Einleitung
Als ich im August 1967 im Alter von zehn Jahren mit meiner großen Schwester und meinem kleinen Bruder von Anatolien über Istanbul Richtung Deutschland fuhr, befand sich in der Seitentasche meines neuen Mantels neben meinem türkischen Ausweis auch einen handgeschriebenen Zettel meines Vaters. Obwohl ich Deutsch nicht lesen konnte, kannte ich den Text. Mein in Deutschland arbeitender Vater hatte ihn mir bei seinem letzten Besuch in der Türkei gegeben und gesagt, "Wenn ihr diese Zeilen lesen könnt, dann seid ihr drin in Deutschland."
Es handelte sich um die Nationalhymne, das "Lied der Deutschen". Er glaubte, dass - wie es in türkischen Schulen üblich ist - auch in Deutschland vor Unterrichtsbeginn die Nationalhymne gesungen werde. Am Abend vor meinem ersten Schultag in Deutschland übten mein Vater und ich die schwere Aussprache: "Blüh im Glanze dieses Glückes, Blühe, deutsches Vaterland". Die Enttäuschung war groß, als am nächsten Morgen niemand das Lied sang, auch später wollte es niemand hören.
Der Weg von Anatolien über Istanbul nach Deutschland war für meine Familie - deren Schicksal in vieler Hinsicht ganz typisch für die Entwicklung der türkischen Gesellschaft und für den Migrationsprozess ist - der Weg vom Kollektiv des Familienclans zur Kleinfamilie, von der Vormundschaft in die Freiheit, von der Tradition in die Moderne, vom Sozialwesen zum Individuum.
Mit der Gründung der türkischen Republik im Jahr 1923 hatte sich das Land eine neue Verfassung sowie eine neue Schrift gegeben, und den Frauen die ersten Rechte. Sie seien es, so Kemal Atatürks Credo, welche die künftigen Generationen erzögen. Man dürfe ihnen deshalb nicht, wie bisher üblich, die Bildung verweigern. Nur eine Gesellschaft, in der Frauen gleichberechtigt sind, sei gerüstet, den Weg in die Moderne einzuschlagen.
Atatürk hatte erkannt, dass es nicht reichte, die mit großem Aufwand propagierten Ideen der Französischen Revolution wie einen neuen Trieb auf den türkischen Baum zu pflanzen. Ohne Mentalitätswandel würde dieser verdorren. Für die Verwirklichung und Durchsetzung der Menschrechte bedurfte es mehr.
In den Städten, in denen die Industrie aufblühte, wuchs mit ihr auch das Bürgertum, das die neuen Freiheiten annahm und genoss. Gleichzeitig verfielen die ländlichen Strukturen, und allmählich begann ein inzwischen 80 Jahre anhaltender Strom, eine Binnenmigration aus allen ländlichen Gebieten in Richtung der großen Städte, vornehmlich nach Istanbul. Auch meine Eltern schlossen sich diesem Zug an und zogen an den Bosporus. Das erste Mal in ihrem Leben waren mein Vater und meine Mutter für sich selbst verantwortlich, entschied nicht die Großfamilie für sie. Meine Mutter, die noch verheiratet worden war, ohne gefragt zu werden, und die, wäre sie im Dorf geblieben, ihr Leben lang der Schwiegermutter hätte dienen müssen, war plötzlich auf sich selbst gestellt, musste allein einen Haushalt führen. Die Macht der Umstände machte aus meiner Mutter und den vielen Frauen, die auf ähnliche Weise in die Stadt kamen, selbständige Frauen, die eher dem Vorbild der Doris Day und Jackie Kennedy nacheiferten, als sich ins Haus sperren zu lassen.
Hinzu kam, dass sich die Türkei eine strikte Trennung von Religion und Staat verordnet hatte und der Islam und die ihm anhaftenden Traditionen in den Städten immer weiter an Boden verloren. Der Staat trennte die Religion von der Politik, verbannte den Islam mitsamt Fes (früher im Orient weit verbreitete Kopfbedeckung der Männer) und Kopftuch aus den Schulen, Universitäten und öffentlichen Plätzen, und gleichzeitig versuchte er, den Islam zu kontrollieren, indem er ihn organisierte. So kam es zu der merkwürdigen Entwicklung, dass eine staatliche Anstalt für Religion die Vorbeter der Moscheen ausbildet, bezahlt und die Inhalte der Predigten vorgibt. Sie bezahlt auch die etwa 3 000 Imame, die in den Ditip-Moscheen in Deutschland auf Türkisch predigen. Eine Religionsfreiheit, wie wir sie zum Beispiel vom Christentum kennen, gibt es in der Türkei nicht. Jeder Türke ist, wenn er sich nicht ausdrücklich zu einer anderen Religion bekennt, von Geburt an Moslem.
Der Lebensstil, der im Istanbul der fünfziger bis siebziger Jahre vom Bürgertum gepflegt wurde, war europäisch oder amerikanisch. Das Assoziations-Abkommen der türkischen Regierung mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1963 entstand aus diesem nach Westen orientierten Geist, ebenso wie das heute als vorbildlich gepriesene moderne Istanbul ein Kind dieser Aufklärung ist.
Mein Vater ging als einer der ersten "Gastarbeiter" nach Deutschland. Er ging als Republikaner, als Anhänger Atatürks, er wollte die Chancen des "Wirtschaftswunders" nutzen. Und gleichzeitig mit den Männern gingen Anfang der sechziger Jahre zum ersten Mal auch türkische Frauen allein in die Fremde. Für sie war Europa die Chance zur weiteren Individuation.
Der Prozess der Individuation ist Voraussetzung und Bedingung für die Moderne. Individuation bedeutet, dass jeder Einzelne Rechte und Pflichten wahrnimmt, Verträge abschließt, und nicht als Mitglied einer Gruppe, einer Familie auftritt. Nur wer in der Lage ist, Verantwortung für sich selbst und sein Handeln zu übernehmen, wird gesellschaftlich erfolgreich agieren, sich zurechtfinden können. Viele haben dies begriffen, sie sind einen individuellen Weg gegangen und haben Europa als Chance genutzt.
Die ersten Migranten blieben nicht lange allein. Im großen Stil wurden in Anatolien Arbeitskräfte angeworben. Sie gingen nach Deutschland und lebten hier unter einfachsten Bedingungen. Es sollte ja nur ein Provisorium für zwei, drei Jahre sein. Aber es kam anders. Die Gastarbeiter holten bald ihre Familien nach, entschlossen sich, in Deutschland zu bleiben, wurden Einwanderer, ohne dass die Politik darauf reagierte. Vielleicht hat sie es nicht einmal richtig bemerkt. Mit den Verwandten kamen auch die muslimisch-türkischen Familientraditionen nach Deutschland. Die Frauen, die als erste in die Moderne aufgebrochen waren, wurden mehrheitlich wieder zurück ins Haus geholt. Es wurde vielfach kein Deutsch mehr gelernt, es wurde türkisch gesprochen, muslimisch gelebt. "Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, sondern in eine Familie", sagte mir bei einem Interview eine "Importbraut", die seit zehn Jahren in Deutschland lebt.
An der ländlichen Türkei hatte sich schon Atatürk die Zähne ausgebissen. Hier gelang der Weg in die Moderne nicht, auch weil die ökonomischen Voraussetzungen dafür fehlten. Die traditionelle muslimisch-türkische Kultur, das komplexe System von Glaubensvorstellungen, Bräuchen, Sitten, blieb unangetastet. Es gab zwar die Gesetze der Republik, aber niemand war da, der sie mit Leben hätte füllen können. Das Leben ging weiter, wie es seit Jahrhunderten abgelaufen war.
Das galt auch für die Binnenmigranten, die aus den Dörfern nach Istanbul kamen und dort über Nacht ihre Häuser in den Gececondos bauten. Es waren Landarbeiter ohne Land und Arbeit, die ihre Traditionen und Sitten mit nach Istanbul und später mit nach Deutschland nahmen. Sie hatten von der Moderne nichts zu erwarten, denn für eine Karriere in der Fremde fehlten ihnen die elementaren Voraussetzungen. Und von ihnen wurde auch nichts anderes erwartet, niemand verlangte etwas von ihnen, außer dass sie die einfachen Arbeiten übernehmen sollten, für die sich die Deutschen inzwischen zu schade geworden waren. Den Migranten konnte es ziemlich gleich sein, wo sie lebten - ob in Istanbul oder in Iserlohn, sie waren auf jeden Fall die Verlierer der Entwicklung. So hielten sie sich an das, was ihnen geblieben war - an ihre Traditionen und in immer stärkerem Maße an den Glauben mit seinen festen Lebensregeln und der dem Islam innewohnenden Schicksalsgläubigkeit.
Der Islam wurde - auch mit finanzieller Unterstützung durch die türkische Republik und aus Saudi-Arabien - wieder identitätsstiftend, und aus Gastarbeitern wurden im öffentlichen Bewusstsein zunächst Türken und dann Muslime. Hinzu kam ein Gefühl - mit dem Erstarken des politischen Islam seit 1979 erst im Iran, später dann in der Türkei -, mit diesem Glauben endlich wieder auf der Seite der moralischen Gewinner der Geschichte zu stehen. So blieben die patriarchalischen Familien- und Dorfstrukturen in Anatolien unangetastet und konnten in den traditionalistisch orientierten Migrantenkreisen in Deutschland fortleben.
In der Türkei wurde das Heiratsalter der Frauen bereits in den zwanziger Jahren per Gesetz auf 18 Jahre heraufgesetzt. Dessen ungeachtet werden die Mädchen auch heute noch entweder bereits im Babyalter "versprochen" oder häufig mit 15 und 16 Jahren per Zwang oder Arrangement verheiratet. Im Rahmen einer Untersuchung des Bundesministeriums für Familie sind 150 türkische Frauen befragt worden.
Auch heute - und ich betone, dies sind keine Ausnahmefälle - sind in diesen Kreisen Mädchen faktisch im Besitz der Väter und Brüder, man nennt sie die "Ehre der Familie" und passt auf sie auf. Ältere bestimmen über ihr Leben, entscheiden, ob sie zur Schule gehen und wen sie heiraten werden. So sollen nach einem Bericht der Zeitung "Milliyet" vom 19. April 2005 allein in Ost-Anatolien über 800 000 Mädchen zwischen 7 und 15 Jahren vom Schulbesuch ferngehalten werden, um im Haus oder in der Landwirtschaft zu arbeiten.
"Die Ehe ist im Islam kein Sakrament", schreibt die Islamwissenschaftlerin Ursula Spuler-Stegemann, "sondern ein zivilrechtlicher Vertrag zwischen zwei Familien." Und die Heirat ist in der türkisch-muslimischen Gesellschaft keine individuelle Angelegenheit. "Verheiratet die Ledigen!" steht im Koran, und die Familienoberhäupter nehmen diese Aufforderung ernst.
Diese Mentalität, das Festhalten am türkisch-muslimischen Common Sense in der Fremde, führt zu der Situation, die wir vermutlich heute in Deutschland bei mindestens der Hälfte der hier lebenden Türken haben. Sie leben in der Moderne, sind dort aber nie angekommen. Sie leben in Deutschland nach den Regeln ihres anatolischen Dorfes. Sie haben sich in ihren Glauben, in ihre Umma, eine Parallelwelt, zurückgezogen und reproduzieren sie, indem sie ihre Kinder mit Mädchen und Jungen ihrer alten Heimat verheiraten.
Die Folgen sind dramatisch: Mangelnde Individualisierung und Selbstverantwortung ziehen unter anderem auch mangelnden Bildungswillen nach sich. Wenn Eltern davon ausgehen, dass sie ihre Tochter mit 16 Jahren verheiraten, warum sollten sie dann in die Bildung dieses Kindes investieren, es das Abitur machen oder studieren lassen? Mangelnde Verantwortung für die Zukunft, mangelnde Investition in die Bildung ihrer Kinder reproduzieren immer wieder den eigenen sozialen Status. Und so relativiert sich auch die Mär von der türkischen Familie, in der alle so gut aufgehoben sind. Es handelt sich in vielen Fällen eher um ein Kontrollsystem, in dem die älteren Männer bestimmen und kontrollieren, was die Familienmitglieder zu tun und zu lassen haben. In diesem System herrscht das Prinzip des Respekts und der Ehre, ein Jüngerer hat dem Älteren nicht zu widersprechen, und die Frauen sind die "Ehre", sprich der Besitz der Männer und haben in der Öffentlichkeit nichts zu suchen. Die Familie ist kein System der Fürsorge, sondern eine Besitzanzeige. Im Zweifelsfall entscheidet wie im Dorf die Großmutter, ob es angemessen ist, dass die Enkelin zur Schule geht.
Das sind keine guten Voraussetzungen für eine Demokratie, denn die braucht mündige Bürger. Und so ist letztlich die Integration einer großen Zahl von Türken in Deutschland an der Frage der Gleichberechtigung der Frau gescheitert. Diese Erkenntnis ist umso bitterer, als in Deutschland in den letzten Jahrzehnten vielfältige Initiativen staatlicher und sozialer Politik darauf gerichtet waren, die Stellung der Frau zu verbessern. Diese Chance wird immer noch von zu wenigen genutzt. Die Männer befürchten, dass ihnen die Macht über die Frauen verloren geht. Sie folgen hier wie dort einem anderen Weltbild.
Die türkische Verfassung hatte die Verfassung der Schweiz zum Vorbild. Im Zuge der Reformen im Mai 2004 wurde der Artikel 10 geändert. Er heißt jetzt: "Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Der Staat ist verpflichtet, die Gleichheit zu verwirklichen." Dessen ungeachtet klafft eine große Lücke zwischen Verfassungstext und -wirklichkeit. Ich möchte aus soziologischer Sicht dafür eine Erklärung versuchen.
Dieser Widerspruch erklärt sich unter anderem aus der grundsätzlich anderen Auffassung von den Aufgaben und Funktionen des Staates und der Familie im traditionellen islamisch-türkischen Gesellschaftsmodell. Der Islam kennt keine Trennung von Staat und Politik. Die Gesellschaft ist vertikal strukturiert, in Männer und Frauen. Die Männer sind die Öffentlichkeit: die Politik, die Frauen die Privatheit: das Haus. Die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit ist Teil des traditionellen islamischen Weltbildes. Die Gesellschaft ist kein Ganzes, bestehend aus Männern und Frauen, sondern es gibt zwei Gesellschaften: die der Frauen und die der Männer. Wenn die Frau die Domäne der Männer, d.h. die Öffentlichkeit, betreten will, muss sie sich nach dieser Auffassung verschleiern, um die Öffentlichkeit, sprich die Männer, nicht zu stören. Frauen stören, weil sie eine ständige Verführung für den Mann sind, vor der dieser geschützt werden muss, weil er sich so schwer beherrschen kann.
Der Staat ist nach dieser Auffassung der Mann, er trägt Verantwortung für das Land und regelt den politischen und wirtschaftlichen Rahmen für seine Bürgerinnen und Bürger. Das Haus ist die Frau, sie soll im Haus Entscheidungen treffen, aber für das Haus trägt wiederum der Mann die Verantwortung. Er kann seine Kinder so erziehen, wie er möchte, und sie verheiraten, mit wem er will, der Staat mischt sich nicht ein. Wer in der Öffentlichkeit über die Angelegenheiten der Familie spricht, verletzt das Gesetz der Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen. Dieses vereinfacht dargestellte Weltbild wird ungebrochen gelebt, ganz gleich, welche Rechte es in der Verfassung gibt. Deshalb herrscht unter Nationalisten und Islamisten und in deren Presse auch so große Aufregung darüber, dass "Fremde" über die Armenienfrage oder Zwangsheirat, den Ehrenmord und Gewalt in der Familie diskutieren. Sie sind der Auffassung, das gehe keinen Fremden etwas an, eine Auffassung, die der von Max Frisch gegebenen Definition von Demokratie diametral entgegensteht: "Demokratie heißt, sich in seine eigenen Angelegenheiten einzumischen."
In modernen Gesellschaften trägt jeder für sich selbst Verantwortung. Dem Individuum wird zugestanden und von ihm wird verlangt, sein Handeln selbst zu verantworten, es dementsprechend zu kontrollieren. Moderne Gesellschaften sind dementsprechend horizontal strukturiert. In der vertikal strukturierten türkisch-islamischen Welt wird der Mensch hingegen als ein Sozialwesen verstanden, das sich nicht selbst, sondern der Gemeinschaft gehört. Er kann sich nicht kontrollieren, die Gemeinschaft trägt für ihn die Verantwortung: Der Ältere trägt sie für den Jüngeren, die Männer für die Frauen, das Familienoberhaupt für die ganze Familie.
Wenn ich von "dem" Islam spreche, begegne ich sofort einer Reihe von Einwendungen. Es gebe nicht "den" Islam, heißt es. Das ist zweifellos richtig - es gibt Schiiten, Sunniten, Aleviten, Wahabiten, unterschiedliche Rechtsschulen etc., es gibt den "Euro-Islam" wie den in Indonesien. Der Islam ist von seiner Anlage her keine Kirche, und es gibt die Herrschaft der Islamistischen Fundamentalisten ebenso wie die Auffassungen der Modernisierer wie beispielsweise Fatima Mernissi oder Youssef Seddik, der den Koran als zutiefst individualistische Metapher deutet.
Als Soziologin geht es mir nicht um eine theologische Diskussion. Ich betrachte das, was im Namen des Islam gelebt wird, deute Religion als kulturelle Dimension. Wie es eine christliche Lebenseinstellung, ein Grundverständnis von Ethik, einen Wertekanon im Christentum gibt, so gibt es auch im Islam diese kulturelle Dimension. Religion ist ein kulturelles System, das unserem Leben die Dimension des Transzendenten verleiht. Religion vermittelt eine allgemeine Seinsordnung, die über die soziale Wirklichkeit hinausgeht.
In der türkisch-islamischen Gesellschaft gibt es spezifische Menschen- und Weltbilder, die eng mit der Religion verbunden sind und von ihr legitimiert werden: Aus der Vorstellung der Umma leitet sich etwa ein soziales Leitkonzept von Gemeinschaftlichkeit ab, das der Gemeinschaft den Vorrang vor dem Individuum einräumt. Damit steht es im Gegensatz zur Vorstellung der Christen von der Einzigartigkeit des Individuums in Gesellschaften, das deren Übergang zur Demokratie erleichtert hat. Der Christenmensch wurde durch die Entdeckung des Gewissens zum verantwortlichen Einzelnen. Wer Verantwortung trägt, kann auch schuldig werden. Umgekehrt heißt das, dass es ohne Gewissen keine Verantwortung und damit keine Verantwortlichen gibt. Die Frage der Individuation ist von Gewissen, Moral und Werten nicht zu trennen - auch wenn wir das zuweilen vergessen mögen. Ohne diese hätten wir uns keine Gesetze, keine Verfassung, keine Grundrechte geben können.
Zwar haben sowohl die rechten wie die linken politischen Kräfte der türkischen Republik konsequent versucht, den Islam zurückzudrängen, aber sie haben es versäumt, dem Kollektivgedanken dieser Religion ein Konzept der Stärkung der individuellen Rechte und der individuellen Emanzipation entgegenzusetzen. Stattdessen füllten sie ihn - ganz nach Gusto - mit neuen kollektivistischen Konzepten wie der kommunistischen Revolution, dem kurdischen Separatismus und dem türkischen Nationalismus. Die türkische Verfassung betont im Artikel 1 den "Frieden der Gemeinschaft" und "den Nationalismus Atatürks", und auch die Grundrechte in Artikel 12
Dies mag ein Grund dafür sein, dass es bürgerliche oder liberale Parteien so schwer haben und dass nie wirklich eine Bürgerbewegung entstand. Es gelang den Kemalisten nicht, den Staat auch oder zuallererst als Schutzorganisation für die Rechte des Einzelnen zu definieren. Obwohl Atatürk den Islam hasste, leidet seine Idee der aufgeklärten Republik daran, dass er zwar den Staat säkularisierte, ihn aber nicht als eine Gemeinschaft von Individuen, sondern weiterhin als Kollektiv organisierte. Das Prinzip der Umma, der in sich und nach außen geschlossenen Gemeinschaft, wurde nicht in Frage, sondern auf den Kopf gestellt und zum Prinzip des Türkentums umgewandelt. Jedes türkische Kind spricht jeden Morgen, das heißt im Laufe seines Schullebens mindestens tausend Mal, diesen Eid: "Türküm, dogruyum,caliskanin: ... Ich bin Türke, ich bin ehrlich, ich bin fleißig. Mein Gesetz ist es, die, die kleiner sind als ich zu schützen und die, die größer sind, zu ehren, mein Land und meine Nation mehr als mich selbst zu lieben. Mein Ideal ist aufzusteigen und voranzukommen. Meine Existenz sei der Existenz des Türkentums geschenkt. ... Wie glücklich sind die, die sagen, ich bin Türke. ... Ne mutlu Türküm diyene.
Seit die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union zur Diskussion steht, vergeht kein Tag, an dem die Widersprüche und Probleme zwischen gesetzlichen Reformansprüchen und der Wirklichkeit nicht deutlich werden. Europa ist eine Herausforderung, Europa ist wieder eine Chance. 1923 hat sich die Türkei für Europa entschieden und seither ist sie auf dem Weg dorthin, auch wenn dies von vielen Kräften innerhalb der Türkei immer wieder in Frage gestellt wird.
Wenn diese Chance nicht vertan werden soll, dann muss die Türkei die Grundwerte des europäischen Gedankens akzeptieren: Anknüpfungspunkte dafür gibt es nicht nur auf der politischen Ebene, auf der die europäischen Staaten daran arbeiten, den Nationalismus zu überwinden, auch auf wirtschaftlicher Ebene ist die Türkei mit ihrer Dynamik sicher ein gleichberechtigter Partner. Viel entscheidender ist aber der Weg in die Europäische Union als kulturelles System: als Wertegemeinschaft. Ich gehe hier nicht auf die Auseinandersetzung ein, ob Europa ein "Christenclub" ist oder die türkische Republik mit dem schwarzen Tschador nach Europa segelt. Es geht mir um etwas anderes: 1923 wurde von der türkischen Republik ein zivilisatorischer Schritt vollzogen, der unumkehrbar sein muss: Die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf allen gesellschaftlichen Ebenen ist eine conditio sine qua non.
Wir haben uns in dieser Gesellschaft nicht mehr als Geschlechter, sondern als Partner und als Menschen zu begegnen. Die gesellschaftliche Verantwortung müssen Frauen wie Männer tragen. Es kann nicht sein, dass die Männer in der Öffentlichkeit stehen und im Namen der Frauen Gesetze verabschieden. Die Frauen müssen daran beteiligt sein. Diese Gesellschaft gehört uns allen und ist nicht mehr teilbar.
Wer aus gesellschaftlichen oder religiösen Traditionen und Gefühlen darauf beharrt, Frauen Verhaltensregeln aus dem 7. Jahrhundert aufzubürden, betrachtet den Menschen als nicht einzigartig und nicht gleichberechtigt. Wer mit der biologischen oder theologischen Minderwertigkeit der Frau argumentiert, will keine wirkliche Demokratie, auch wenn er demokratisch legitimiert ist. Und er wird in der Moderne scheitern, weil eine geteilte Gesellschaft keine verantwortungsbewussten Individuen hervorbringt.
Eine weitere zivilisatorische Errungenschaft ist die Regelung des gesellschaftlichen Lebens durch die demokratische Entscheidung über Gesetze. Nicht Gott macht die Gesetze, sondern die Menschen machen sie. Und diese Gesetze gelten für alle. Die Rechtsschulen des Islam akzeptieren dies nicht, für sie steht Gottes Offenbarung im Koran und der ist heilig. Die traditionell-gläubigen Muslims aber gehen davon aus, dass Gott selbst der Gesetzgeber ist, dass seine im Koran niedergelegten Offenbarungen Gesetzeskraft haben und es keinen "säkularen" Lebensbereich gibt.
Viele glauben, sie könnten auch in Europa nach dem Gesetz des Islam - der Scharia - leben. Die Scharia bestimmt bis heute den Erziehungsgedanken vieler muslimischer Menschen. Es wird dabei vom grundsätzlichen Gedanken ausgegangen, das der Islam "Hingabe" oder auch "Unterwerfung" bedeutet. Die Scharia ist ein Vergeltungsrecht, das körperliche Schmerzen für ein Vergehen verlangt. Ein Beispiel sei angeführt: Ehebruch ist nach der Scharia ein Hadd-Vergehen, ein Grenzvergehen. Wer Ehebruch begeht, verletzt nicht das Recht eines Menschen, sondern Gottes Recht. Mit den Schuldigen gibt es laut Sure 24, Vers 2 kein Mitleid: 100 Peitschenhiebe oder Steinigung gibt der Koran als Vergeltung vor. Andererseits gehört die Tötung eines Menschen - auch der vorsätzliche Mord - nicht zu den Kapitalverbrechen, sondern zu den Qisas-Vergehen, den Verbrechen mit der Möglichkeit der Wiedervergeltung. Koran Sure 17, Vers 33: "Wurde aber jemand zu Unrecht getötet, geben wir dem nächsten Verwandten Vollmacht (zur Vergeltung)."
Hier handelt es sich um nichts weniger als um die Legitimation der Blutrache. Wer sich mit Berufung auf seine Religion so von einer rechtsstaatlichen Vorstellung von Sühne und Strafe lossagt, kann in einer demokratischen Gesellschaft nicht ankommen. Es ist nicht glaubwürdig, einerseits Reformen zu beschließen und andererseits den immer stärker werdenden Islamisten und ihrem Rechtsverständnis nicht entgegenzutreten.
Die organisierten Muslime haben, wenn sie in der demokratischen Gesellschaft als gleichberechtigte Partner akzeptiert werden wollen, eine Bringschuld: auch in Deutschland. Sie müssen nicht nur die Verfassung akzeptieren, sondern sich in Wort und Tat von den Prinzipien der Scharia lossagen. Der politische Islam versteht sich blendend darauf, Grundrechte wie das der Religionsfreiheit unserer Gesellschaft zu benutzen, um ihre kollektivistischen Ideen unter dem Schleier der Persönlichkeitsrechte durchzusetzen. Die Debatte um das Kopftuch ist dafür nur ein Beispiel.
Die türkische Regierung hätte über ihr Amt für Religion eine hervorragende Möglichkeit, dieses Reformwerk - die öffentliche Abwendung von den Prinzipien der Scharia - anzustoßen. Dazu könnte auch gehören, dass die nach Deutschland entsandten Imame Deutsch lernen und die im Zuwanderungsgesetz vorgesehenen Orientierungskurse besuchen. Die türkischen und die islamischen Organisationen, die Kultur- und Moscheevereine könnten einen wichtigen Beitrag zur Individuation und der Verwirklichung der Menschenrechte gerade für junge Frauen leisten, wenn sie die Praxis der Zwangsheirat ächteten, Aufklärung unter ihren Mitgliedern betrieben und sie dabei unterstützten, die Sprache dieses Landes zu lernen. Auch hier steht meines Erachtens die Reformwilligkeit der türkischen Regierung auf dem Prüfstand. Wer, wenn nicht eine islamisch geprägte Regierung, könnte kraft ihres Amtes eine Reform des Islam hin zu mehr persönlicher Freiheit befördern? Es geht auf dem Weg nach Europa nicht darum, "Türken-Politik" oder "islamische Politik" zu betreiben, sondern darum, am gemeinsamen europäischen Haus zu bauen.
Ich habe die Hoffnung, dass die in Deutschland lebenden Muslime und Türken erkennen, welche Möglichkeiten und persönliche Sicherheiten ihnen eine säkularisierte Gesellschaft bietet. Ich erlebe jeden Tag, wie türkische Frauen den Mut fassen und die Freiheit als ihre Chance begreifen, ein gleichberechtigtes Leben zu führen. Diese Frauen brauchen Ermutigung und Unterstützung. Jede oder jeder soll seine Religion und Kultur leben - solange sie oder er die Rechte der oder des Einzelnen achtet und akzeptiert, dass der Glaube eine persönliche Sache ist.
Die Akzeptanz der Gleichberechtigung von Mann und Frau und die grundsätzliche Distanzierung von der Scharia sind Grundvoraussetzungen für ein gemeinsames Europa. Was der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder Anfang Mai 2005 anlässlich seines Besuches in der Türkei anmahnte, ist richtig. Er forderte einen "Mentalitätswandel", damit die Integration gelingen kann. Ich verstehe das folgendermaßen:
Es reicht nicht, Gesetze zu ändern und Bekenntnisse abzulegen, es muss sich vor allem in den Einstellungen der Menschen etwas ändern. Die türkische Republik kommt nicht daran vorbei, den Schritt aus dem Kollektivismus des Kemalismus hin zur europäischen Bürgergesellschaft zu tun. Die Türkinnen und Türken dürfen sich nicht nur als Nation, sondern jeder und jede Einzelne muss sich als freier Mensch begreifen, der Verantwortung für sich, die Türkei und die europäische Gemeinschaft übernimmt. Und die in Deutschland lebenden Türken müssen dieses Land als ihr Land akzeptieren. Dies mit allen Kräften zu unterstützen ist die große Chance, die Europa den türkischen Männern und Frauen bieten kann.
Anders als meine Eltern und meine Geschwister bin ich in Deutschland geblieben. Mein Vater, der als Erster hierher gekommen war, kehrte auch als Erster wieder in die Türkei zurück. Ihm ist es trotz guten Willens nicht gelungen, seine Freiheit zu nutzen. Ich will nicht behaupten, dass der individuelle Weg einfach ist. Er fordert den Einzelnen in seiner ganzen Persönlichkeit.
In der Bundesrepublik Deutschland leben zur Zeit ca. 2,6 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger türkischer Herkunft. Ein großer Teil von ihnen ist integriert, hat die Chancen dieser Gesellschaft ergriffen, viele haben diese als ihre Gesellschaft angenommen. Ein anderer Teil hat sich in eine Parallelgesellschaft zurückgezogen. Schätzungen zufolge handelt es sich um eine Gruppe von einer Million Menschen, die einer Integration in die europäische Gesellschaft ablehnend gegenüberstehen. Sie wollen weiter nach ihren Traditionen leben, dabei aber auf den Sicherheit bietenden Sozialstaat nicht verzichten.
Weil die Integration dieser unter uns lebenden Muslime und Türken so schwer ist, ahnen wir, wie groß die Aufgabe der Integration der Türkei in die Europäische Union noch werden wird. Es führt kein Weg daran vorbei, wir - und damit meine ich die Demokraten hier und in der Türkei - müssen auf den Prinzipien der Gleichberechtigung und Rechtsstaatlichkeit, des Schutzes und der Verwirklichung der Grundrechte des Einzelnen, nicht zuletzt auf dem Prinzip der Eigenverantwortung bestehen. Hier liegt die Chance für die Türkei, für die Türken in Deutschland und deren Integration.