Einleitung
"Parallelgesellschaften" ist ein Begriff, der seit einiger Zeit immer wieder in den Medien auftaucht, meist im Zusammenhang mit verstörenden Ereignissen wie Ehrenmorden oder anderen Gewaltverbrechen, in die Migranten verwickelt sind. Mit diesem Terminus wird allgemein ein Scheitern der Integration von Zuwanderern und der multikulturellen Gesellschaft insgesamt assoziiert.
Eine Diskussion darüber, was unter "Parallelgesellschaften" eigentlich zu verstehen ist, findet in der Öffentlichkeit kaum statt.
Mit der Verwendung des Begriffs etwa im Zusammenhang mit Ehrenmorden werden Einzelfälle verallgemeinert. Die gesamte türkische oder muslimische Bevölkerung erscheint dadurch in einem negativen Licht. Als Ursache für diese Vorfälle werden umstandslos Parallelgesellschaften ausgemacht, wobei offen bleibt, was darunter genau zu verstehen ist.
Ein Aspekt dieses undifferenzierten Bildes von Parallelgesellschaften ist die Vorstellung, dass es sich bei den sozialen Netzwerken türkischer Migrantinnen und Migranten um große, weitläufige und ethnisch homogene Netzwerke mit Community-Strukturen handelt. Am Beispiel von Ergebnissen aus einem Forschungsprojekt möchten wir deshalb der Frage nachgehen, ob die sozialen Netzwerke von türkischen MigrantInnen der zweiten Generation diese großen, clan-ähnlichen Netzwerkstrukturen aufweisen und ob Tendenzen der Abschottung` bei den Migrantinnen und Migranten vorzufinden sind.
Das Forschungsprojekt beschäftigte sich mit der Integration von türkischen Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation. Befragt wurden 55 Personen mit überwiegend niedrigen Schulabschlüssen (Hauptschulabschluss), die in zwei typischen Migrantenvierteln Hannovers leben - einer peripher gelegenen Großsiedlung der siebziger Jahre und einem innenstadtnahen Altbauquartier. Themen der Interviews waren neben der Einbindung in soziale Netzwerke die Biographien auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt. Im folgenden Kapitel werden die sozialen Beziehungen der Befragten - es geht um die auffälligsten gemeinsamen Eigenschaften - beschrieben; danach werden Leistungsfähigkeit und Auswirkungen der sozialen Beziehungen auf die Integration und Chancen in anderen Lebensbereichen abgeschätzt. In einem weiteren Kapitel geht es um die Frage, welche Erklärungen sich für die Netzwerkeigenschaften finden, und abschließend wird resümiert, welche Verbindungen zwischen den empirischen Ergebnissen und dem Begriff der "Parallelgesellschaften" bestehen.
Soziale Netzwerke türkischer Migranten und Migrantinnen
Freundschaften, Familie, Kontakte zu Nachbarn oder am Arbeitsplatz - soziale Netzwerke erfüllen Funktionen, die mit Pierre Bourdieu als "soziales Kapital" bezeichnet werden können. Darunter sind sämtliche materiellen Leistungen und Ressourcen zu verstehen, "die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen".
Im Folgenden geht es zunächst um die auffälligsten Gemeinsamkeiten der sozialen Netzwerke von Migranten: Familienzentriertheit, ethnische und soziale Homogenität und Lokalität.
Familienzentriertheit
Die überwiegende Mehrheit der von uns befragten Migrantinnen und Migranten besitzt ein kleines familienzentriertes Netzwerk, das heißt ihr soziales Netz besteht hauptsächlich aus der Kern- und Herkunftsfamilie. Zudem spielen angeheiratete Familienangehörige wie die Ehepartner der Geschwister eine relevante Rolle. Insgesamt gibt es in unserem Sample lediglich vier Fälle, in denen die familiären Kontakte in der sozialen Dimension unerheblich sind; dabei handelt es sich um Resultate langwieriger Konflikte oder großer räumlicher Entfernungen zur Familie.
Eine Minderheit der Migranten hat neben familiären Kontakten noch Freunde; diese außerfamiliären Kontakte sind hinsichtlich der Kontakthäufigkeit weniger intensiv als die familiären Kontakte. Selten können die Migranten außerfamiliäre Kontakte über einen längeren Zeitraum hinweg aufrechterhalten. Während in der Schul- und Ausbildungsphase noch außerfamiliäre und interethnische Kontakte bestanden, nimmt die Anzahl dieser Kontakte nach der Heirat und dem ersten Kind ab. Dies ist ein Schrumpfungsprozess, der - unabhängig von der ethnischen Herkunft einer Person - in der Familiengründungsphase häufig zu beobachten ist.
Mit den Ergebnissen zur Kontakthäufigkeit korrespondiert, dass familiäre Kontakte von den Migranten als intensiver, stabiler und verlässlicher als die außerfamiliären wahrgenommen werden. Dies zeigt sich auch in ihren Leistungen: In materieller Hinsicht ist für die Migranten die Familie die wichtigste Anlaufstation. So leihen sie sich in finanziellen Notlagen oftmals Geld von Familienmitgliedern und wohnen nach der Heirat in der Regel zunächst bei ihren Eltern, bis sie sich eine eigene Wohnung leisten können. Auch im Alltag ist die Familie eine wichtige Stütze, so beispielsweise bei der Kinderbetreuung. Die Familie bietet den Migranten aber nicht nur materielle Sicherheit und Hilfe, sie erfüllt auch wichtige emotionale Bedürfnisse. Es ist deshalb für viele der von uns Befragten nicht vorstellbar, ihre Eltern oder Geschwister über einen längeren Zeitraum nicht zu sehen oder weit entfernt von der Familie zu wohnen.
Die Familienzentriertheit der sozialen Netze von Migranten wird durch ihr Heiratsverhalten verstärkt. Zwei Drittel unseres Samples haben transnational geheiratet, das heißt der Ehepartner oder die Ehepartnerin ist erst nach der Heirat nach Deutschland gekommen. Bei über der Hälfte der transnationalen Ehen handelt es sich um einen direkten Verwandten des Befragten. Durch die Heirat innerhalb der Verwandtschaft findet keine Erweiterung der bestehenden Netze um außerfamiliäre Kontakte statt.
Soziale und ethnische Homogenität
Neben der Familienzentriertheit sind soziale und ethnische Homogenität weitere Gemeinsamkeiten der sozialen Netze der Migranten. Ihre Netzwerkbeziehungen sind im Wesentlichen auf Kontakte zu Personen mit gleichem sozioökonomischen Status, beruflichem Qualifikationsniveau und gleicher ethnischer Herkunft beschränkt. Während die Berufstätigen hauptsächlich Kontakte zu anderen Berufstätigen haben, sind die Freunde der Arbeitslosen häufig selber arbeitslos.
Lediglich acht Migranten des Samples haben außer türkischen noch Freunde anderer Nationalitäten. Die interethnischen Freundschaften stammen überwiegend aus Schul- und Arbeitskontexten. Aber auch bei den Migranten mit ethnisch heterogenen Netzwerken sind die engsten Freunde größtenteils türkischer Herkunft, während sich Deutsche eher in der Peripherie der Netzwerke befinden.
Die soziale Homogenität der Netzwerke der Migranten lässt sich vor allem mit dem Ursprung ihrer Kontakte begründen: Die Kontakte sind entweder familiär - und somit in unserem Sample per se sozial homogen - oder es sind aufrechterhaltene Bindungen aus der Haupt- bzw. Realschule. In wenigen Fällen kommen noch Kontakte aus Arbeit oder Ausbildung hinzu.
Lokalität
Die dritte Gemeinsamkeit ist die Lokalität der sozialen Netzwerke. Die Wohnung liegt meist in fast fußläufiger Entfernung zu Eltern und Geschwistern. Neben der herausragenden Rolle der räumlichen Nähe zur Herkunftsfamilie ist auch die Nähe zu Freunden relevant: Da die Pflege von Kontakten außerhalb des Stadtteils mit mehr Aufwand und Planung verbunden ist, sind die Beziehungen sehr distanzempfindlich; Kontakte außerhalb des Stadtteils werden seltener aufrechterhalten. Eine geringe räumliche Distanz ist somit die Voraussetzung für die Persistenz der sozialen Beziehungen.
Folgen der Netzwerkeigenschaften für die Integration
Welche Konsequenzen haben nun Familienzentriertheit, soziale/ethnische Homogenität und Lokalität der sozialen Netzwerke der Migrantinnen und Migranten auf ihr soziales Kapital, und was leisten die Netzwerke im Hinblick auf ihre Integration?
Die Familie hat für die Migranten eine unerlässliche Unterstützungsfunktion, sie ist ein Netz, das vor materieller Not und sozialer Isolation schützt. Zugleich ist sie aber auch ein Käfig, da sie die Optionen einschränkt und die Ressourcen, die sie zur Verfügung stellen kann, eng begrenzt sind.
Die Begrenztheit der Ressourcen und die Ambivalenz des großen Einflusses der Familie zeigen sich vor allem hinsichtlich der Integration in den Arbeitsmarkt: Erstens haben die befragten Migrantinnen und Migranten von ihren Eltern keine ausreichende Unterstützung während ihrer Schulausbildung erfahren. Dies ist zum einen auf die fehlenden Sprachkenntnisse der Eltern, aber auch auf deren Unkenntnis des deutschen Schulsystems und der Relevanz von Schul- und Berufsausbildung in Deutschland zurückzuführen.
Zweitens drängt - korrespondierend mit dieser Unkenntnis - die erste Generation ihre Kinder zu einer frühen Heirat, wobei die Ehepartnerinnen und -partner zum Zeitpunkt der Eheschließung meist noch in der Türkei leben. Die frühe Heirat verhindert oft eine Berufsausbildung, da die Männer in ihrer Ausbildungszeit zu wenig verdienen würden, um eine Familie zu ernähren, und die Frauen für die Kinderbetreuung zuständig sind. Das transnationale Heiratsverhalten hat zudem zur Folge, dass die Chance auf eine Vergrößerung des sozialen Kapitals in Deutschland vergeben wird, da der zugereiste Ehepartner in Deutschland kaum nützliche Kontakte in die Ehe einbringen wird. Hier gibt es Anzeichen eines Phänomens, das Alejandro Portes und Julia Sensenbrenner als "enforceable trust" bezeichnet haben:
Auch in Bezug auf eine längerfristige Integration ist das Heiratsverhalten kritisch einzuschätzen. Die Kinder dieser Ehepaare bilden keine dritte Generation, sondern eher eine Generation "zweieinhalb". Insbesondere in den Fällen, in denen die Frau aus der Türkei nachgekommen ist, ist zu vermuten, dass die Kinder ausschließlich mit der türkischen Sprache aufwachsen. Wie die Angehörigen der ersten Generation haben auch diese Mütter in der Regel keine Kenntnis vom deutschen Schul- und Berufssystem und können folglich ihre Kinder nicht unterstützen. Die Folge ist eine zumindest verlangsamte Integration.
Drittens verfügt die erste Generation über wenige und nur eingeschränkt leistungsfähige Kontakte zum Arbeitsmarkt. Sie hat lediglich Zugang zu den Bereichen, in denen sie selbst beschäftigt war, und hierbei handelt es sich fast ausschließlich um das untere Arbeitsmarktsegment. Das hat fatale Folgen: Während die erste Generation - etwa durch Fabrikarbeit im unteren Segment - noch integriert war, gilt das heute nicht mehr. In diesem Bereich überwiegen mittlerweile prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die einen typischen Übergang zu einer langfristigen Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt bilden.
Auch besitzen die befragten Migrantinnen und Migranten nur kaum soziales Kapital, das ihnen Zugang zu den oberen Segmenten des Wohnungsmarktes verschaffen würde. Hinsichtlich der Wohnsituation erhält aber die räumliche Distanz zur Familie ein größeres Gewicht: Um in der Nähe ihrer Eltern und Geschwister leben zu können, nehmen die Migranten auch Nachteile wie eine qualitativ minderwertige Wohnung oder das Leben in einem stigmatisierten Stadtteil in Kauf. Damit bestimmt nicht die ethnische Segregation, sondern die Nähe zur Familie den Wohnort der Migrantinnen und Migranten. Lediglich für jene, die im Altbauquartier leben, spielt die ethnische Segregation ihres Quartiers eine positive Rolle - wenngleich die bestehende soziale Kontrolle negativ eingeschätzt wird. Somit sind unsere Ergebnisse zur ethnischen Segregation und zur Community-Bildung relativ unspektakulär.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Familie eine eher ambivalente Wirkung auf die Integrationschancen der zweiten Generation hat, da sie nur in einem begrenzten Umfang soziales Kapital zur Verfügung stellen und ihr Einfluss die Optionen der Migranten beeinträchtigen kann. Eine Folge der Familienzentriertheit und des transnationalen Heiratsverhaltens der Migrantinnen und Migranten ist ein sozial und ethnisch homogenes Netz.
Ethnisch heterogene Netze mit Kontakten zu Deutschen gelten im Allgemeinen als Indikator für die gelungene Integration von Migranten.
In unserer Studie bestätigen sich die Annahmen über die Leistungsfähigkeit sozial heterogener Netzwerke: Migranten, die sich in sozial heterogenen Netzwerken bewegten, waren häufiger in der Lage, über direkte oder indirekte Beziehungen Kontakte zu Gatekeepern aufzunehmen, die bei der Arbeitssuche entscheidend waren. Sie waren auf dem Arbeitsmarkt letztendlich erfolgreicher als diejenigen mit sozial homogenen Netzwerken.
Die zweite Vermutung, derzufolge ethnische Heterogenität einen positiven Einfluss auf das soziale Kapital hat, kann nach unseren Ergebnissen dagegen nicht bestätigt werden. So hatten die wenigen Migranten mit einem ethnisch heterogenen Netz nicht mehr Ressourcen oder bessere Zugänge zum Arbeitsmarkt als jene mit ethnisch homogenen Netzen. Dieses Ergebnis erklärt sich mit einem Blick auf die sozioökonomischen Eigenschaften der Deutschen in den heterogenen Netzwerken. Ethnisch heterogene Netzwerke sind ebenso sozial homogen wie ethnisch homogene Netze und daher nicht unbedingt leistungsfähiger. Im Gegenteil: Ein ethnisch homogenes Netz bietet unter Umständen bessere Ressourcen als ein ethnisch heterogenes. Bei der Vermittlung von Informationen über Arbeitsmöglichkeiten haben sich beispielsweise die ethnisch homogenen Kontakte der von uns befragten Migrantinnen und Migranten als nützlicher erwiesen. Entscheidender Faktor für die Leistungsfähigkeit und das soziale Kapital der Netzwerkbeziehungen ist somit eher die soziale Schicht als die ethnische Zugehörigkeit. Dass hingegen auch in den sozial heterogenen und damit leistungsfähigeren Netzwerken selten Kontakte zu Gatekeepern oder anderen Entscheidungsträgern bestehen, zeugt vom insgesamt eher schwachen sozialen Kapital, das den Migranten zur Verfügung steht.
Erklärungen für die Netzwerkeigenschaften
Fasst man die Ergebnisse zusammen, ergeben sich aus den sozialen Netzwerken neben beschränkten Ressourcen auch Restriktionen, durch welche sich die Integration verlangsamen kann. Wie lassen sich die Eigenschaften der Netzwerke von Migranten erklären?
Die Ursachen für Größe, Zusammensetzung und Leistungsfähigkeit der sozialen Netzwerke sind vielfältig: Der Migrationshintergrund der Interviewten hatte zur Folge, dass das Netz im Aufnahmeland zunächst extrem klein war und die Familie in dieser Situation eine besondere Relevanz erhielt. Im Zuge der Migration von der Türkei nach Deutschland blieb den Migrantinnen und Migranten in der Regel nur der engste Familienkern von Eltern und Geschwistern. Zugleich konnten die Eltern der zweiten Generation meist nur wenige Kontakte in Deutschland aufbauen. Dies hatte zur Folge, dass ihre Kinder überwiegend im kleinen Familienkreis aufwuchsen.
Auch eine kulturell begründete Distanz gegenüber Deutschen, die ein Teil der Befragten äußert, trägt zur Familienzentrierung und zur ethnischen Homogenität bei. Andere Lebensgewohnheiten und ein anderes Verständnis der Freizeitgestaltung werden als Erklärungen dafür genannt, die freie Zeit lieber mit Angehörigen der eigenen ethnischen Gruppe zu verbringen. Wie aus Studien bekannt ist, spiegelt die soziale Distanz der türkischen Migranten gegenüber Deutschen die soziale Distanz der Deutschen gegenüber Türken wider. So gaben nach einer repräsentativen Umfrage über die Hälfte der deutschen Befragten an, sie hätten eine große soziale Distanz gegenüber Türken.
Fazit: Türkische Parallelgesellschaft?
Bezug nehmend auf unsere zu Beginn des Beitrages formulierte Fragestellung lässt sich das gängige, in den Medien reproduzierte Bild von türkischen Clans mit großen, weitläufigen sozialen Netzwerken, die räumlich, sozial und kulturell abgeschottet sind, durch unsere Forschungsergebnisse nicht bestätigen. Der in den Medien kursierende Begriff der Parallelgesellschaft taucht zwar gelegentlich auch in soziologischen Kontexten auf,
Auf der räumlichen Ebene von Stadtvierteln ist eine solche Unabhängigkeit ebenfalls nicht zu erwarten: Die ethnisch segregierten Stadtviertel können fehlende Ressourcen der sozialen Netze nur zum Teil ausgleichen. Zwar bieten segregierte Quartiere meist mehr Gelegenheiten für Jobs in der ethnischen Ökonomie; ausschlaggebender für eine erfolgreiche Integration ist aber neben einer generellen - das heißt nicht zwingend ethnischen - funktionalen Mischung die soziale Mischung im Quartier. Die Migrantinnen und Migranten im sozial gemischten Altbauquartier verfügten insgesamt über ein höheres soziales Kapital, von dem sie bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche profitieren konnten. Dieses Kapital zeigt sich weniger in engen Netzwerkverbindungen als in weitläufigen und relativ oberflächlichen Bekanntschaften - ein Phänomen, das Mark Granovetter als "strength of weak ties" tituliert hat.
Eine soziale und eine funktionale Mischung sind in ethnisch segregierten Quartieren nicht selbstverständlich; hierfür spielen Lage, Architektur, Bausubstanz und Geschichte des jeweiligen Quartiers eine wesentliche Rolle. Vor allem aber zeigen die Ergebnisse, dass die ethnische Gemeinschaft nicht solche Strukturen aufweist und Ausmaße annimmt, dass ein völliger Rückzug für türkische Migranten eine Option wäre. Wenn überhaupt, so findet ein Rückzug in die Kleinfamilie statt. Bezogen auf dieses Ergebnis, wäre sogar die Schlussfolgerung nahe liegend, die türkischen Migranten verfügten über zu geringe Community-Strukturen, da ein höherer Grad an eigenständiger Ökonomie etwa eine sozioökonomische Verbesserung zur Folge haben sollte.
Die ethnische Segregation hat sich in unserer Studie als wenig bedeutend herausgestellt. Demgegenüber können die ethnische Homogenität der sozialen Netzwerke, die von einigen der Befragten geäußerte kulturell begründete Distanz zu Deutschen und vor allem das transnationale Heiratsverhalten als Hinweise auf eine Isolierung türkischer Netzwerke interpretiert werden. Während sich die ethnisch homogenen Netzwerke als ressourcenreicher herausstellen als ethnisch heterogene, erschwert das Heiratsverhalten nicht nur die Integration der Migranten in den Arbeitsmarkt, sondern kann auch Einfluss auf die Deutschkenntnisse ihrer Kinder haben. Ob dieser Befund ausreicht, um eine Parallelgesellschaft auszurufen, erscheint fragwürdig. Er verweist allerdings auf ein verschärftes, dauerhaftes Ausgrenzungsrisiko der Migranten und ihrer Nachfolgegenerationen in unserer Gesellschaft und hier vor allem im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt.
Neben einer Verbesserung der Bildungschancen von Einwandererkindern ist jedoch nicht zuletzt der politisch-mediale Diskurs über ethnische Minderheiten im Zusammenhang mit deren gesellschaftlicher Akzeptanz von Bedeutung. Wie in der eingangs beschriebenen Alltagsdefinition` deutlich wird, bezieht sich der Begriff der Parallelgesellschaft auf eine spezifische Gruppe: die der türkischen/muslimischen Minderheit. Wendet man die Kriterien der räumlichen, kulturellen und sozialen Abschottung aber auf alle in Frage kommenden Gruppen an, zeigt sich, dass es in der Gesellschaft durchaus auch andere Gruppen gibt, die das Etikett Parallelgesellschaft` tragen könnten. Josef Eckert und Mechthilde Kißler beschreiben beispielsweise eine weitgehende Isolierung der linksalternativen Szene im Kölner Stadtviertel Ehrenfeld.
Findet jedoch, wie im derzeitigen politisch-medialen Diskurs, der Begriff Parallelgesellschaften nur auf türkische oder muslimische Minderheiten Anwendung, erhält er auf der symbolischen Ebene eine ausgrenzende Bedeutung. Dass mit kultureller und religiöser Vielfalt auch ganz anders umgegangen werden kann, zeigt das Beispiel der kanadischen Stadt Toronto, die zu den ethnisch heterogensten Städten der Welt gehört. Die wachsende kulturelle Vielfalt wird durch die offizielle kanadische Politik der Einheit-in-Verschiedenheit (unity-within-diversity), die auf der Grundlage einer gemeinsamen Verfassung und gemeinsamer Gesetze auf das Prinzip der kulturellen Gleichwertigkeit und gegenseitiger Toleranz abzielt, gefördert.