Es ist kein gutes Zeichen, wenn am Ende eines historischen Prozesses gegen eine rechtsextreme Terrorbande ausgerechnet die Neonazis auf der Besuchertribüne Applaus klatschen. Ein Dutzend Rechtsradikale war am Tag des Urteils aufmarschiert, sie hatten seit dem frühen Morgen vor dem Gericht angestanden, um auf jeden Fall einen Platz zu ergattern. Sie hatten sich mit schwarzen Hemden uniformiert und sich offenbar mit Ralf Wohlleben und André Eminger abgesprochen, den beiden Angeklagten, die sich ausdrücklich zur rechten Szene bekennen. Auch Wohlleben und Eminger trugen am Urteilstag Schwarz.
Als das Gericht dann Eminger, für den die Bundesanwaltschaft zwölf Jahre Haft gefordert hatte, an jenem 11. Juli 2018 nur zu zweieinhalb Jahren verurteilte, da brachen seine rechtsradikalen Kameraden in Jubel aus. Der bekennende Neonazi Eminger hatte nach dem Suizid seiner Freunde Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt eine Art germanischen Hausaltar in seiner Wohnung eingerichtet: selbstgezeichnete Porträts der beiden NSU-Männer, dazu eine Rune, die "unvergessen" bedeutet. Für die Bundesanwaltschaft war das eine "geständnisgleiche Wohnzimmergestaltung", für das Gericht allerdings nicht überzeugend. Seine Neonazi-Kameraden feierten das Ende des NSU-Prozesses als ihren Sieg, nicht als Sieg des Rechtsstaats.
Überschaubare Strafen für die Helfer
Sicher: Das Gericht hat die Hauptangeklagte Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt und die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Hält der Bundesgerichtshof in der Revision dieses Urteil, wird Zschäpe eine alte Frau sein, bevor sie wieder in Freiheit kommt. Die hohe Strafe für Zschäpe verdeckt allerdings, dass die anderen Angeklagten mit recht überschaubaren Strafen davongekommen sind: Der frühere NPD-Funktionär Wohlleben, der die Hilfe für die Terrorzelle organisiert hatte, wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt; Holger Gerlach, der den Terroristen über Jahre hinweg seine Ausweispapiere zur Tarnung überlassen hatte, zu drei Jahren Haft und Carsten Schultze, der als junger Mann die Mordwaffe überbracht hatte, zu drei Jahren Jugendhaft. Eminger, der mit seiner Frau Susann eng mit Zschäpe und ihren Gefährten Mundlos und Böhnhardt befreundet war, kam mit nur zweieinhalb Jahren davon und verließ das Gericht noch am gleichen Tag als freier Mann. Schon kurz danach wurde er wieder auf Skinhead-Konzerten gesehen.
Alle Angeklagten haben Revision gegen das Urteil eingelegt, nur Carsten Schultze nicht: Der Mann, der sich bereits kurz nach seiner Tat von der rechtsradikalen Szene abgewandt und als einziger im Prozess Reue gezeigt hatte, hat das Urteil anerkannt und Ende 2018 die Haft angetreten. Alle anderen warten auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, die aber nicht vor 2021 fallen dürfte. Denn mit dem schriftlichen Urteil lassen sich die Richter des Münchner Oberlandesgerichts (OLG) viel Zeit: Auch 16 Monate nach dem Urteil liegt es nicht vor.
Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl zeichnete im Urteil das Bild des NSU als einer Terrorbande, die sich von Anfang an dazu verabredet hatte, eine Mordserie gegen Ausländer und Repräsentanten des Staates zu begehen, um eine Gesellschaftsordnung nach dem Vorbild des Nationalsozialismus zu schaffen – und zwar ausdrücklich, ohne sich zu den Taten zu bekennen. Der Grund für diese Schläge aus dem Nichts: Man wollte erst später ein Bekennervideo veröffentlichen, weil die Gruppe, so sah das der 6. Strafsenat des OLG München, "die Machtlosigkeit des Sicherheitsapparats und die Schutzlosigkeit der angegriffenen Bevölkerungsgruppe zeigen wollte". Genauso ist es dann auch gekommen.
Versprechen der Kanzlerin
Die türkischstämmige Community fühlte sich über Jahre allein gelassen vom deutschen Staat, ihre Hinweise auf "Türken-Hasser", die ihrer Ansicht nach in erster Linie als Täter für die Serienmorde infrage kamen, wurden als hysterisch abgetan. Noch mehr: Die Familien der Opfer wurden über Jahre verdächtigt, selbst etwas mit den Morden an ihren Vätern, Ehemännern, Söhnen zu tun zu haben und in einer Art Schweige-Wagenburg aus Angst oder Mitwisserschaft gefangen zu sein. Der Verdacht gegen die Hinterbliebenen säte Zweifel und Zwietracht in manchen Familien. Für viele war die Entdeckung der wahren Täter dann wie eine Befreiung. Und die Familien setzten all ihre Hoffnung auf das Versprechen, das ihnen Bundeskanzlerin Merkel im Februar 2012 gegeben hatte. Bei einer Trauerfeier für die Opfer in Berlin hatte sie gelobt: "Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen."
Nach mehr als acht Jahren Ermittlungen und einem halben Dutzend Untersuchungsausschüssen im Bundestag und in den Ländern, nach 438 Verhandlungstagen im NSU-Prozess, nach 600 Zeugen und nach dem Durcharbeiten von 500.000 Blatt Akten kann man nur sagen: Dieses Versprechen ist bisher nur zu einem kleinen Teil eingelöst. Insbesondere das OLG München hat versucht, den Prozess angesichts von zehn angeklagten Morden, 15 Raubüberfällen und zwei Sprengstoffanschlägen so schlank wie möglich zu halten, und es hat auch die drängenden Fragen nach der Mitverantwortung des Staates für die Mordserie weitgehend ausgeklammert.
Die Möglichkeiten der Bundesanwaltschaft, in Zukunft noch weitere Helfer und Helfershelfer des NSU vor Gericht zu bringen, sind durch das Urteil gegen Null geschrumpft. Denn der Senat sah es selbst beim engsten Vertrauten des NSU-Trios, André Eminger, als nicht zu beweisen an, dass er von den Morden gewusst hat – obwohl Zschäpe selbst erklärt hatte, sie habe ihm vertraulich von den Raubüberfällen der Zelle erzählt. Aber den Schluss, dass Eminger dann auch sicher von den anderen Taten der Terroristen wusste, da er auch ideologisch voll auf ihrer Linie lag (Er nannte sich vor Gericht einen "Nationalsozialisten mit Haut und mit Haaren"), diesen Schluss mochte das Gericht nicht ziehen. So aber können auch die anderen neun Beschuldigten, allesamt Helfer und Freunde des Trios, kaum mehr angeklagt werden, auch Zschäpes beste Freundin Susann Eminger nicht – denn bei diesen Personen ist dann noch schwerer nachzuweisen als bei André Eminger, dass sie wussten, was der NSU all die Jahre trieb. Man muss es deutlich sagen: Von der Justiz haben die Angehörigen der Opfer nun nichts mehr zu erwarten.
Angst der Opfer
Aber den Familien der Opfer ging es nie in erster Linie um hohe Strafen für die Angeklagten. Sie wollten etwas anderes: Klarheit darüber, warum gerade ihr Mann, ihr Sohn, ihr Vater ermordet worden war. Sie wollten endlich erfahren, wer ihre Familie als Ziel markiert hatte, wer ihr Leben ausspioniert hatte, wer – zum Beispiel – die NSU-Mörder in den unscheinbaren Kiosk mit deutscher Aufschrift in Köln geführt hatte, den eine iranischstämmige Familie in der winzigen Probsteigasse führte. Oder wer wusste, dass an der Münchner Trappentreustraße erst seit zwei Wochen ein "südländisch" aussehender Mann einen Schlüsseldienst betrieb? Die Fragen der Opfer blieben weitgehend unbeantwortet, obwohl ihre Anwälte intensiv nach den Hintergründen der Taten fragten. Doch das Gericht ließ sich nur in Maßen darauf ein, den Sumpf der rechtsradikalen Szene zu durchleuchten, aus dem die Täter kamen. Und so hat zum Beispiel die zweifache Mutter Gamze Kubaşik aus Dortmund immer noch Angst, wenn sie vor die Türe tritt. Rund um ihre Wohnung und den Kiosk, wo ihr Vater vom NSU ermordet worden war, gibt es eine starke rechte Szene. Der Hooligan Siegfried Borchardt, SS-Siggi genannt, bestimmte sie über Jahre. Eine Patronenschachtel mit der Aufschrift "Siggi" wurde im Unterschlupf des NSU in Zwickau gefunden. Auch später waren Rechtsextreme in Dortmund aktiv. Rund 400 Neonazis überfielen am 1. Mai 2009 eine DGB-Kundgebung in Dortmund und verprügelten friedliche Demonstranten, unter den Angreifern war auch der Mann, der beschuldigt wird, im Frühjahr 2019 den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ermordet zu haben – kein Jahr nach dem Urteil im NSU-Prozess.
Schon der NSU hatte 2006 innerhalb weniger Tage erst in Dortmund und dann in Kassel zugeschlagen. Auch dort gibt es eine starke rechte Szene. Man kennt sich, von Demonstrationen, von Rudolf-Heß-Märschen, von Skinhead-Konzerten. Im NSU-Prozess wurde klar, wie sehr das untergetauchte Trio eingebettet war in die Szene der gewalttätigen "Blood and Honour"-Bewegung, deren Mitglieder den Dreien Wohnungen besorgten, Pässe gaben, Geld sammelten und sie zu Grillpartys einluden. Von "Untergrund" konnte beim NSU anfangs keine Rede sein, da bewegten sie sich in der "Blood and Honour"-Szene von Chemnitz wie Fische im Wasser. Die Rechtsradikalen sind bis heute bestens vernetzt, können sich schnell organisieren und zeigen gerne, wie stark sie sind – wie man auch bei den Aufmärschen in Chemnitz im August 2018 gesehen hat. Das beobachten auch die Angehörigen der Opfer und die Beteiligten im NSU-Prozess. Sie sehen, wie unbeeindruckt die Rechtsradikalen sind.
Auch den Behörden, die jahrelang so viele Fehler gemacht haben, drohen keine Konsequenzen mehr. Die Arbeit der Untersuchungsausschüsse ist weitgehend abgeschlossen, große Erkenntnisse sind nicht mehr zu erwarten. Ein halbes Dutzend Verfassungsschutzpräsidenten ist gegangen, die Strukturen, die zu dem flächendeckenden Versagen bei der Suche nach dem NSU führten, bestehen weiter. Es kamen persönliche Verfehlungen zutage wie bei dem Beamten mit dem Decknamen Lothar Lingen, der Akten zu Erkenntnissen des Verfassungsschutzes über die rechtsextreme Szene in Thüringen schreddern ließ – angeblich aus Angst, Vorwürfe zu bekommen, dass man so wenig wusste, obwohl man so viele Spitzel eingesetzt hatte. Auch die unsäglichen Verhältnisse im Landesamt für Verfassungsschutz in Thüringen, wo Präsident Helmut Roewer ein selbstherrliches Regiment führte und keiner dem anderen traute, wurden öffentlich. Dort versickerten viele Hinweise, mit denen man den NSU hätte früher fassen können. Aber der letztendliche Beweis, dass der Verfassungsschutz den NSU wissentlich gewähren ließ, ihn gar unterstützte, wurde weder in den Untersuchungsausschüssen noch im Prozess erbracht.
Mehr als durch persönliche Verfehlungen einzelner Verfassungsschützer wurden die Ermittlungen durch "Dienst nach Vorschrift", Eifersüchteleien in den Ämtern, Geheimniskrämerei und Ländergrenzen gebremst. Als hätten die NSU-Terroristen das geahnt, zogen sie von Jena in Thüringen in den Untergrund nach Sachsen, erst nach Chemnitz, dann nach Zwickau. Der Informationsfluss der Sicherheitsbehörden wurde so nachhaltig unterbrochen. Aber auch diese strukturellen Defizite, die Sicherheitsbehörden sowie ihr Versagen kamen im Urteil des OLG München nicht vor.
Lehrstück deutscher Geschichte
Trotz des umstrittenen Urteils war der NSU-Prozess nicht nur ein großer, er war ein historischer Prozess. Das Verfahren steht in einer Linie mit den Auschwitz- und den RAF-Prozessen. Denn es war – weit über das rein Rechtliche hinaus – ein Lehrstück deutscher Geschichte. Es war eine Tiefenbohrung in die Gesellschaft, die gefährliche Sedimente unter der Oberfläche wirtschaftlich blühender Landschaften und einer scheinbar gefestigten Demokratie zutage förderte. Der NSU-Prozess gab den Blick frei in die Seele von Demokratiefeinden, sezierte die deutsch-deutschen Verwerfungen seit dem Ende der DDR und legte die Fehler des Zusammenwachsens von Ost und West bloß. Wie unter einem Brennglas zeigte er die dunklen Seiten von fast 30 Jahren Wiedervereinigung.
Im Gerichtssaal konnte man alle Spielarten des deutschen Rechtsextremismus erleben: eine Phalanx schweigender Neonazi-Zeugen, scheinbar harmlose Friseurinnen und Erzieherinnen, die sich bei Nachfragen aber als harte Rechte entpuppten, unauffällige Hausmeister, die unterm Hitlerbild im Keller feierten und nichts dabei fanden. Kollektive Amnesie überfiel sie alle, wenn es darum ging, über Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zu berichten. Dieser Prozess warf aber auch ein Schlaglicht auf die ungebrochene Selbstgewissheit von Polizisten und Verfassungsschützern. Es traten auf: bis zur Ignoranz selbstbewusste Polizisten, die erklärten, man solle doch nicht so tun, als ob es keine Türkenmafia gäbe – nachdem sie jahrelang in die falsche Richtung ermittelt hatten. Es kamen Verfassungsschützer, die erklärten, sie hätten ihre V-Leute doch gut im Griff gehabt – nachdem längst bekannt war, dass ihr wichtigster V-Mann, Tino Brandt, ihnen die brisanten Dinge verschwiegen hatte. In diesem Prozess zeigte sich, wie viele Polizisten und Verfassungsschützer auf dem rechten Auge zumindest sehbehindert sind. Und wie die Ermittler ihren eigenen Vorurteilen nachgaben und immer nur dort ermittelten, wo die Täter doch ihrer Meinung nach sitzen mussten: unter den Opfern. Das hat sich auch nach dem NSU-Prozess nicht grundlegend geändert.
Am Anfang galt die Sorge der Justiz vor allem den zahlreichen Nebenklägern: Würden sie den Prozess aufblähen und verzögern? Diese Sorge erwies sich als unbegründet. Die Aktiven unter den Nebenklägern haben den Prozess vorangetrieben und Licht in Ecken gebracht, die die Bundesanwaltschaft zunächst für nicht so relevant gehalten hatte. Später fanden sich Erkenntnisse aus diesen Zeugenbefragungen auch in den Plädoyers der Staatsanwälte. Dennoch soll in der geplanten Justizreform mit Verweis auf den NSU-Prozess die Zahl der Nebenklägervertreter eingeschränkt werden. Vor lauter Starren auf die 90 Nebenkläger und ihre gut 60 Vertreter hatten die Verantwortlichen am OLG München eines übersehen: die politische Dimension dieses Prozesses, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Am Ende musste das Bundesverfassungsgericht eingreifen, damit auch türkische Journalisten in den Saal kamen. Aus diesen Verwerfungen haben Gerichte überall in Deutschland gelernt, sie bereiten große Prozesse nun mit ausgeklügelten Akkreditierungsverfahren vor.
Auch der Gesetzgeber hat gelernt: Im Oktober 2017 erfolgte eine Gesetzesänderung, wonach Gerichtsverfahren von "herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung" nun akustisch aufgenommen werden dürfen. Leider kam das für den NSU-Prozess selbst nicht mehr zum Tragen. Aber der Prozess hat deutlich gemacht: So wie es bisher war, konnte es nicht weitergehen. In einem solchen historischen Verfahren sollte es eigentlich selbstverständlich sein, dass der Prozess zumindest mitstenografiert wird – so wie das auch bei Debatten im Bundestag geschieht. Schon im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, der 1963 begann, wurde beklagt, dass es kein offizielles Protokoll gab. Das Gericht selbst hat dann "zur Stützung des Gedächtnisses" Tonaufnahmen anfertigen lassen. Zunächst sollten sie vernichtet werden, erst auf Protest jüdischer KZ-Opfer wurden sie aufbewahrt. Heute gelten sie als Quelle von welthistorischem Rang. Die Aufgabe der Protokollierung haben im NSU-Prozess Journalisten übernommen. Ein kleines Team der "Süddeutschen Zeitung" hat Wort für Wort mitgeschrieben. Das daraus entstandene Werk "Der NSU-Prozess. Das Protokoll" umfasst 2.000 Seiten. Die Protokolle sind die Essenz von Hunderten Verhandlungstagen, sie dokumentieren die Originaltöne der Zeugen.
In diesen O-Tönen spiegelt sich auch, wie sehr sich Deutschland in den fünf Jahren dieses Prozesses verändert hat. Anfangs erschien es allen noch als verrückt, wenn rechtsradikale Zeugen vor Gericht davon sprachen, sie seien politisch "ganz normal", "so wie alle". Später sah man solche angeblich Normalen plötzlich überall: wenn sie Galgen für die Kanzlerin durch Dresden trugen, wenn sie Flüchtlingskinder mit dem Flammenwerfer grillen wollten und das noch lustig fanden. Kurz nach dem Urteil sah man sie in Chemnitz Seit’ an Seit’ mit Neonazis marschieren, während Rechtsextreme Jagd auf Menschen machten, die ihnen nicht hellhäutig genug vorkamen. Und der damalige Präsident des Bundesverfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen, erklärte, solche Hetzjagden habe es nicht gegeben – Videos von Beteiligten zeigten dann, dass es solche Übergriffe gab. Maaßen musste gehen, allerdings nicht deswegen, sondern weil er in der Regierungspartei SPD "Extremisten" am Werk sah. Sein Nachfolger an der Spitze des Bundesamts, Thomas Haldenwang, erklärte im Sommer 2019, sein Amt werde nun verstärkt die rechte Szene in Deutschland in den Blick nehmen – acht Jahre nach dem Auffliegen des NSU.
Das Jahr danach
Die Reaktionen der Sicherheitsbehörden auf die jahrelange Mordserie des NSU waren insgesamt verhalten. Und auch der Prozess scheint die Rechtsradikalen nicht eingeschüchtert zu haben. Nebenkläger beklagten, dass viele Szenezeugen den Richtern ins Gesicht lügen konnten, ohne zur Verantwortung gezogen zu werden. Auch die klatschenden Neonazis auf der Besuchertribüne ließ der Vorsitzende Richter nicht aus dem Saal entfernen. Die Krawalle von Chemnitz ermutigten die Szene dann endgültig auszuprobieren, was geht. In dem Jahr nach dem Urteil im NSU-Prozess hat sich die rechtsradikale Szene deutlicher gezeigt als je zuvor. Zudem haben Vorkommnisse in Polizeibehörden Zweifel daran gesät, dass die Lehren aus dem Prozess angekommen sind:
In diesem einen Jahr haben sich acht Männer zur Terrorgruppe "Revolution Chemnitz" zusammengeschlossen. Sie wollten – so die Anklage – in Berlin ein Attentat begehen, es den Linken anhängen und dann mithilfe sympathisierender Polizisten den Umsturz der Republik betreiben. Sie wollten Hooligans und Kampfsportler zu einer schlagkräftigen Gruppe formieren. Gegen sie, prahlten die Männer in Chats, werde sich der NSU ausnehmen wie eine "Kindergarten-Vorschulgruppe". Am 30. September 2019 begann vor dem OLG Dresden der Prozess gegen sie.
In diesem einen Jahr wurde die Anwältin Seda Başay-Yıldız aus Frankfurt am Main, die im NSU-Prozess eine Opferfamilie vertrat, von Polizisten mit dem Tod bedroht. In einer Frankfurter Polizeiwache wurden ihre Daten aus dem Computer abgerufen, daraufhin drohte man ihr, ihre kleine Tochter "abzuschlachten". Unterzeichnet war das Schreiben mit "NSU 2.0". Sechs Polizisten wurden festgenommen und wieder freigelassen. Sie schweigen. Die Drohungen gehen weiter.
In diesem einen Jahr wurde bekannt, dass ein hessischer Polizist zweimal interne Polizeidaten über einen rechtsradikalen Gewalttäter der "Aryans" an dessen Freundin und Helferin herausgab. Als bei ihm neben Messern und Pistolen auch eine Hakenkreuzfahne entdeckt wurde, tat die zuständige Staatsanwältin das als "Geschmackssache" ab.
In Sachsen hielten es zwei SEK-Polizisten für angebracht, einem Kollegen zur Tarnung den Namen des NSU-Mörders Uwe Böhnhardt zu geben – also des Mannes, der auch eine Kollegin dieser SEK-Männer getötet hatte, die Polizistin Michèle Kiesewetter.
Eine Gruppe namens "Staatsstreichorchester" versandte Mails in der Republik, in denen sie Rechtsradikalen anbot, über ihre Internet-Plattform Straftaten zu organisieren. O-Ton: "Hoffentlich finden wir jemanden, der Polizisten ins Genick schießen möchte, einfach nur deshalb, weil es viel zu lange her ist, dass hierzulande welche abgeknallt wurden."
In diesem einen Jahr wurden in Rostock bei einem früheren SEK-Polizisten 30.000 Schuss Munition gefunden, Leichensäcke und Löschkalk, wie man ihn für Massengräber verwendet – und bei seinem Freund, einem rechtsradikalen Anwalt, eine Feindesliste mit Kommunalpolitikern und engagierten Bürgern, die dann am "Tag X" hingerichtet werden sollten. Beide sind Mitglieder von "Nordkreuz", einem Ableger des rechten "Hannibal"-Netzwerks, das sich aus aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Polizei und der Bundeswehr gebildet hat. Die Staatsanwaltschaft Schwerin erhob im September 2019 Anklage gegen den suspendierten Polizisten.
Am 1. Juni 2019 wurde im nordhessischen Wolfhagen-Istha der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) ermordet. Er rauchte abends eine Zigarette auf seiner Terrasse, als sein Mörder an ihn herantrat und ihn erschoss. Stephan E., 45, seit Jahrzehnten in der rechtsradikalen Szene Hessens vernetzt, gab in einer ersten Vernehmung an, Lübcke getötet zu haben. Es habe ihm nicht gepasst, was der Regierungspräsident vier Jahre zuvor auf einer Bürgerversammlung gesagt hatte: dass Leute, die mit christlichen Werten wie Mitleid und Solidarität nicht einverstanden seien, das Land jederzeit verlassen könnten. Das Video mit Lübckes Worten wurde auch von der rechtspopulistischen AfD immer wieder im Netz geteilt und retweetet, sodass die Wut der Rechten auf Lübcke über Jahre wachgehalten wurde. Stephan E. widerrief sein Geständnis später, doch es gilt als authentisch. Mittlerweile wurden zwei weitere Männer festgenommen, sie sollen ihm die Tatwaffe geliefert haben. Und die Bundesanwaltschaft beschuldigt Lübckes mutmaßlichen Mörder Stephan E. nun auch noch, einen weiteren Mordversuch verübt zu haben – auf einen irakischen Asylbewerber in Hessen.
Am 9. Oktober 2019 dann versuchte ein Rechtsextremer in Halle an der Saale, eine Synagoge zu stürmen und ein Blutbad anzurichten. Als die Tür zur jüdischen Gemeinde standhielt, erschoss er eine Frau und fuhr zu einem türkischen Restaurant, wo er einen weiteren Mann tötete.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) erklärte nach dem Mord an Lübcke, der Staat werde nun "alle Register" im Kampf gegen Rechtsextremisten ziehen. Diese Aussage erzürnte vor allem die Familien der NSU-Opfer, die fragten, warum diese Register nicht schon nach dem Tod ihrer Angehörigen gezogen worden waren. Nach dem Anschlag von Halle kündigten Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz an, die Ermittlungen gegen rechte Gewalttäter zu verstärken. Erst dann.
Der NSU-Prozess hat den Blick geöffnet für die seit Langem bestehenden, aber immer verschatteten Abgründe im Land. Er hat gezeigt, wie sehr sich das rechtsradikale Gedankengut vom Rand in die Mitte der Gesellschaft vorgefressen hat. Als der Prozess nach fünf Jahren, zwei Monaten und sechs Tagen im Juli 2018 zu Ende ging, hatte sich das Land verändert: Der Hass, mit dem der NSU scheinbar exklusiv wütete, hatte sich ausgebreitet und weite Teile der Bevölkerung infiziert. Wer gedacht hatte, nach diesem Prozess habe sich das Problem der rechten Gewalt in Deutschland erledigt, muss spätestens jetzt erkennen: Das ist reines Wunschdenken.