Einleitung
Seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 befindet sich der Sozialstaat in einer tiefen Krise,
Entscheidend dürfte dazu Hartz IV beigetragen haben, mit dem "Grundsicherung für Arbeitsuchende" genannten Arbeitslosengeld II (ALG II), das für ein menschenwürdiges Leben in einer Wohlstandsgesellschaft kaum ausreicht. Unter dem Kontrolldruck ihrer ARGE (Arbeitsgemeinschaft aus Agentur für Arbeit und kommunaler Sozialbehörde) bzw. Optionskommune stehende Bezieher von ALGII oder Sozialgeld, Sozialhilfeempfänger und ihre organisatorischen Netzwerke halten das garantierte Grundeinkommen für eine Alternative zu solchen bedürftigkeitsgeprüften Transferleistungen. Mittels eines Grundeinkommens, das auch als "Bürger-" bzw. "Existenzgeld", als "Sozialdividende" oder als "negative Einkommensteuer" firmiert und allen Inländern gezahlt werden soll, hoffen sie, nicht nur die Armut, sondern auch die Demütigungen durch einen als bürokratisch empfundenen Staat überwinden zu können. Weibliche (Langzeit-)Arbeitslose, die wegen eines hohen Partnereinkommens keine Transferleistungen erhalten, und Feministinnen wähnen darin die ersehnte eigenständige soziale Sicherung der Frau.
Hier soll untersucht werden, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen die daran geknüpften Erwartungen erfüllt oder ob es nicht gerade unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit sinnvoller wäre, die Forderung nach einer bedarfsabhängigen, armutsfesten und repressionsfreien Grundsicherung - etwa unter dem Dach einer solidarischen Bürgerversicherung - zu erheben. Entscheidend für Wirkung und Bewertung eines Grundeinkommensmodells sind die Höhe des zur Verfügung gestellten Betrages (unter/über Hartz IV bzw. Sozialhilfe?), die Art seiner Refinanzierung (Erhebung/Erhöhung welcher Steuern und Streichung anderer/welcher Sozialleistungen?) sowie die Rahmenbedingungen, unter denen er bezahlt wird (Empfängerkreis, Anspruchsvoraussetzungen, Berechnungsmodalitäten usw.).
Grundeinkommensmodelle im Überblick
Die sozialphilosophische Idee, dadurch Armut zu verhindern und Bürgerinnen und Bürger vom Arbeitszwang zu befreien, dass alle Gesellschaftsmitglieder vom Staat ein gleich hohes, ihre materielle Existenz auf einem Mindestniveau sicherndes Grundeinkommen erhalten, ist uralt. Sie geht auf das 1516 erschienene Buch "Utopia" von Thomas Morus zurück,
Das medienwirksamste Modell eines bedingungslosen Grundeinkommens stammt von Götz W. Werner, dem anthroposophisch orientierten Gründer und Geschäftsführenden Gesellschafter der dm-Drogeriemarktkette. Dieser erfolgreiche Unternehmer will "Deutschland zur Steueroase und zum Arbeitsparadies" machen.
Wolfgang Engler, der für eine "Sozialdividende" plädiert, schlägt zum Zweck ihrer Finanzierung ebenfalls indirekte Steuern vor. Über die Mehrwertsteuer schwärmt er unter Berufung auf Lester Thurow: "Sie wird auf alle Waren erhoben, auch auf die importierten, und zieht daher (anders als bei Abgaben und direkten Steuern) keine Wettbewerbsnachteile für die je einheimische Volkswirtschaft nach sich."
Ähnlich wie Engler beschwört Werner das Grundeinkommen als "Bürgerrecht", versteht darunter aber letztlich nur einen "bar ausgezahlten Steuerfreibetrag", der nötig ist, weil in seinem Modell alle direkten Steuern entfallen, was nicht die Armen, sondern die Vermögenden - besonders Milliardäre wie Werner - entlasten würde. Wenn man das Grundeinkommen als bloße "Rücküberweisung des Grundfreibetrages" interpretiert, wie das Werner tut,
Der thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) bezeichnet sein Modell, das er im Sommer 2006 vorgelegt und seither konkretisiert hat, als "Solidarisches Bürgergeld", weil es geeignet sei, die Existenz sämtlicher Staatsbürger bedingungslos zu sichern und der Massenarbeitslosigkeit durch Entkopplung von Arbeitsmarkt und sozialer Sicherung entgegenzuwirken.
Solidarisch ist das Modell jedoch kaum zu nennen, liegt die Höhe des Bürgergeldes doch "deutlich unter der von der EU festgelegten Armutsgrenze", wie auch Michael Opielka und Wolfgang Strengmann-Kuhn konstatieren.
Einzelne neoliberale Ökonomen verbinden mit dem Grundeinkommen die Hoffnung, weitreichende Deregulierungskonzepte durchsetzen zu können. Das von Thomas Straubhaar geleitete Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) geht denn auch in seiner Studie "Bedingungsloses Grundeinkommen und Solidarisches Bürgergeld - mehr als sozialutopische Konzepte" nicht nur davon aus, dass "alle steuer- und abgabenfinanzierten Sozialleistungen abgeschafft" werden, sondern schlägt darüber hinaus vor, "alle sozialpolitisch motivierten Regulierungen des Arbeitsmarktes" zu streichen: "Es gibt keinen Schutz gegen Kündigungen mehr, dafür aber betrieblich zu vereinbarende Abfindungsregeln. Es gibt keinen Flächentarifvertrag mehr und auch keine Mindestlöhne, sondern von Betrieb zu Betrieb frei verhandelbare Löhne. Es gibt keine Sozialklauseln mehr. Die heute zu leistenden Abgaben an die Sozialversicherungen entfallen vollständig."
Hier liegt vermutlich einer der Hauptgründe dafür, dass manche neoliberale Ökonomen diesem Modell so viel Sympathie entgegenbringen. "Neoliberale lieben das Grundeinkommen als Hebel, um den ganzen Sozialstaat samt seiner Klientel auf einen Schlag loszuwerden, damit zugleich den Staat und den gesamten öffentlichen Sektor gesundzuschrumpfen und jede Form von Beschäftigungspolitik, von makroökonomischer Steuerung ein für allemal ad acta zu legen."
Während sich die bisher erwähnten Protagonisten des Grundeinkommens von dessen Einführung eine Verbilligung des "Faktors Arbeit" und eine größere Bereitschaft der Transferleistungsbezieher zur Arbeitsaufnahme versprechen, sehen linke Befürworter darin umgekehrt eine Möglichkeit, soziale Sicherheit ohne Arbeit zu erlangen. Gewissermaßen spiegelbildlich zum Neoliberalismus und mit teilweise ganz ähnlichen Formulierungen wie dessen Vertreter erheben Organisationen der radikalen Linken gegenüber dem Wohlfahrtssystem den Vorwurf, es beschneide die Freiheit seiner Klientel und hindere diese so daran, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Beispielsweise meint eine sich "Wildcat" nennende Gruppe: "Die sozialstaatlichen Errungenschaften sind Verhinderungsmittel von Selbstbewusstsein und kollektiven Kämpfen. Der Staat tritt an die Stelle unserer Selbsttätigkeit, atomisiert uns durch das bürgerliche Recht und individuelle Geldzahlungen."
Während der 1990er-Jahre machte die organisierte Erwerbslosenbewegung das Existenzgeld zu ihrer Schlüsselforderung,
Weiterentwicklung oder Zerstörung des bestehenden Sozialstaates?
Auf den ersten Blick hat ein garantiertes Mindesteinkommen zweifellos etwas Bestechendes: Statt wie im bestehenden Wohlfahrtsstaat diejenigen Menschen durch eine spezielle Transferleistung (ALG II, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Sozialhilfe) aufzufangen, die weder über ein ausreichendes Erwerbseinkommen noch über Leistungsansprüche aus dem Versicherungssystem verfügen, sollen sämtliche (Wohn-) Bürger ohne Ansehen der Person, "Arbeitszwang" und besonderen Nachweis in den Genuss einer finanziellen Zuwendung gelangen, die zur Sicherung ihrer Existenz ausreicht. An die Stelle eines gleichermaßen komplexen wie komplizierten Wohlfahrtsstaates, der vielen Menschen, sogar seinen größten Nutznießern, undurchschaubar erscheint und bloß als "sozialer Reparaturbetrieb" funktioniert, würde ein sozialpolitischer Universaltransfer treten, der keiner Kontrollbürokratie mit ihren Sanktionsmechanismen bedarf.
Das bedingungslose Grundeinkommen suggeriert, ein "gesellschaftspolitischer Befreiungsschlag" zu sein. Nach permanenter "Flickschusterei" am Sozialstaat, die über Jahrzehnte hinweg nur immer neue Probleme und nicht enden wollende Streitigkeiten in der Öffentlichkeit mit sich gebracht hat, erscheint der angestrebte Systemwechsel vielen Menschen geradezu als Erlösung aus dem Jammertal der Konflikte. Endlich können sie hoffen, sowohl vom Elend der Armen, die um Almosen betteln, als auch von ständigen Reformen, die - wie Hartz IV - weitere Verschlechterungen bewirkt haben, befreit zu werden. Für die Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens besteht ein weiterer Fortschritt darin, dass es weder an die (für den Bismarck'schen Sozialversicherungsstaat konstitutive) Arbeitspflicht noch an eine diskriminierend wirkende Bedürftigkeitsprüfung gebunden wäre.
Sieht man genauer hin, fallen demgegenüber jedoch zahlreiche Nachteile ins Auge: Beim allgemeinen Grundeinkommen handelt es sich um eine alternative Leistungsart, die mit der Konstruktionslogik des bestehenden, früher als Jahrhundertwerk gefeierten und in vielen Teilen der Welt nachgeahmten Wohlfahrtsstaates bricht sowie seine ganze Architektur bzw. Struktur zerstören würde. Denn dieser gründet seit Bismarcks Zeiten auf Sozialversicherungen, die in unterschiedlichen Lebensbereichen, -situationen und -phasen auftretende Standardrisiken (Krankheit, Alter, Invalidität, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit) kollektiv absichern, sofern der versicherte Arbeitnehmer und sein Arbeitgeber vorher entsprechende Beiträge gezahlt haben. Nur wenn dies nicht der Fall oder der Leistungsanspruch bei Arbeitslosigkeit erschöpft ist, muss auf steuerfinanzierte Leistungen (ALG II, Sozialgeld und Sozialhilfe) zurückgegriffen werden, die bedarfsabhängig - das heißt nur nach einer Prüfung der Einkommensverhältnisse, vorrangigen Unterhaltspflichten und Vermögensbestände - gezahlt werden.
Verfechter des Grundeinkommens geraten zwangsläufig in ein Dilemma, denn sie müssen sich zwischen folgenden zwei Möglichkeiten entscheiden:
Entweder erhält jeder Bürger das Grundeinkommen, unabhängig von den jeweiligen Einkommens- und Vermögensverhältnissen. In diesem Fall müssten riesige Finanzmassen bewegt werden, die das Volumen des Bundeshaushaltes (ca. 250 Mrd. EUR) um ein Mehrfaches übersteigen und die Verwirklichung des bedingungslosen Grundeinkommens per se ins Reich der Utopie verweisen. Außerdem stellt sich unter Gerechtigkeitsaspekten die Frage, warum Millionäre vom Staat monatlich ein von ihnen vermutlich als sehr bescheidenes Almosen empfundenes Grundeinkommen erhalten sollten, während Millionen Bürger mehr als den für sämtliche Empfänger einheitlichen Geldbetrag viel nötiger hätten.
Oder wohlhabende und reiche Bürger bekommen das Grundeinkommen nicht bzw. im Rahmen der Steuerfestsetzung wieder abgezogen. Dann ist es weder allgemein und bedingungslos, noch entfällt die Bedarfsprüfung, denn es müsste ja in jedem Einzelfall geprüft werden, ob die Anspruchsvoraussetzungen nicht durch (verdeckte) anderweitige Einkünfte verwirkt sind. Damit wären Arbeitslose und Arme jedoch einem ähnlichen Kontrolldruck wie gegenwärtig ausgesetzt, auch wenn er vom Finanzamt statt von der ARGE oder einer Sozialbehörde ausgeübt würde, den zu beseitigen jedoch gerade ein Hauptargument für das Grundeinkommen bildet.
Das Existenzgeld gründet wie das garantierte Mindesteinkommen generell auf der Wunschvorstellung seiner Befürworter, die soziale Sicherung von der Erwerbsarbeit entkoppeln zu können. Dabei handelt es sich jedoch um einen Trugschluss, denn sofern Letztere existiert, basiert die Erstere auf ihr. Allenfalls können Teile der Bevölkerung leben, ohne zu arbeiten, aber nur so lange, wie das andere (für sie) tun und den erzeugten gesellschaftlichen Reichtum mit ihnen teilen. Von der Erwerbsarbeit trennen lassen sich bloß der individuelle Rechtsanspruch auf Transferleistungen, den jemand geltend macht, und der Zuteilungsmechanismus, nach dem die Zahlungen erfolgen. Daniel Kreutz kritisiert, das bedingungslose Grundeinkommen verspreche die Befreiung vom Joch der Lohnarbeit, sei als "individuelle Ausstiegsoption" aber dem Modell eines müßigen Vermögensbesitzers nachgebildet und verkenne damit völlig die Notwendigkeit "kollektiver Pflichtarbeit", der sich die Gesellschaft nicht entziehen könne, wenn sie ihren Wohlstand sichern wolle.
Einer Realisierung der Forderung nach einem Grundeinkommen stehen zahlreiche organisatorisch-technische Umsetzungsschwierigkeiten entgegen. Richard Hauser rechnet beispielsweise mit einer "deutliche(n) Schrumpfung der Produktion und des Volkseinkommens" und befürchtet negative Konsequenzen durch die wirtschaftliche Verflechtung der Bundesrepublik mit anderen Ländern: "Selbst wenn es gelänge, das unbedingte und universelle Grundeinkommen nach dem Territorialprinzip mit Erstwohnsitz in Deutschland zu beschränken - was rechtlich nicht gesichert ist -, müsste mit einer starken Sogwirkung auf Zuwanderer aus anderen EU-Ländern und auch aus Nicht-EU-Ländern gerechnet werden; denn jeder EU-Bürger könnte sich durch Einwanderung nach Deutschland ein an den deutschen Standards orientiertes sozio-kulturelles Existenzminimum ohne jegliche Anstrengung und Gegenleistung beschaffen."
Ob ein bedingungsloses Grundeinkommen finanzierbar, sinnvoll und sozial gerecht ist, erscheint mehr als fraglich. Ein solches, nicht auf Erwerbsarbeit gegründetes, "leistungsloses" Einkommen gleicht einer schönen Utopie. "Aber manche Utopien sind gefährlich, weil sie von der Suche nach realistischeren Alternativen ablenken."
Daher und weil für sie die Bedürftigkeit der Empfänger und die Frage eine Rolle spielen, warum jemand in eine Notsituation geraten ist,