Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Kleinkredit-Systeme in Entwicklungsländern | Entwicklungspolitik | bpb.de

Entwicklungspolitik Editorial Wie geht es weiter mit der Entwicklungspolitik? Geberpolitiken ohne verlässlichen Kompass? Entwicklungspolitischer Kohärenzanspruch an andere Politiken Kleinkredit-Systeme in Entwicklungsländern Ökonomische Konsequenzen von AIDS-Epidemie in Entwicklungsländern Zur Afrikastrategie der Europäischen Union

Kleinkredit-Systeme in Entwicklungsländern

Heinrich Langerbein

/ 8 Minuten zu lesen

Die zahlreichen Kleinkredit-Systeme in den Entwicklungsländern lassen sich in zwei Grund-Typen unterscheiden. Bei dem einen Typ bürgt eine Schuldner-Gruppe. Im andern Fall gibt es die auch in der westlichen Welt übliche dingliche Absicherung des Kredits.

Einleitung

Durch die Verleihung des Friedensnobelpreises an Muhammad Yunus und "seine" Grameen Bank im Jahr 2006 wurde über Nacht das Instrument der Kleinkreditvergabe in der Dritten Welt bekannt. Schnell fanden sich in der Presse Behauptungen, Muhammad Yunus sei der Erfinder dieses Instrumentes, die Grameen Bank helfe den Ärmsten der Armen, ihr Konzept sei weltweit führend und stelle nicht nur den Königsweg zur Versorgung armer Menschen mit Kleinkrediten dar, sondern könne die Armut wirksam mildern und die wirtschaftliche Entwicklung fühlbar voran treiben.



Schon in den 1960er und 1970er Jahren wurde vermutet, dass Kleinkredite für breite Bevölkerungskreise ein wichtiges Mittel zur Minderung der Armut in der Dritten Welt sein könnten. Viele Regierungen in den Entwicklungsländern und die westliche Gebergemeinschaft stellten daraufhin erhebliche Mittel zur Verfügung. Unkenntnis, Interesselosigkeit der Banken und mangelnde Sorgfalt führten jedoch praktisch ausnahmslos dazu, dass diese zinsvergünstigt den reicheren ländlichen Eliten zugute kamen. Sie empfanden diese Programme als eine "politische" Aktion und zahlten die Kredite weitgehend nicht zurück. Dieser Misserfolg war der Grund, weltweit nach einer zweckmäßigeren Vorgehensweise zu suchen. In sehr vielen Entwicklungsländern wurden Hunderte von Einrichtungen - sei es in Form von Nichtregierungsorganisationen, Sparergemeinschaften oder Banken - gegründet, die Kleinkredite an die arme Bevölkerung vergaben. Die meisten Einrichtungen lebten so lange, wie sie ausländische Subventionen erhielten. Weniger als 200 Kleinkredit-Institute haben sich bis heute weltweit als lebensfähig erwiesen.

Die zahlreichen Kleinkredit-Systeme in den Entwicklungsländern lassen sich in zwei Grund-Typen unterscheiden. Bei dem einen Typ bürgt eine Schuldner-Gruppe. Im andern Fall gibt es die auch in der westlichen Welt übliche dingliche Absicherung des Kredits. Die Kreditsumme liegt im allgemeinen zwischen 50 und 300 US-Dollar, kann aber auch den Betrag von einigen Tausend US-Dollar erreichen. Bei den größeren etablierten Vertretern beider Typen sind die Kreditausfälle - nach den Aussagen der betroffenen Institutionen - identisch, d.h. mit ca. zwei Prozent verschwindend niedrig. Kein Typ gewährt - von geringfügigen Ausnahmen abgesehen - Kredite an die Allerärmsten. Fast immer ist Landbesitz oder sonstiges Vermögen Voraussetzung für einen Kredit. Ein großer Unterschied ergibt sich beim Subventionsbedarf der beiden Modelle. Die gruppenbasierende Kreditvergabe erfordert erheblich höhere Vergünstigungen, die meistens von der Entwicklungshilfe gewährt werden. Der andere Typ schafft es zuweilen, keine oder nur in der Startphase eine relativ geringfügige finanzielle Unterstützung zu benötigen. Bei der ersteren Form der Kreditvergabe steht die konkrete Analyse, ob der betriebliche Aufwand niedriger sein wird als der Ertrag, häufig nicht zwingend im Vordergrund. Zudem sind Konsumkredite möglich, insbesondere wenn der Kunde bisher eine gute Rückzahlungsmoral zeigte. Es besteht hier verstärkt die Gefahr einer Überschuldung der Kreditnehmer.

Der Prototyp der gruppenorientierten Kleinkreditvergabe ist die Grameen Bank. Da "preisgekrönt" und in ihrer Vorgehensweise aus westlicher Sicht außergewöhnlich, sei sie nachfolgend eingehender beschrieben. Ihre Geschichte fing 1976 an, als ein junger Wirtschaftsprofessor namens Muhammad Yunus in Bangladesh seine ersten Experimente wagte. Seine anfänglichen Schritte wurden durch einen Zuschuss der Ford-Foundation unterstützt. 1981 gewährte ihm der International Fund for Agricultural Development (IFAD) einen zinsgünstigen Kredit in Höhe von 3,4 Mio. US-Dollar, der durch die bengalische Zentralbank auf die doppelte Summe aufgestockt wurde. Yunus verteilte die Mittel über Geschäftsbanken und Postämter. 1983 gründete er die Grameen Bank, die "Dorf Bank". Dank einer umfangreichen und geschickten Öffentlichkeitsarbeit des charismatischen Bankchefs Yunus auch gegenüber den westlichen Gebern wurde die Bank schnell bekannt. Das originelle System gefiel, schien es doch von Anfang an recht erfolgreich zu sein. Die Folge waren laufende Zuschüsse und sehr günstige Entwicklungshilfekredite. Kein anderes Kleinkredit-Finanzierungsinstitut in der Dritten Welt dürfte auch nur annähernd in einem solchen Umfang von außen subventioniert worden sein. Während die Grameen Bank alle Erfolgszahlen bis ins Detail darlegt, schweigt sie sich über die erhaltenen Subventionen aus. Exakte Zahlen sind daher nicht bekannt. Deutschland gewährte nach Angaben der Bundesregierung Technische Hilfe im Wert von rund 13 Mio. Euro und finanzielle Unterstützung von 24 Mio. Euro. Die Weltbank hat die Bank nicht gefördert, weil sie dieser Art von Kleinkredit-Finanzierung skeptisch gegenübersteht. Nach einer ebenfalls beispiellos langen entwicklungspolitischen Förderzeit fasste die Grameen Bank 1995 den Beschluss, nach Auslaufen der noch ausstehenden zugesagten finanziellen Unterstützungen, d.h. ab 1999, keine Spenden oder auch nur Kredite inländischer und ausländischer Quellen entgegenzunehmen. Die wachsende Summe der Einlagen werde nach ihrer Ansicht mehr als ausreichen, um bestehende Kredite zu tilgen und die eigenen Kredite sogar auszuweiten.

Die Grameen Bank hat zum Ziel, armen Menschen auf dem Land, die allerdings ein wenig Land und/oder ein Haus besitzen müssen, Kleinkredite primär für Investitionen, aber gegebenenfalls auch für Konsumzwecke zur Verfügung zu stellen. Das Vorgehen zur Kredit-Gewährung sieht wie folgt aus: Die Bank verbindet fünf Kredit-Interessenten gleichen Geschlechts - fast immer weiblich -, gleicher Örtlichkeit und wirtschaftlicher Verhältnisse zu einer Gruppe. Die Mitglieder dürfen nicht untereinander verwandt sein. Die Gruppe wird von der Bank einen Monat lang im Hinblick darauf beobachtet, ob sie ihren Vorstellungen entspricht. Jedes Mitglied muss eine winzige Summe ansparen. Die Gruppe muss sich dann einem siebentägigen Training durch Bank-Angestellte unterziehen. Hier geht es einerseits darum, dass die Menschen die Vorgehensweise und Regelungen der Bank verstehen lernen. Andererseits sollen die Kredit-Aspiranten die Vorstellungen der Bank zur Gesundheit, zur Kinderzahl und Kindererziehung sowie zu sonstigen sozialen Verhaltensweisen erfahren und sich ausdrücklich zu ihnen bekennen. Zu diesem Zweck müssen die Gruppen-Mitglieder die sechzehn "Decisions" der Bank nicht nur auswendig, sondern auch als Slogan skandieren lernen. So lautet z.B. eine "Decision" sinngemäß: "Wir halten unsere Familie klein." Oder "Wir werden keine Kinder-Heirat zulassen." "Wir werden unsere Kinder ausbilden lassen." Ferner geht es in den "Decisions" um Gemüse- und Baum-Anpflanzungen, um den Bau von hygienischen Toiletten, um friedliches Verhalten etc.

Verläuft diese gesellschaftspolitische Erziehungs-Phase befriedigend, wird die Kredit-Runde eröffnet. Jeder kann dann um einen Kredit nachsuchen, der sich meist zwischen 50 und 200 US-Dollar bewegt. Bei einem Zweit-Kredit kann die Summe etwas höher liegen. Jeder Kredit-Aspirant hat für zwei US-Dollar einen Anteil an der Bank zu erwerben und ferner noch sofortige Abzüge von seinem Kredit für eventuelle Rückzahlungsausfälle und gemeinnützige Zwecke hinzunehmen. Allerdings bekommen zunächst nur die ersten zwei Mitglieder der Gruppe den Kredit ausgezahlt. Die Gruppe wird weiterhin ein bis zwei Monate lang genau beobachtet. Ist nach Ansicht der Bank alles in Ordnung und wird pünktlich zurückgezahlt, bekommen die zwei nächsten Gruppen-Mitglieder den erwünschten Kredit. Einen Monat danach erhält auch der letzte aus der Gruppe den Kredit. Der Zinssatz beträgt gemeinhin 20% pro Jahr, für ein Bau-Darlehen 8% und einen Hochschul-Ausbildungs-Kredit 5%. Die Rückzahlung des Standard-Kredites erfolgt in 50 wöchentlichen Raten, beim Baukredit - bei einer durchschnittlichen Kreditsumme von knapp 200 US-Dollar - in fünf Jahren. Wenn alle Schuldner den Kredit zurückgezahlt haben, können sie um einen weiteren Kredit nachsuchen.

Vor kurzem hat die Bank ein kleines Kredit-Programm für Bettler aufgelegt. Die Prozedur verläuft anders. Der Kredit ist zinslos. Allerdings wird auf pünktliche Rückzahlung Wert gelegt. Daneben hat die Bank eine Reihe von weiteren Aktivitäten entwickelt, wobei in diesem Zusammenhang vor allem ein kleineres Kreditsystem für ausschließlich investive Zwecke zu erwähnen ist, das sich an Kleinunternehmer, fast ausschließlich Männer, wendet. Hier ist die Kreditsumme nicht begrenzt. Die Bank bemüht sich sehr darum, dass ihre Kunden freiwillig sparen und die Ersparnisse bei der Bank einzahlen. Die Verzinsung liegt zwischen 8,5 und 12 % pro Jahr. Die Grameen Bank hat nach ihren Angaben bei einer Bevölkerung von 142 Millionen Menschen in Bangladesh inzwischen etwas über 7 Millionen Kreditnehmer. Der Frauenanteil beträgt 97 %. Den Kunden gehören 94 % des Bank-Eigenkapitals, der Rest der Regierung. Die Kredit-Ausfälle betragen nach Angaben der Bank nur rund 2 %. Allerdings sollen beispielsweise im Jahr 2001 gut 20 % der Kredite mehr als ein Jahr überfällig gewesen sein. Unklar ist ebenfalls, ob und in welchem Umfang die Bank uneinbringlich erscheinende Kredite in neue umgewandelt hat. Dieses "Verfahren" hat eine erhebliche "positive" Öffentlichkeitswirkung, da sich auf diese Weise die Zahl der bisher vergebenen Darlehen erhöhen und die von fast allen Kleinkredit-Banken genannte Ausfall-Quote von ca. 2 % zielgenau erreichen lässt.

Die Grameen Bank hat in einer größeren Anzahl von Entwicklungsländern, aber selbst in Frankreich und den USA, in angepasster Form Nachahmer gefunden. In keinem Fall sind aber bisher große Erfolge bekannt geworden. Die Grameen Bank ist eine der großen Institutionen für die Kleinkredit-Finanzierung in der Dritten Welt, aber wohl nicht die größte. Sie hat selbst in Bangladesh drei mächtige Konkurrenten mit einer andern Vorgehensweise.

Die Bank Rakyat Indonesia (BRI) mit ihrem Geschäftsbereich Kleinkredite wird gern als Parade-Beispiel für den Gegentyp der Kleinkreditvergabe bezeichnet. Rund 4 000 weitgehend selbstverantwortlich arbeitende "Unit Desas" (Dorfbanken) werden von der BRI betreut. Die Kredite haben ein Volumen von bis zu 5 000 US-Dollar im Einzelfall. Der durchschnittliche Kredit liegt jedoch unter 100 US-Dollar. Die Darlehen müssen für investive Zwecke verwendet werden. Die Kreditvergabe erfolgt in banküblicher Weise, d.h. mit dinglicher Absicherung. Nach Angaben der Bank liegen die Ausfälle in etwa in der Höhe der Grameen Bank. Die BRI ist eine Aktiengesellschaft mit einem staatlichen Anteil von 70 %. Der Rest ist im Streubesitz. Die Bank, die letztlich seit 1895 existiert, ist zu Recht stolz darauf, für das Kleinkredit-Programm niemals eine Subvention benötigt zu haben. Dabei entsprechen die Zinsen für die Kleinkredite dem Normalsatz der Grameen Bank. Dass diese Art von Kleinkredit-Finanzierung auch in anderen Ländern erfolgreich sein kann, zeigen beispielsweise die Association for Social Advancement (ASA) in Bangladesh, die BANCOSOL in Bolivien und die Bank Compartamos in Mexiko.

Die bisherigen Erfahrungen machen deutlich, dass Kleinkredit-Systeme ärmeren Bevölkerungskreisen häufig - aber durchaus nicht immer - helfen können, sich wirtschaftlich und sozial zu entwickeln. Es gibt aber kein Beispiel dafür, dass ein solches System ein wesentlicher Faktor für das beschleunigte soziale und wirtschaftliche Wachstum einer Volkswirtschaft geworden ist. Vor allem helfen diese Systeme nicht den Allerärmsten. Finanzierungs-Institutionen mit Kleinkredit-Vergabe sind um so mehr in ihrer Existenz gefährdet, je länger und stärker sie im Rahmen der Entwicklungshilfe gefördert werden. Sie neigen in diesem Fall dazu, bei den Betriebskosten zu großzügig zu sein, zu niedrige Zinsen zu verlangen und die Probleme der Refinanzierung zu unterschätzen. Ob die Grameen Bank - nachdem sie die außergewöhnlich hohe Subventionierung "verdaut" hat - auf Dauer ohne weitere Zuschüsse überleben kann, ist offen. Viele Kleinkredit-Banken - insbesondere die Grameen-Bank - stellen als positives Merkmal den sehr hohen Anteil der Frauen unter ihren Kunden heraus. Solange der "Ertrag" des Kredites positiv eingeschätzt wird, stärkt dies zweifellos die Position der Frau. Es wird jedoch sehr häufig berichtet, dass der bei den hoch subventionierten gruppenorientierten Banken leichte Zugang zu Krediten die Frauen in eine gefährliche Schuldenfalle laufen lässt. In einem solchen Fall ist der "soziale Absturz" in der Familie, aber auch in der Nachbarschaft eher tiefer als bei einem Mann. Die vergleichende Erfahrung lässt vermuten, dass nicht den gruppenorientierten Finanzierungs-Institutionen à la Grameen Bank die Zukunft gehören dürfte, sondern den Einrichtungen, die bankübliche individuelle Kleinkredite gewähren.

Dr. rer. pol., geb.1932; Ministerialrat a.D., vormals im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
E-Mail: E-Mail Link: HlanW@web.de