Einleitung
Am 2. August 1966 fand eine Plenarsitzung des Jüdischen Weltkongresses zum Thema "Deutsche und Juden" in Brüssel statt. Im Vorfeld hatte es im Präsidium erhebliche Widerstände gegen diese Sondersitzung gegeben. So war die Befürchtung geäußert worden, eine solche Zusammenkunft drohe eine zum gegenwärtigen Zeitpunkt unangemessene Rehabilitation der Deutschen zu befördern; auch seien "die, welche den Deutschen wirklich begegnen müssten, (...) die ermordeten sechs Millionen, die aber nicht mehr da sind". Eine Mehrheit im Präsidium mit ihrem Vorsitzenden Nahum Goldmann hatte sich jedoch unter Hinweis darauf, "dass, sofern ein Problem irgendwo existiert, es das beste ist, dieses offen zu diskutieren", durchsetzen können.
Gershom Scholem zog in seinem Referat eine kritische Bilanz der historischen Beziehungen zwischen Juden und Deutschen, verwies auf "die entschlossene Verleugnung der jüdischen Nationalität als eines Partners"
Restitution der Sprache
"Restitution der Sprache zwischen Deutschen und Juden" - damit war nicht nur die Voraussetzung für eine "Versöhnung der Geschiedenen", sondern zugleich ein Kern der Zukunftsfähigkeit der Deutschen bezeichnet. Wie wenig diese Sprache schon entwickelt war, offenbarte bei derselben Zusammenkunft der Beitrag des Präsidenten des Deutschen Bundestags, Eugen Gerstenmaier. Zu den historischen Ursachen der von Deutschen verübten Massenverbrechen hatte er wenig zu sagen. Hatte Scholem noch betont, nichts sei "törichter als die Meinung, der Nationalsozialismus sei sozusagen vom Himmel gefallen oder ausschließlich ein Produkt der Verhältnisse nach dem ersten Weltkrieg",
In seiner Besprechung der Brüsseler Reden für den Hessischen Rundfunk ein Jahr darauf griff der Literaturwissenschaftler Peter Szondi den Schlusssatz Scholems auf: "Welcher Art wird diese Sprache sein? Wie müsste heute gesprochen werden und wie dürfte nicht gesprochen werden, wenn es diese Sprache dereinst geben soll?" Als Beispiel für das Letztere erkannte Szondi den Beitrag Gerstenmaiers. In dessen Rede sei der Nationalsozialismus gleichsam als "Zufall, Missgeschick" erschienen. Die Selbststilisierung zum Opfer werde bemüht: "Denn das erste Opfer war man ja selbst." Auch schrecke seine Wehleidigkeit nicht davor zurück, "in der Sprache des Unmenschen von 'Judenmord' zu sprechen." Besonders fiel Szondi die Herablassung Gerstenmaiers gegenüber dem Philosophen Karl Jaspers auf, der aus Basel ein Grußwort nach Brüssel gesandt hatte: "Anmaßung ist es, wenn ein Politiker, mit dem Anspruch, nicht für seine Person, sondern für ein ganzes Land zu sprechen, Ansichten und Prognosen einzelner verurteilt und den Philosophen Jaspers, der 64 Jahre seines Lebens in Deutschland verbracht hat, als 'bekannten Basler Professor' einführt - als habe sich hier ein Ausländer Sorgen gemacht. Die Intoleranz, die einen Andersdenkenden gleichsam mit dem stilistischen Mittel der Umschreibung ausbürgert, ist die Kehrseite der falschen Toleranz, die den Juden nur als Deutschen, nur als 'Mitbürger' kennt."
Die Rede Gerstenmaiers repräsentierte die tiefgreifende kulturelle und moralische Beschädigung, die das NS-Regime und seine Massenverbrechen hinterlassen hatten. Der von Deutschland initiierte Angriffskrieg und die in seinem Gefolge radikalisierte Vernichtungspolitik hatten nicht nur viele Millionen Menschenleben gekostet und fast ganz Europa verheert. Zugleich war das kulturelle Erbe Europas mit einem bis dahin ungekannten Ausbruch an Zerstörungs- und Selbstzerstörungsenergien konfrontiert worden. Von der Erfahrung dieses katastrophischen "Zivilisationsbruchs" (Dan Diner) war insbesondere keines jener Länder ausgenommen, die von den Zerstörungen des Weltkriegs und der Vernichtungspolitik unmittelbar, existentiell betroffen waren. Auch in diesen Ländern war ungewiss, ob das jeweilige nationalkulturelle Erbe die Potentiale aufwies, um auf diese neueste, radikalste geschichtliche Erfahrung noch eine Antwort geben zu können. Primo Levi, Tadeusz Borowski, Jorge Semprún zählen zu jenen Schriftstellern, die an ihrem Ort, in ihrer Sprache diesen Versuch unternommen haben. Ihre Bücher - vor allem Se questo è un uomo ("Ist das ein Mensch?"), Poz'egnanie z Maria ("Abschied von Maria") und Le grand voyage ("Die große Reise") - zählen zu jenen Werken der europäischen Literatur, in denen auf sehr unterschiedliche, gleichwohl stets radikale Weise auf die Radikalität ihrer Erfahrung, die zugleich eine fortan unhintergehbare europäische, ja, globale war, zu reagieren.
Sprache der Täter
Die Faktizität der Vernichtungspolitik hatte alle Kultur in Frage gestellt - und dennoch gab es einen kategorialen Unterschied in den Ausgangsbedingungen der Schriftsteller in europäischen Ländern wie Polen, Italien oder Frankreich zu denen ihrer deutschen Kollegen. Denn es war die deutsche Sprache, in der die Vernichtungspolitik nicht nur ersonnen und mit deren Hilfe sie verwirklicht wurde; sie war in den besetzten Ländern zur "Sprache der Täter" und dort, wo Millionen Menschen aus allen Gegenden Europas zu Zwangsarbeit und Ermordung "konzentriert" wurden, zum Idiom der Vernichtung schlechthin geworden, einem Idiom, das zu verstehen von einem Tag auf den anderen überlebenswichtig wurde und das bis heute in Erinnerungsberichten Überlebender in Form kursivgedruckter O-Töne - Marschmarsch!, Oberscharführer, Rampe - fortlebt.
Die Kontaminierung der deutschen Sprache durch die singulären Verbrechen der Deutschen hatte Heinrich Mann bereits 1947, von der Peripherie seines kalifornischen Zufluchtsortes aus, erkannt: "Keine Täuschung! Wer jemals deutsch schrieb, deutschen Ruf erwarb, ist in Gesellschaft aller Deutschen ohne Ausnahme mitgenommen worden nach Kiew und Majdanek."
Wie sehr in internationaler Perspektive diese Einschätzung Scholems geteilt wurde, verdeutlicht auf paradigmatische Weise die Vergabepolitik des Nobelpreiskomitees in Stockholm. Über Jahrzehnte hatte sie gegenüber der westdeutschen Literatur der verbreiteten Wahrnehmung Ausdruck zu geben versucht, dass es deutschsprachiger Literatur nach der Niederschlagung des NS-Regimes und der Öffnung der Lager - der nicht mehr zu leugnenden Faktizität der Massenverbrechen - geschichtlich aufgegeben sei, die Verwandlung der einst weltweit gerühmten Sprache der Dichter und Denker in die Sprache der Täter in ihren zivilisatorischen und kulturellen Auswirkungen zu reflektieren, womöglich konstruktiv zu kontern. Im Nachkriegsjahr 1946 war mit Hermann Hesse ein deutschsprachiger Autor gewürdigt worden, der zwar Abstand zum NS-Regime gehalten und Quartier in der Schweiz genommen hatte; eine explizite Hereinnahme der Verbrechen in seine Schriften hingegen fehlte. Doch schon der Signalcharakter der Auszeichnung Nelly Sachs' 1966 ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Nicht nur wurde eine Lyrikerin ausgezeichnet, deren Werk um Verfolgung und Vernichtung kreiste. Darüber hinaus repräsentierte sie biographisch den für die Gegenwart deutscher Kultur zentralen Sachverhalt des Nachexils - des Tatbestands, dass namhafteste Autoren deutscher Sprache, zu denen im Jahr der Preisverleihung Paul Celan, Peter Weiss und Wolfgang Hildesheimer zählten, es vorzogen, auf einen Wohnsitz im Land ihrer Muttersprache zu verzichten.
Ein drittes Moment kennzeichnete die Preisverleihung an Nelly Sachs: die Teilung der Auszeichnung mit Shmuel Yosef Agnon. Indem die offiziellen Würdigungen als zentralen Gegenstand im Werk des hebräischen Autors "the life of the Jewish people" und in Sachs' Lyrik "Israel's destiny"
Landser- und HJ-Generation
Die schweren Defizite, die Gerstenmaiers Brüsseler Ansprache aufwies, waren Symptome einer deutschen kulturellen Verfassung, an denen auch die deutschsprachigen Schriftsteller teilhatten. Zwar war die Gruppe 47 mit dem programmatischen Anspruch aufgetreten, auf der Grundlage einer Absage an alles nationalsozialistische Gedankengut einen Neuanfang zu setzen. Aber diese Bemühung war von Beginn an mit eklatanten Hypotheken belastet. Der Gründergeneration um Alfred Andersch und Hans Werner Richter dienten die Ideologeme ihrer Landservergangenheit als verbindliches gemeinschaftsstiftendes Moment der Gruppe; den "Kern unseres Erlebens"
Schon zuvor, in der zusammen mit Richter herausgegeben Zeitschrift "Der Ruf", hatte Andersch ausdrücklich festgestellt: "Die Kämpfer von Stalingrad, El Alamein und Cassino, denen auch von ihren Gegnern jede Achtung entgegengebracht wurde, sind unschuldig an den Verbrechen von Dachau und Buchenwald."
Doch auch die jüngere, die so genannte HJ-Generation, der Günter Grass, Martin Walser, Peter Rühmkorf oder der Kritiker Joachim Kaiser angehören, vermochte sich dieser Aufgabe nicht ohne Vorbelastungen zu stellen. Ein entscheidendes Erschwernis war das Selbstverständnis dieser Generation, das der Historiker Martin Broszat (Jahrgang 1926) wie folgt beschrieb: "Als Angehöriger dieser Generation hatte man das Glück, in politisches Handeln und in Verantwortung noch nicht oder nur marginal hineingezogen zu werden, aber man war alt genug, um emotional und geistig hochgradig betroffen zu werden von der moral- und gefühlsverwirrenden Suggestivität, zu der das NS-Regime, zumal im Bereich der Jugenderziehung, fähig war."
Gleichwohl entging es Autoren wie Grass nicht, dass eine Wiederzulassung Deutschlands in den Kreis zivilisierter Nationen geknüpft war an das Gebot, sich zu Nationalsozialismus, Krieg und Vernichtungspolitik zu verhalten. Wie das im Kreis der Gruppe 47 begriffen wurde, offenbart eine Anekdote, die der Berichterstatter Fritz J. Raddatz von der Göhrder Tagung im November 1961 überliefert hat: "Als einer nach der Lesung von Wolfdietrich Schnurres sehr gelungenem Romankapitel sagte, es sei bereits ein Verdienst des Autors, sein Thema (ein jüdisches Schicksal im Schicklgruber-Staat) gewählt zu haben, wurde durch den heftigen Protest deutlich, dass bei allen Divergenzen und Streitigkeiten doch der politische Instinkt dieser Schriftsteller-Gemeinde' richtig ausschlägt. Grass: In dieser Gruppe ist das kein Verdienst, sondern selbstverständlich.'"
Wie wenig solche Verordnungen und Selbstverordnungen fruchteten, legte die erste große Zwischenbilanz der Gruppe 47 offen - der im Auftrag Richters von Raddatz herausgegebene "Almanach der Gruppe 47" von 1962. Raddatz stellt im Vorwort fest, dass "in dem ganzen Band" - einer Sammlung von Texten, die im Verlauf von 15 Jahren vor der Gruppe vorgetragen wurden - "die Worte Hitler, KZ, Atombombe, SS, Nazi, Sibirien nicht vorkommen (...) Ein erschreckendes Phänomen, gelinde gesagt."
Differierende Schreibweisen
Wie sich dieser Unterschied in der literarischen Arbeit, am Ergebnis der Texte selbst, zu erkennen gibt, hat der aus Deutschland stammende, seit Anfang der 1970er Jahre in Großbritannien tätige Literaturwissenschaftler und Schriftsteller W. G. Sebald an einem Vergleich von Grass' "Tagebuch einer Schnecke" mit Hildesheimers "Tynset" aufgezeigt. Sebald hielt zunächst fest, dass bereits wenige Jahre nach Kriegsende "die Mehrzahl der repräsentativen Autoren der neuen Republik (wie etwa Richter, Andersch und Böll)" damit befasst gewesen sei, "den Mythos vom guten Deutschen zu propagieren, der keine andere Wahl hatte, als dulderisch alles über sich ergehen zu lassen. Das Kernstück der damit in Umlauf kommenden Apologetik bestand in der Fiktion einer irgendwie bedeutsamen Differenz zwischen passivem Widerstand und passiver Kollaboration."
In seiner präzisen Lektüre des Romans rückte Sebald Grass' Verknüpfung dokumentarischer Passagen über das Schicksal der Juden Danzigs mit der fiktiven Figur des Studienassessors Ott in den Mittelpunkt: "Dieser Hermann Ott ist eine retrospektive Wunschfigur des Autors (...). Die Implikation ist hier wie bei allem, was wir über Hermann Ott erfahren, dass es den besseren Deutschen tatsächlich gegeben hat, eine These, die durch die Verbindung der Fiktion mit dem dokumentarischen Material den Anspruch eines hohen Grades von Wahrscheinlichkeit sich erborgt." An den "guten und unschuldigen Deutschen, die in unserer Nachkriegsliteratur ihr stilles Heldenleben führen", so Sebald, "hat die deutsche Literatur der Nachkriegsjahre ihr moralisches Heil gesucht und über solcher Präokkupation verabsäumt, die schwerwiegenden und nachhaltigen Deformationen im Gefühlsleben derer verstehen zu lernen, die sich fraglos ins System eingliedern ließen."
Habe Grass' Darstellung der Vernichtungsverbrechen "etwas mühselig Konstruiertes, etwas von einer historischen Pflichtübung an sich", so scheine Hildesheimers "Tynset" "aus dem Zentrum der Trauer selber entstanden zu sein."
Die kategoriale Differenz, die Sebald an diesen beiden Büchern beobachtete, steht für eine Spaltung in der westdeutschen Literatur, die über weite Strecken parallel zur Differenz zwischen deutschen und jüdischen Autoren deutscher Sprache zu verlaufen scheint. In Hildesheimer, aber auch in Paul Celan und Peter Weiss, Hermann Kesten und Erich Fried begegneten die Mitglieder der Gruppe 47 jüdischen Autoren, die schon allein dadurch, dass sie weiterhin mit der deutschen Sprache arbeiteten, auf sichtbarste Weise ein Bekenntnis zu ihrer Bereitschaft ablegten, mit den Deutschen in ein Gespräch einzutreten. Die deutschen Autoren reagierten jedoch vielfach mit demonstrativer Missachtung
Episoden wie diese markieren einen sozialen Habitus, der analog steht zur Auseinandersetzung mit den Texten der jüdischen Autoren. Die historisch unwiederholbare Chance dieser Jahre, gemeinsam - beispielsweise im Rahmen der Gruppe 47 - an der Restitution der Sprache zwischen Juden und Deutschen zu arbeiten, verstrich ungenutzt.
Nobelpreise
1972 erhielt wieder ein deutschsprachiger Schriftsteller den Literaturnobelpreis. In Heinrich Böll würdigte das Preiskomitee einen deutschen Autor, der sich geweigert hatte, die Unmittelbarkeit der Wirtschaftswunderjahre und des anschließenden Jahrzehnts zur Epoche des "Dritten Reiches" zu leugnen und sich ohne Widerrede einzufügen in ein gesellschaftliches Klima, das auf Vergessen setzte. Mit Elias Canetti zeichneten die Juroren 1981 erneut einen Autor aus, der nach seiner Vertreibung nicht mehr nach Deutschland zurückgekehrt war. Noch die Verleihung von 1999 an Günter Grass stand im Zeichen einer Vergabepolitik, die an deutschsprachige Literatur zuerst den Anspruch einer Bemühung um ein "Eingedenken des Vergangenen" (Scholem) zu richten schien.
Das Eingeständnis des Nobelpreisträgers im Jahr 2006, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, konnte nicht wirklich überraschen. Die Fortschreibung der Hypotheken äußerte sich jedoch weniger in dieser Enthüllung als in der kollektiven Reaktion der deutschen Medien, die geschlossen feststellten, Grass' Werk bleibe untangiert. Dabei war schon seit den 1980er Jahren auf die stereotype Darstellung der jüdischen Figuren in der "Blechtrommel" hingewiesen worden, u.a. durch Ruth Klüger.
Die Stockholmer Preisvergabe im Jahr 2002 an Imre Kertész steht für einen Paradigmenwechsel: Sie suchte, wie Begründung und Laudatien verdeutlichen, dem Gebot einer Europäisierung der poetischen Reflexion und Rezeption der Holocaust-Erfahrung Ausdruck zu geben. Die Restitution der Sprache zwischen Deutschen und Juden dagegen ist - als historische Arbeit - ausgeblieben. Dieser Tatbestand wird heute in Teilen überlagert von der Ablösung der Generationen, die einander mit neuen Geschichten und veränderten Voraussetzungen begegnen. Wie wenig geschichtslos jedoch diese Voraussetzungen sind, wie geprägt sie bleiben auch von Versäumnissen der Vergangenheit, kann täglich erfahren werden.