeführt werden, zeigt, dass sogar der Zeitgeist verspätet sein kann. Die beiläufige Bemerkung eines der ersten wahrhaft modernen Menschen könnte hier Abhilfe schaffen: "Nur was zu etwas gut ist", sagt Montaigne, "lässt sich auch missbrauchen." (Essais II, 6)
Das Wort macht klar, dass es vom Menschen selbst abhängt, wie er mit Wissenschaft und Technik verfährt. Es ist seine Schuld,wenn er zuviel von ihnen erwartet, wenn er sie unkritisch zum Einsatz bringt, sie ohne öffentlichen Diskurs betreibt, unzulänglich fördert oder sie zum permanenten Experimentierfeld angeblich kostenneutraler Maßnahmen macht, die als Reformen ausgegeben werden. Die siebente und letzte These lautet daher: Der Geist liegt in dem, was man als Logik des Wissens bezeichnen kann. Diese Logik stellt die Einheit eines auf Erkenntnisgewinn zielenden Verfahrens her, dessen Ergebnisse öffentlicher Prüfung standhalten müssen. Sie wirkt bereits in der Erwartung allgemein verständlicher und möglichst von jedem geteilter Gründe. Sie besteht in Einsichten, die nicht nur die äußere Verfügung über die Kräfte der Natur erweitern, sondern auch dem Einzelnen größere Chancen zur eigenständigen Gestaltung seines Lebens bieten. Alles in allem trägt sie die Hoffnung auf einen Erfolg, der weitere Erfolge nicht unmöglich macht.
Kurzer Rückblick auf eine Trennung
Was ist im Licht dieser Einsicht von der Aufspaltung der Wissenschaften in "zwei Kulturen", in die Naturwissenschaften auf der einen und die Geisteswissenschaften auf der anderen Seite zu halten? Nicht das Geringste!
Die Grenzziehung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ist eine Spätfolge der rousseauistisch-romantischen Wissenschaftskritik des 19. Jahrhunderts. Das Ressentiment gegenüber der abstrakten, technisch orientierten, die Innerlichkeit des Menschen angeblich missachtenden Wissenschaft war in der Welt, und nun mussten die Philosophen, Philologen und Historiker erleben, wie ausgerechnet die so verfahrenden Wissenschaften das höchste Ansehen genießen. Was lag näher, als diese angeblich nur technisch, angeblich nur erklärend und angeblich nur äußerlich verfahrende Erforschung der Natur auf ein begrenztes Terrain zu beschränken, von dem sich der angeblich rein geistige Bezirk des Verstehens, des Deutens und der reflexiven Selbstbeziehung definitorisch abgrenzen ließ?
Nachdem Naturwissenschaftler wie Hermann von Helmholtz den Begriff der Geisteswissenschaften gebrauchten, um damit die Eigenständigkeit eines inneren Zugangs zu den Erscheinungen von Religion, Recht, Staat, Sprache, Kunst und Geschichte zu würdigen,
Mir ist bewusst, dass dies nicht die ganze Wahrheit über die Bemühungen um eine methodologische Unterscheidung zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert ist. John Stuart Mill hat, übrigens nicht unbeeindruckt von Romantikern wie Coleridge und Carlyle, mit großem sachlichen Gewinn die, wie er sagte, logische Differenz in den Gesetzesaussagen über die Natur und die Gesellschaft herausgearbeitet. Dadurch inaugurierte er die Idee eines Methodendualismus, die von Wilhelm Dilthey und vom südwestdeutschen Kantianismus, nicht zuletzt auch von Max Weber, in nicht weniger ernsthafter Weise aufgenommen und weiterentwickelt worden ist.
Es muss heute gar nicht bezweifelt werden, dass die damals vorherrschende Auffassung von Natur mit der unterstellten strikten Geltung der Kausalität zu einer methodologischen Abgrenzung ökonomischer, soziologischer, psychologischer und hermeneutischer Erkenntnis genötigt hat. Doch das seinerzeit als selbstverständlich geltende Verfahren kausaler Naturbeschreibung hat seine Autorität inzwischen eingebüßt. Statistische und systemtheoretische, also auf das Verstehen angelegte Zugänge sind in der Physik unverzichtbar. Die Biologie braucht nicht erst in den Fragen der Ethologie ein Verständnis für die Eigenart von Systemen, die auf der Analogie zu den vertrauten Zweckeinheiten des menschlichen Handelns beruhen. Wenn der moderne Biologe den Zusammenhang zwischen Organismus und Umwelt erfassen will, muss er sich wie ein Geisteswissenschaftler verhalten; er muss Ganzheiten unterstellen, die es erlauben, die Teile nach ihren Funktionen einzuordnen.
Das ist die eine Seite. Die andere tritt darin hervor, dass eine Wissenschaft wie die Psychologie, die zur Zeit Diltheys als Paradedisziplin der Geisteswissenschaften galt, heute beinahe in ihrer Gesamtheit zu einer Naturwissenschaft geworden ist. Entsprechendes gilt für große Teile der Sprach- und Sozialwissenschaften, die mit Erfolg naturwissenschaftliche Verfahren einsetzen. Mag sein, dass dabei Defizite auftreten, die später behoben werden müssen. Aber es wäre unverantwortlich, mit dem Rasiermesser strenger Methodologie produktive Forschungseinheiten zu zerschneiden, nur weil man weiterhin will, dass man die alte Titulatur der Disziplinen erhält.
Die Einheit im Sinn
Die Separierung der Geisteswissenschaften war in Deutschland gut hundert Jahre lang ein Erfolgsrezept. Doch die damit verbundenen forschungspolitischen Hoffnungen erfüllen sich schon lange nicht mehr. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie haben nicht zuletzt mit dem Niedergang des Bildungsbürgertums zu tun, das der erste Weltkrieg schwächte, das sich unter Hitler selbst verriet und mit der Studentenbewegung von 1968 so gut wie völlig verschwand. Deshalb ist die Lage in Deutschland auch nicht mit der in anderen westlichen Ländern vergleichbar.
Doch ganz gleich, wie es anderswo ist: Wir brauchen einen Neuanfang, der die Sache der Geisteswissenschaften, unabhängig von ihrem Namen, rettet. Andernfalls besteht größte Gefahr, dass wir gerade in jenen Wissenschaften bedeutungslos werden, in denen uns andere Völker und Kulturen bewundern. Noch kommen die Nord- und Südamerikaner, die Japaner, Koreaner, Inder und eine wachsende Zahl von Chinesen nach Deutschland, um hier Alte Sprachen, Kunstgeschichte, Literatur, Musik, Theologie oder Philosophie zu studieren. Wenn wir aber die zuständigen Disziplinen weiter schwächen, wird es auch damit ein Ende haben.
Die Intensivierung der Forschung und der Lehre in den Bereichen von Geschichte, Sprache, Kunst und Kultur ist daher das erste Erfordernis. Das zweite liegt darin, das überkommene Selbstverständnis zu korrigieren und die Nähe der klassischen Themen des Geistes zu den Fragen des Lebens und der Natur zu exponieren. Hierzu könnte es hilfreich sein, wenn die Geisteswissenschaften auf ihren methodologischen Hoheitsanspruch über den Zugang zu den Gebieten der Seele, der Gesellschaft und der Kultur verzichten. Sie sind Wissenschaften wie alle anderen auch, und sie sollten die Verfahren nutzen, die ihren komplexen Gegenständen angemessen sind.
Das empfiehlt sich auch deshalb, weil sie große, ja, größte Themen und Probleme zu bearbeiten haben, deren Bedeutung mit dem Anstieg des zivilisatorischen Aufwands täglich wächst: Die Fragen der Erziehung, der rechtlichen Ordnung, der sozialen Gerechtigkeit, des Vergleichs der Kulturen, der weltweiten Verständigung sowie der Sicherung des Friedens liegen auf der Hand. Hinzu kommt, dass man selbst in Ökonomie, Technik und Medizin nicht nur deshalb immer mehr über einzelne Vorhaben wissen muss, weil die sachlichen Anforderungen exponentiell steigen, sondern weil sie "akzeptabel" gemacht werden müssen.
Tatsächlich erfordert das Problem der Anwendung einen ständig wachsenden Aufwand. Das belegt auch die Erforschung des Klimawandels, der Migration oder des Wachstums der Metropolen. Die besten Ergebnisse helfen nicht, wenn sie nicht von den Menschen aufgenommen und verständig umgesetzt werden. Hier, wie in allen anderen Fällen, tritt auf unübersehbare Weise hervor, dass wir eine genauere Kenntnis des Menschen und seiner Lebenslagen benötigen. Und mit jeder Erfindung, mit jeder hinzukommenden Einsicht, mit jeder "Entschlüsselung" der "Codes" von Leben und Kultur wird deutlicher, wie viel mehr der Mensch tun muss, um nicht nur klug, sondern auch verantwortlich mit seinem Wissen umzugehen. Dazu braucht er ein umfängliches Wissen von der Geschichte, der gesellschaftlichen Strukturen, der psychischen Anlagen, der ästhetischen und religiösen Erwartungen sowie, abkürzend gesagt, seiner Ansprüche an sich selbst. Denn alles ist nichts ohne den Sinn, den wir darin zu erkennen vermögen.
Behutsamer Umgang mit einer Tradition
Was aber machen wir mit dem Begriff der Geisteswissenschaften und mit ihrem veralteten Gebietsanspruch? Auch Begriffe haben ihre Geschichte und gewinnen in deren Gang ihren eigenen Wert. Im Fall der Geisteswissenschaften liegt er in der Exposition des Geistes. Das ist ein großartiger, umfassender Begriff, den wir uns nicht durch oberflächliche Hegel-Kritiker aus dem Kopf schlagen lassen sollten.
Der Geist aber ist in allen Wissenschaften wirksam. Und da das nicht alle wissen, sollten die traditionell auf ihn bezogenen Disziplinen die in allem wirksame Präsenz des Geistes herausarbeiten. Das geht nicht ohne Aufmerksamkeit für die anderen Wissenschaften, nicht ohne Sinn für die Technik und vor allem nicht ohne den Mut, sich auch mit neuen Medien in zunächst fremden Kontexten verständlich zu machen.
Wie alle diese Momente produktiv gemacht werden können, hat der große, gelegentlich sogar noch als "universal" titulierte Hamburger Gelehrte Ernst Cassirer in seinem Lebenswerk vorgeführt.
Im Übrigen hat Cassirer durch seine Studien zur Relativitätstheorie, zum Erkenntnisproblem in Physik und Biologie sowie in seiner souveränen Untersuchung über Determinismus und Indeterminismus in der Natur deutlich gemacht, dass Wissenschaft letztlich darauf beruht, keine festen Grenzen zu akzeptieren. Das sollte für jeden Wissenschaftler die leitende Maxime sein.