Einleitung
In den letzten zwei Jahrzehnten hat der internationale entwicklungspolitische Diskurs mehrere Wandlungen durchlebt. Am Ende der 1980er Jahre begannen Teile der Gebergemeinschaft, "gute Regierungsführung" (Good Governance) zum Königsweg aus der Armutsfalle auszurufen. Das Konzept erfuhr zunächst einen kometenhaften Aufstieg und erreichte seinen Zenit in den 1990er Jahren. Danach wurde es zunehmend wieder in Zweifel gezogen. Die terroristischen Anschläge des 11. September 2001 wirkten als Katalysator für eine Neuausrichtung des gesamten Diskurses. "Gescheiterte Staaten" standen mit einem Mal ganz oben auf der Agenda. Seither redet alle Welt von "schwierigen Partnern" (difficult partnerships), "LICUS" (Low Income Countries Under Stress) und "fragilen Staaten" - und das zu Recht.
Mit diesem Artikel möchten wir die Wege und Wendungen entwicklungspolitischen Denkens aufzeigen, anhand derer sich die aktuellen Debatten um State-Building über die letzten zwei Jahrzehnte zurückverfolgen lassen.
1989 und die 1990er Jahre
Der Begriff "Good Governance" wurde erstmals 1989 in einem breit zirkulierten Weltbank-Report über das subsaharische Afrika benutzt. Good Governance, so heißt es dort, sei "ein effizienter öffentlicher Dienst, ein verlässliches Justizsystem, und eine Regierung, die der Öffentlichkeit gegenüber rechenschaftspflichtig ist."
Die Weltbankstudie stellte die institutionellen Rahmenbedingungen für Entwicklung in den Mittelpunkt und beschrieb die Lage erstmals als "Governance-Krise". Weiterhin prangerte sie auch Korruption und Patronage direkt an, auch wenn Begriffe wie "Demokratie" sorgfältig vermieden wurden. Für Hans F. Illy war der Begriff "Governance" ein Deus ex Machina für eine Organisation, die laut Statuten auf ein unpolitisches Mandat beschränkt war.
Die enorme Wirkungskraft des Weltbank-Berichts ist nicht ohne zwei verstärkende Faktoren zu verstehen. Erstens führte das Ende des Kalten Krieges zu einem substanziellen Rückgang der Entwicklungshilfe, da autoritäre Regime nicht mehr aus Allianzgründen bei der Stange gehalten werden mussten. Zweitens trat die Demokratisierungswelle hinzu, welche post-kommunistische Staaten ebenso wie vormals autoritär regierte Entwicklungsländer erfasste. Die Geber wollten diese Länder aktiv unterstützen und weitere zur Transition ermutigen. Die allgemeine Aufbruchstimmung hätte eine Rückkehr zu alten staatsskeptischen Vergabekonzepten auch kaum möglich gemacht.
Die Idee, dass Good Governance eine notwendige Bedingung für sozioökonomische Entwicklung darstelle, fand nun weitgehende Akzeptanz. Angesichts einer heimischen "Hilfsmüdigkeit" griffen Geberorganisationen dieses Leitbild allzu gerne auf und erweiterten es um Dimensionen wie Partizipation, Demokratie und Menschenrechte. Implizit lag dieser neuen Politik die Annahme zugrunde, dass marktbasierte Demokratie und Staatlichkeit nach westlichem Vorbild auch für alle Entwicklungsgesellschaften geeignete Governance-Modi darstellen würden.
Vielfache Folge war eine strategische Neuausrichtung und die Verschiebung der Geberprioritäten. Statt auf eine weitere "Verschlankung" des Staates in Niedrigeinkommensländern zu setzen, wurde Good Governance zum neuen Entwicklungsideal. Dies führte zu einer Neustrukturierung von Entwicklungshilfeallokationen, weg von instabilen Staaten, in denen sich Geberländer immer weniger engagierten. In der Folge bekamen fragile Staaten regelmäßig weniger Hilfsgelder im Vergleich zu anderen Staaten mit niedrigem Einkommen. Effektiv wurden sie zu "vergessenen Staaten".
Dieser Trend wurde verstärkt durch die Rezeption neuer Forschungsergebnisse über die Wirksamkeit von Entwicklungshilfe in den späten 1990er Jahren. Bis dahin hatte die Forschung keine eindeutigen Belege für einen positiven Einfluss von Entwicklungshilfe auf Wachstum gefunden. Neuere Ergebnisse dagegen ließen den Schluss zu, dass Entwicklungshilfe Wachstum fördern könne, jedoch nur in Ländern mit "guten Politiken".
"Good performers" versus "Difficult Partners"
Seit Beginn des neuen Jahrhunderts steht das Good-Governance-Ideal jedoch zunehmend in der Kritik. Der Optimismus der frühen 1990er Jahre ist einer Frustration über den mangelnden Fortschritt in einer großen Zahl an Ländern gewichen. Viele Regime in Entwicklungsländern stellten sich als problematische Partner für den kooperativen, intergouvernmentalen Ansatz dar, der das Leitkonzept einer an Good Governance orientierten Entwicklungspolitik ausmacht. Es kam zum Missbrauch von Hilfsgeldern, und Reformvereinbarungen wurden nicht eingehalten, so dass viele Entwicklungsziele nicht erreicht werden konnten. Die Geber reagierten darauf auf unterschiedliche Weise: Eine Gruppe, die hier am Beispiel der Vereinigten Staaten dargestellt wird, verengte ihren Fokus auf good performers, um sicherzustellen, dass ihre Entwicklungshilfe einen messbar positiven Einfluss hat. Die andere Gruppe, angeführt durch die Weltbank und OECD/DAC, diskutierte dagegen, wie man mit schwierigen Partnerländern ("difficult partners") besser umgehen könne.
Auf Basis einer konservativen Kritik der Entwicklungshilfe war die Regierung von George W. Bush davon überzeugt, dass bisherige Ansätze Marktmechanismen vernachlässigten und keine Anreize für substanzielle Reformen in Partnerländern böten. Um diese Defizite zu korrigieren, schuf die Regierung 2004 den Millennium Challenge Account (MCA), einen Sonderfonds zur Auszahlung von Hilfsgeldern, der seit 2004 tätig ist. Länder mit niedrigem Einkommen können sich um Hilfszahlungen aus dem MCA bewerben, wenn sie Mindeststandards in den Bereichen Herrschaft des Rechts (rule of law), Gesundheit und Bildung sowie wirtschaftliche Freiheit erfüllen. Diese Bereiche spiegeln die Agenda des Good-Governance-Konzepts wider, legen jedoch einen deutlich größeren Wert auf makroökonomische Stabilität und freie Märkte.
Der MCA verfolgt zwei Ziele: Hilfe effektiver zu machen sowie einen Anreiz für bessere Governance zu bieten. Diese Ziele bilden den Kern einer US-Entwicklungspolitik, die es sich vorgenommen hatte, good performers stärker zu belohnen. Bislang scheint der MCA tatsächlich zu gewissen Fortschritten in Richtung dieser Ziele geführt zu haben.
Im Gegensatz zum US-amerikanischen Fokus auf good performers versuchten andere Institutionen, neue Herangehensweisen an die Entwicklungszusammenarbeit mit problematischen Partnerländern zu entwickeln. Die Weltbank war Ende der 1990er Jahre einer der Pioniere auf diesem Gebiet. Angesichts zunehmender Anzeichen der eingeschränkten Effektivität kooperativer Ansätze schuf die Weltbank im November 2001 die "Task Force on the Work of the World Bank Group in Low Income Countries Under Stress (LICUS)".
Das Development Assistance Committee der OECD (OECD/DAC) entwarf eine eigene Strategie zum Umgang mit "difficult partners".
Die Empfehlungen des DAC weisen eine deutliche Ähnlichkeit zum Ansatz der Weltbank auf. Das Komitee hob die Relevanz eines fortdauernden Engagements ("stay engaged") hervor, forderte eine stärkere Koordination von Geberaktivitäten und sprach sich für eine projektbasierte Unterstützung zur Befriedigung der Grundbedürfnisse aus, wobei derartige Vorhaben nötigenfalls auch außerhalb staatlicher Strukturen angesiedelt sein konnten. Im Unterschied zur Weltbank nahm das DAC eine stärker politische Position gegenüber schwierigen Ländern ein und forderte eine Unterstützung von "Agenten des Wandels" (change agents).
Der Konsens nach 9/11
Die Terroranschläge von 9/11 hatten, wenn auch verspätet, Auswirkungen auf den entwicklungspolitischen Diskurs. Zunächst schien die Entwicklungspolitik kaum auf dieses Ereignis zu reagieren und blendete Fragen über die Rolle fragiler Staaten für den internationalen Terrorismus weitgehend aus, obwohl dieses Thema die Sicherheitspolitik beschäftigte wie kaum ein anderes. Entwicklungspolitische Akteure passten sich nur langsam an die neuen Bedrohungsszenarien an, obwohl sie sich zumeist schon länger mit fragilen Staaten beschäftigten als die meisten anderen Ressorts. In diesem Sinne führte 9/11 nicht zu einem Wandel in der Entwicklungspolitik, sondern beschleunigte lediglich einen bestehenden Veränderungsprozess, indem es die sicherheitsrelevanten Aspekte fragiler Staatlichkeit in den Vordergrund rückte.
Dessen ungeachtet war der Entwicklungsdiskurs erst einmal hinter den Sicherheitsdiskurs zurück gefallen, und so fanden sich entwicklungspolitische Akteure in vielen Regierungen zunächst von ihren sicherheitspolitischen Widerparts an den Rand gedrängt. Aus dieser Position übersahen Sicherheitspolitiker jedoch die zentralen entwicklungspolitischen Aspekte fragiler Staatlichkeit. Viele Fehler, die in der Postkonfliktplanung z.B. für Afghanistan gemacht wurden, können der naiven Annahme zugeschrieben werden, dass ein umfassendes state-building in der Postkonfliktphase nicht notwendig sei und dass man sich auf die militärischen Probleme konzentrieren könne.
In vielen westlichen Ländern dauerte es ein oder zwei Jahre bevor die Militär- und Sicherpolitik die Notwendigkeit anerkannte, entwicklungspolitische Expertise beim Aufbau staatlicher Kapazitäten (capacity-building) einzubeziehen. Dem Bedarf kamen dann Entwicklungsministerien und -agenturen nur zu gerne nach. Schnell fand die Argumentationsfigur Verbreitung, Entwicklungshilfe sei ein wichtiges Instrument für die Bekämpfung der Ursachen des Terrorismus, die in fragiler Staatlichkeit, gesellschaftlicher Marginalisierung und Armut gesehen wurden. Ein Beispiel hierfür ist die "Failed States Strategy" der US Agency for International Development (USAID).
Das Allheilmittel State-building?
Es ist noch zu früh, um den Erfolg dieses strategischen Wandels beurteilen zu können. Bislang kann man festhalten, dass die Hilfszahlungen an fragile Staaten leicht angestiegen sind, wenn auch der Löwenanteil dieser Gelder an eine kleine Gruppe von Postkonfliktländern geht, die im Rampenlicht der internationalen Öffentlichkeit stehen.
Trotz der kurzen Zeit lassen sich bereits Konturen eines neuen Entwicklungsparadigmas erkennen, dass sich am Ziel des Aufbaus staatlicher Strukturen (state-building) orientiert. Lange Zeit wurde mit diesem Begriff der historische Prozess der Staatenbildung beschrieben, wobei das europäische Vorbild im Vordergrund stand. Während der Dekolonisierung der 1950er und 1960er Jahre sagte die Modernisierungstheorie voraus, dass die postkolonialen Staaten einen ähnlichen Prozess des State-building durchlaufen würden, was jedoch nicht zustande kam. Der postkoloniale Staat war meist nur schwach institutionalisiert und wurde in mehreren Ländern durch interne Konflikte überwältigt. In anderen Staaten wurden demokratische System durch autokratische Regime ersetzt, die sich in der Folgezeit oft nur durch internationale Unterstützung an der Macht halten konnten.
Seit kurzem ist der State-building-Ansatz angesichts von Erfahrungen mit zerfallenen Staaten und Bürgerkriegen in Kambodscha, Bosnien-Herzegowina, Afghanistan und anderswo wiederentdeckt worden. Jedoch sind die Parallelen zum alten Ansatz begrenzt. Ein Hauptunterschied ist die Rolle externer Akteure: Früheren Ansätzen zufolge war Staatsbildung ein "natürlicher" Prozess, der nach dem Abzug der Kolonialmächte von selbst stattfinden würde. Jüngere Konzepte nehmen dem gegenüber vor allem die Rolle internationaler Intervention in den Blick, wenn auch die Meinungen auseinander gehen, ob externe Akteure "Staaten bauen" oder lediglich endogene Prozesse der Staatsbildung unterstützen können.
Neuere entwicklungspolitische State-building-Konzepte teilen Partnerländer anhand zweier Variablen ein: institutionelle Kapazität sowie die Entwicklungsorientierung der Politik.
Der besondere Charme des State-building-Ansatzes ist sein Potential, entwicklungspolitische Maßnahmen mit sicherheitspolitischen und krisenpräventiven Zielsetzungen in einen gemeinsamen Rahmen zu integrieren. Jedoch wird diese Möglichkeit in der Politik bislang nur wenig genutzt. In Postkonfliktländern hat state-building zumeist eine niedrigere Priorität als die Abhaltung von Wahlen, die Liberalisierung von Märkten, die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen oder die Bekämpfung von Terroristen. Gegenwärtige Versuche eines Staatenaufbaus werden oft durch übertrieben formulierte Ziele behindert. Sogar unter besten Umständen können externe Akteure eine Gesellschaft nicht in dem Maße transformieren, wie es die Architekten dieser Missionen vorsehen.
Ein Relikt des Good-Governance-Ansatzes, dem man noch heute häufig begegnet, ist die Tendenz, zu viele Ziele auf die Agenda zu setzen, von Geschlechterfragen über konsensorientierte Demokratie und Umweltschutz bis hin zu armutsorientiertem Wirtschaftswachstum.
Schlussbemerkungen
In den 1990er Jahren zögerten Geberländer, sich politisch und finanziell in Ländern am Rande des Kollapses zu engagieren. Die Erfolgschancen für externe Akteure waren, wie viele empirische Studien zeigten, schlecht, solange die Partnerregierungen die Prinzipien guter Regierungsführung nicht einhielten oder nicht über ein funktionierendes Staatswesen verfügten. Deshalb konzentrierte sich Entwicklungszusammenarbeit nach dem Kalten Krieg zunächst auf good performers, die sich in Richtung marktbasierter Demokratien bewegten. Jedoch haben die Geber in den letzten Jahren gelernt, dass es weder sinnvoll noch wünschenswert ist, sich vollständig aus Krisenländern zurückzuziehen. Berücksichtigt man die große Heterogenität von Entwicklungspfaden kann es sich die Entwicklungszusammenarbeit nicht mehr leisten, an überkommenen Modellen zwischenstaatlicher Zusammenarbeit festzuhalten. Strukturelle Anpassung, Liberalisierungs- und Privatisierungsprogramme haben in denjenigen Ländern nicht funktioniert, deren politisch-administrative Systeme nicht ein Mindestmaß an Effektivität und Effizienz aufwiesen.
Um sich "anders zu engagieren" (engage differently), haben internationale Geber ihre Politik auf zwei Referenzpunkte ausgerichtet: die Effektivität staatlicher Institutionen und den Reformwillen der Partnerregierung. Besondere Aufmerksamkeit wird der Frage gewidmet, inwieweit die Unterstützung von "Agenten des Wandels" ein effektives Instrument darstellt.
Die Herausforderungen, mit denen fragile Staatlichkeit die Entwicklungspolitik konfrontiert, haben zu einer Wiederentdeckung des State-building-Paradigmas geführt. Obwohl es vielleicht noch zu früh für einen Abgesang auf Good Governance ist, ist der Wandel im Fokus der Politik dennoch offenkundig. Während viele State-building-Diskurse noch immer auf einem präskriptiven Modell guter Regierungsführung anstelle auf einem genauen Verständnis der komplexen sozialen Dynamiken von Staatenbildung in Krisenregionen beruhen, könnte ein neues Paradigma entstehen, das dem Modell eines in die Gesellschaft eingebetteten und effektiven Staates verschrieben ist. Dieses Paradigma würde die Rolle externer Akteure weniger in der Anleitung von State-building-Prozessen, sondern eher in der Unterstützung einheimischer Dynamiken sehen, sofern diese gewissen normativen Mindeststandards genügen.