Einleitung
Vor reichlich 50 Jahren, im Jahr 1955, war Deutschland ein ethnisch weitgehend homogenes Land: Der Anteil der hier lebenden Ausländer betrug rund ein Prozent.
Doch in eben diesem Jahr wurde zwischen Deutschland und Italien ein folgenreiches Abkommen - der erste Vertrag zur Anwerbung von "Gastarbeitern" - geschlossen. In den folgenden Jahren kamen 14 Millionen Arbeitsmigranten ins Land - nicht nur aus Italien, sondern auch aus der Türkei, aus Spanien, aus dem damaligen Jugoslawien und aus anderen Ländern. Bald folgten die Familienangehörigen der Arbeitsmigranten, Aussiedler, Flüchtlinge, Asylbewerber. Gemäß der offiziellen Statistiken beträgt der Anteil der "Ausländer" in Deutschland inzwischen rund neun Prozent der Bevölkerung.
Diese Entwicklung wurde anfangs von Politik wie Öffentlichkeit ignoriert. Das hat sich inzwischen gründlich geändert: Es gibt heute zahllose Untersuchungen, Kommissionen, Medienberichte, zahllose Institutionen, Gremien, Tagungen, die sich mit dem Thema "Migranten in Deutschland" befassen und dazu Informationen anbieten. Ob Arbeits- oder Wohnungsmarkt, Bildungsbereich, Einkommen, Gesundheit, Heiratsverhalten - Migrantinnen und Migranten sind längst zu einem vielbeschriebenen Wissenschaftsobjekt und Medienthema geworden.
Von der Beliebtheit der einfachen Bilder
Doch das Bild von "den" Ausländern, das auf vielen Ebenen transportiert wurde und wird, weist Vereinfachungen und Verzerrungen auf, auch charakteristische Auslassungen und Lücken.
Aber auch in moderateren Darstellungen, die nicht von der Absicht der Dramatisierung gelenkt sind, wird gern das Exotische und Fremde betont. Besonders beliebt ist etwa das Bild der türkischen Frau, möglichst mit Kopftuch. Es gehört zum Grundrepertoire aller Diskussionen über Ausländerinnen, scheint zum Symbol für "die" Ausländerin schlechthin geworden zu sein.
Im Ergebnis ist das in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild sehr schlicht und vereinfachend, auf ein Grundmuster weniger Stereotype bezogen. Was in die geschilderte Optik nicht passt, findet wenig Beachtung. Insbesondere gerät meist aus dem Blickfeld, dass die ausländische Bevölkerung in sich alles andere als homogen ist. Sie ist sehr differenziert und umfasst unterschiedlichste Gruppen. Im Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung stehen die klassischen Arbeitsmigranten, die aus ärmeren Ländern nach Deutschland gekommen sind, und hier wiederum vor allem diejenigen, die am unteren Ende der sozialen Hierarchie bleiben. Über die daraus resultierenden Verzerrungen heißt es im Sechsten Familienbericht der Bundesregierung, der die Literaturgrundlage kritisch sichtet: Der öffentliche Diskurs über Migranten und ihre Familien sei durch "extreme Vereinfachungen geprägt". Viele Darstellungen folgten dem Grundmuster einer "Rhetorik, welche die Unterschiede akzentuiert, ihr Augenmerk auf das Ungewöhnliche und Exotische richtet". Damit erzeugten sie eine "Folklore des Halbwissens", die sich immer wieder fortschreibe und selbst bestätige.
Im Folgenden will ich an einem Fallbeispiel zeigen, wie diese Folklore des Halbwissens aussieht, wie sie sich ausbreitet und nicht zuletzt: welche politischen Folgen sie hat. Dazu wähle ich ein Thema, das im Frühjahr2005 die Aufmerksamkeit auf sich zog: das der "türkischen Bräute".
"Türkische Bräute" in den siebziger Jahren
Das herrschende Bild von der ausländischen Frau ist hierzulande vor allem ein Bild von der türkischen Frau: zum einen, weil die Türken die zahlenmäßig größte Zuwanderergruppe darstellen, zum anderen, weil sie in den Augen der Deutschen in besonderem Ausmaß Fremdheit repräsentieren. Was diese Fremdheit ausmacht, was so auffallend ist, hat Susanne von Paczensky vor knapp 30 Jahren anschaulich beschrieben.
Anrührende Beschreibung
"In der Bundesrepublik und West-Berlin leben rund eine Million Türken; etwa ein Drittel davon sind Frauen. Sie wohnen mitten unter uns, durchaus nicht unsichtbar, im Gegenteil: durch Kopftuch und Blumenhose, durch Mimik und Verhalten deutlich sichtbar, augenfällig ausgesondert. Sie sind ausgesondert, das heißt, sie sind sonderbar ... Langsamer als all die anderen Zugewanderten aus südlichen Ländern lassen sie sich auf Sprache, Kleidung, Umgangsformen ihrer deutschen Nachbarn ein; zögernder noch als ihre Männer, ihre Söhne nehmen sie den Kontakt zur Umwelt auf. Wer mit türkischen Familien zu tun hat, ... der erlebt, dass die Begegnung nur mit den Männern stattfindet. Die Frauen mögen körperlich anwesend sein, sie bleiben sprachlose Kulisse. Oft kommt nicht einmal ein Blickkontakt zustande. Natürlich gibt es Ausnahmen, ... doch die sind selten. Die überwiegende Mehrzahl der Frauen, die bei uns Arbeit sucht, stammt vom Lande, aus den abgelegenen Dörfern Anatoliens, und diese Herkunft haftet ihnen deutlich an. Als unverdauliche Fremdkörper leben sie nun in unseren Städten ... Sie stehen vermummt beieinander, sprechen eine unverständliche Sprache, kochen unbekannte Speisen. Sie gehen demütig zwei Schritte hinter ihren Männern her, und selbst die eigenste Domäne der Frau, den Einkauf von Lebensmitteln oder Kleiderstoffen, überlassen sie ihren Männern oder Kindern."
Migrantinnen, wie Susanne von Paczensky sie darstellt, sind also nicht einfach unsichtbar, nein, umgekehrt: Sie sind auffallend, weil sie so unzugänglich, so undurchdringlich, so sprachlos erscheinen. Und sie sind vor allem eines: Sie sind unterdrückt. Das Buch, zu dem von Paczensky die Einleitung schrieb, trägt den bezeichnenden Titel "Die verkauften Bräute".
Beschreibungen dieser und ähnlicher Art enthalten eine für die damalige Zeit charakteristische Tonlage, besonders ausgeprägt in vielen der Studien aus Sozialarbeit und Sozialpädagogik, die sich mit Ausländern im Allgemeinen und ausländischen Frauen im Besonderen befassten. Solche Arbeiten sind damals wie heute zwar meist von bester Absicht geleitet - sie sollen nicht nur Informationen vermitteln, sondern auch ein "Gefühl der Empörung"
Opferperspektive und Überlegenheitsanspruch
Dabei ist zweifellos richtig, dass Migrantinnen oft in besonderer Weise Belastungen ausgesetzt sind, und entsprechend gerechtfertigt, ja notwendig ist es, den Blick darauf zu lenken. Dennoch sind aus heutiger Sicht die meisten der damaligen Texte, die sich der Migrantinnen und ihrer Nöte annehmen wollten, durch erhebliche Verzerrungen, Verengungen, Fehlannahmen gekennzeichnet. Wenn man ihre Grundlagen genauer betrachtet, stößt man - wie eben erwähnt - auf einige wenige, sehr dürftige und methodisch höchst fragwürdige Quellen, die so lange zitiert wurden, bis sie den Charakter anerkannter Tatsachen annahmen.
Gegen solche vereinfachenden Bilder wenden sich neuere Texte aus der Frauenforschung und Frauenbewegung. Dabei stehen vor allem zwei Punkte im Zentrum ihrer Kritik: zum einen die allgegenwärtige Opferperspektive, zum anderen der Überlegenheitsanspruch der deutschen Autorinnen.
Opferperspektive: Die erste und vielleicht offensichtlichste Schwierigkeit besteht darin, dass in Texten der beschriebenen Art Migrantinnen immer nur aus einem Blickwinkel gesehen werden: als passive Opfer - Opfer der deutschen Gesellschaft, Opfer der türkischen Männer, Opfer der kapitalistischen Wirtschaft. Nie dagegen treten Migrantinnen als aktiv Handelnde in Erscheinung, nie als Personen, die eigene Wünsche und Hoffnungen entwickeln, die selbst planen, Entscheidungen treffen, diese auch durchzusetzen versuchen - unter wie widrigen Umständen auch immer-, dabei eigene Strategien entwerfen, mit List, Zähigkeit, Durchsetzungsvermögen. Der deterministische Blick verweigert der "armen Ausländerfrau" jede eigene Regung, jede Individualität, jeden Anflug von Freiheit: Es scheint kaum vorstellbar, dass sie auch einmal lacht, liebt, Freude empfindet. Migrantinnen scheinen aus der Opferperspektive nur in der Lage zu sein, in der Monotonie ihres Unglücks zu leben und dieses Unglück ausharrend zu tragen. Die Reflexion, das Bewusstsein dagegen ist den deutschen Frauen vorbehalten. Ihr Motto heißt: Wir wissen, wie es dir geht.
Überlegenheitsanspruch: Ein derartig mitleidiger Blick hat immer auch etwas Herablassendes an sich, er kommt von oben. Und hier genau liegt das nächste Problem. Viele der einheimischen Frauen in Frauenbewegung, Sozialarbeit, Sozialwissenschaft haben Migrantinnen als eine Problemgruppe definiert, die der Betreuung und Richtungsweisung bedarf. Sie neigen dazu, sich den Migrantinnen gegenüber als überlegen zu fühlen und zu verhalten, und das manchmal stillschweigende, manchmal auch offen ausgesprochene Credo heißt: Wir wissen, was für dich gut ist.
In dem Maß, in dem dies erkannt und benannt wurde, schien es nicht mehr möglich zu sein, im Rahmen seriöser Diskussionen ein grob pauschalisierendes Bild von der "armen unterdrückten Ausländerfrau" zu präsentieren. Die Zeit für genaueres Hinschauen, für genauere Argumente begann - so jedenfalls konnte man hoffen.
Türkische Bräute im Jahr 2005
Doch dann erschien 2005 das Buch "Die fremde Braut" von Necla Kelek.
Wenn schon Andrea Baumgartner-Karabak und Gisela Landesberger beim Publikum ein Gefühl der Empörung auslösen wollten, so gilt dies offenbar erst recht für Necla Kelek. Kämpferisch stellt sie sich auf die Seite der türkischen Frauen, genauer der vielen Frauen, die - so ihre Darstellung - in jungen Jahren zwangsverheiratet werden, und zwar mit einem türkischen Mann, der in Deutschland aufwuchs. Vor der Hochzeit, so die Autorin, haben sie keine Chance, den Bräutigam kennen zu lernen; und gleich nach der Hochzeit müssen sie ihm nachfolgen in das ferne Land Deutschland, wo sie dem Mann und seiner Familie zu Diensten sein müssen, ihm gewissermaßen ausgeliefert, wo sie unterdrückt und rechtlos sind. Kämpferisch rechnet Kelek ab: zum einen mit den Türken in Deutschland, die Frauenunterdrückung praktizieren oder zumindest durch ihr Stillschweigen dulden; zum anderen - und dies vor allem - mit den gutmeinenden, doch realitätsblinden Deutschen, die in all ihrer Multikulti-Romantik das Unrecht nicht wahrnehmen wollen, das in ihrem Land, in ihren Städten geschieht.
In diesem Sinne ist Necla Keleks Buch vor allem als "Anklage" zu lesen. Doch wenn man genauer hinschaut, bleibt die "Beweisführung" ziemlich verschwommen. Zwar wird vom Verlag und in späteren Berichten über das Buch vermerkt, die promovierte Soziologin habe eine eigene Untersuchung unter türkischen Frauen gemacht, mithin: ihre Aussagen seien wissenschaftlich fundiert. Aber im Buch fehlen solide und nachprüfbare Daten. Stattdessen benutzt die Autorin zentrale Begriffe äußerst schwammig, erklärt sie Ungleiches zu Gleichem: Die arrangierte Ehe etwa wird von ihr umstandslos mit der Zwangsheirat gleichgesetzt, als gäbe es nicht wesentliche Unterschiede zwischen beiden. Und worauf Kelek ihre harten Aussagen und Urteile stützt, bleibt völlig offen. Das Buch basiert auf persönlichen Beobachtungen, die Autorin schildert einige Gespräche mit türkischen Frauen - und aus dem Mosaik solcher Eindrücke schließt sie auf das, was in mehr oder minder ähnlicher Form überall in "den" türkischen Gemeinden und türkischen Familien in Deutschland geschieht. Das ist wissenschaftlich fragwürdig und damit fahrlässig - kommt aber bei Medien und Öffentlichkeit gut an.
Das Buch von Necla Kelek hat Karriere gemacht, ist in allen großen Medien besprochen worden, im Spiegel gar vom damaligen Innenminister Otto Schily persönlich. Die Autorin avancierte zur viel gefragten Person für Interviews, Lesungen, Diskussionsforen, für Talk-Shows und Tagungen, zur authentischen Gewährsfrau rund um das Rahmenthema "Die Unterdrückung der türkischen Frau". Ihr Buch erreichte in kürzester Zeit die Bestseller-Liste des Spiegel.
In einem hat die Autorin der "fremden Braut" zweifelsfrei recht: Jede Zwangsheirat der von ihr beschriebenen Art ist ein Unrecht, und zwar ein gewaltiges, und deshalb muss - nicht zuletzt von Seiten des deutschen Staates - alles getan werden, um solches Unrecht zu bestrafen und zukünftig zu verhindern. Und vielleicht hat die Autorin auch in einem weiteren Punkt Recht: Möglicherweise gibt es mehr Zwangsheiraten in Deutschland, als wir ahnen. Aber statt ihre Thesen empirisch zu unterfüttern, äußert Kelek einen Generalverdacht. Dieser wird nun - ohne Möglichkeit der Überprüfung - den türkischen Gemeinden einfach übergestülpt.
Erst recht hier, bei der Darstellung der türkischen Gemeinden, wird mit sehr groben Pinselstrichen gezeichnet. Necla Kelek beansprucht, mit ihren Schilderungen einen "Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland" zu liefern (so der Untertitel des Buches). Was man da zu lesen bekommt, scheint mit den schlimmsten Angstphantasien fremdenfeindlicher Deutscher identisch zu sein: Es ist nicht nur zu lesen, dass Zwangsheirat unter türkischen Migranten "übliche Praxis"
Unter anderem aus solchen Passagen erklärt sich vielleicht der enorme Erfolg des Buches. Nicht zufällig lautet die Überschrift einer Rezension: "Wie der Islam die Städte erobert."
Wie gesagt: Mit ihrem Kampf gegen Zwangsehen hat Kelek zweifellos recht. Aber dennoch hatte die Diskussion, die sie ausgelöst hat, äußerst problematische Züge. Die einfachen, die vereinfachenden Bilder haben gesiegt. Ob das dem Zusammenleben von Deutschen und Türken zuträglich ist, ob es die vielgeforderte, vielbeschworene Integration weiterbringt, mag bezweifelt werden. Schon die Autoren des Sechsten Familienberichts wussten: "Bereitwillig aufgenommen werden alle Berichte, die besonders krasse Beispiele der Unterdrückung und Misshandlung türkischer Frauen zum Inhalt haben - wenn sie ... sich als eklatantes Beispiel einer fremdkulturellen Lebensweise darstellen lassen. Dann lässt sich das ... Mitleid mit 'der' türkischen Frau mit einer Feindlichkeit gegenüber 'dem' türkischen Mann verbinden und als Legitimation ethnischer Distanzierung verwenden."
Ausblick
Bilder sind mehr als nur Bilder: Sie können eminent politische Folgen haben. Wer vorwiegend Darstellungen findet, wonach die Migrantinnen und Migranten sehr fremd, sehr exotisch, sehr anders erscheinen, wird umso eher ein Gefühl der Bedrohung entwickeln. "Die" sollen hereinkommen zu "uns"? Wenn solche Gruppen ihre Sitten, Gewohnheiten, Bräuche nach Deutschland hereintragen, werden dann nicht unsere eigenen Lebensformen allmählich verschwinden? Was wird dann aus dem, was uns selber vertraut ist, was uns Heimat bedeutet? Wer solche Bilder und Fragen im Kopf hat, fühlt sich bedrängt. Er wird den Parolen derjenigen glauben, die die deutsche Leitkultur in Gefahr sehen. Also wird er Zuwanderung und Zuwanderer ablehnen. Das war sicher kaum das Anliegen Necla Keleks. Aber es ist vielleicht die Absicht einiger derer, die das Buch so inbrünstig gelobt haben.