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Soziale Netzwerke türkischer Migrantinnen und Migranten | Parallelgesellschaften? | bpb.de

Parallelgesellschaften? Editorial Abschottung von Muslimen durch generalisierte Islamkritik? Soziale Netzwerke türkischer Migrantinnen und Migranten Parallelgesellschaft und ethnische Schichtung Die muslimische Frau in der Moderne Türkische Bräute und die Migrationsdebatte in Deutschland

Soziale Netzwerke türkischer Migrantinnen und Migranten

Andrea Janßen Ayça Polat Andrea Janßen · Ayça Polat

/ 17 Minuten zu lesen

Es wird gefragt, ob die sozialen Netzwerke türkischer Migranten clan-ähnliche Strukturen aufweisen und ob es Tendenzen einer Abschottung gibt, wie sie in der öffentlichen Debatte mit dem Begriff "Parallelgesellschaften" assoziiert werden. Die Ergebnisse des dem Beitrag zugrunde liegenden Projektes bestätigen dies nicht.

Einleitung

"Parallelgesellschaften" ist ein Begriff, der seit einiger Zeit immer wieder in den Medien auftaucht, meist im Zusammenhang mit verstörenden Ereignissen wie Ehrenmorden oder anderen Gewaltverbrechen, in die Migranten verwickelt sind. Mit diesem Terminus wird allgemein ein Scheitern der Integration von Zuwanderern und der multikulturellen Gesellschaft insgesamt assoziiert.

Eine Diskussion darüber, was unter "Parallelgesellschaften" eigentlich zu verstehen ist, findet in der Öffentlichkeit kaum statt. Ähnlich wie der Begriff "Leitkultur" ist der der "Parallelgesellschaft" längst zur Phrase mutiert, derer man sich unreflektiert bedient und über deren Inhalt keine Klarheit herrscht. Das vorherrschende Bild von Parallelgesellschaften ist eher diffus und zeigt eine räumliche, soziale und kulturelle Abschottung vornehmlich der türkischen und/oder muslimischen Bevölkerung in Deutschland.

Mit der Verwendung des Begriffs etwa im Zusammenhang mit Ehrenmorden werden Einzelfälle verallgemeinert. Die gesamte türkische oder muslimische Bevölkerung erscheint dadurch in einem negativen Licht. Als Ursache für diese Vorfälle werden umstandslos Parallelgesellschaften ausgemacht, wobei offen bleibt, was darunter genau zu verstehen ist.

Ein Aspekt dieses undifferenzierten Bildes von Parallelgesellschaften ist die Vorstellung, dass es sich bei den sozialen Netzwerken türkischer Migrantinnen und Migranten um große, weitläufige und ethnisch homogene Netzwerke mit Community-Strukturen handelt. Am Beispiel von Ergebnissen aus einem Forschungsprojekt möchten wir deshalb der Frage nachgehen, ob die sozialen Netzwerke von türkischen MigrantInnen der zweiten Generation diese großen, clan-ähnlichen Netzwerkstrukturen aufweisen und ob Tendenzen der Abschottung` bei den Migrantinnen und Migranten vorzufinden sind.

Das Forschungsprojekt beschäftigte sich mit der Integration von türkischen Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation. Befragt wurden 55 Personen mit überwiegend niedrigen Schulabschlüssen (Hauptschulabschluss), die in zwei typischen Migrantenvierteln Hannovers leben - einer peripher gelegenen Großsiedlung der siebziger Jahre und einem innenstadtnahen Altbauquartier. Themen der Interviews waren neben der Einbindung in soziale Netzwerke die Biographien auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt. Im folgenden Kapitel werden die sozialen Beziehungen der Befragten - es geht um die auffälligsten gemeinsamen Eigenschaften - beschrieben; danach werden Leistungsfähigkeit und Auswirkungen der sozialen Beziehungen auf die Integration und Chancen in anderen Lebensbereichen abgeschätzt. In einem weiteren Kapitel geht es um die Frage, welche Erklärungen sich für die Netzwerkeigenschaften finden, und abschließend wird resümiert, welche Verbindungen zwischen den empirischen Ergebnissen und dem Begriff der "Parallelgesellschaften" bestehen.

Soziale Netzwerke türkischer Migranten und Migrantinnen

Freundschaften, Familie, Kontakte zu Nachbarn oder am Arbeitsplatz - soziale Netzwerke erfüllen Funktionen, die mit Pierre Bourdieu als "soziales Kapital" bezeichnet werden können. Darunter sind sämtliche materiellen Leistungen und Ressourcen zu verstehen, "die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen". Das Besondere am sozialen Kapital besteht aber in dessen Konvertierbarkeit in ökonomisches oder kulturelles Kapital. Der Kontakt zu den richtigen` Leuten fördert die Arbeitskarriere, erleichtert den Erwerb von in bestimmten Gruppen üblichen, distinktiven Verhaltensweisen usw. Bourdieus Konzept des sozialen Kapitals thematisiert allerdings keine marktfernen Leistungen von sozialen Beziehungen. Diese bilden neben den konvertierbaren Ressourcen die zweite wichtige Funktion sozialer Netzwerke. Emotionale Unterstützung in Gestalt von Zuneigung und Akzeptanz sowie die Möglichkeit der Kommunikation fördern die psychische Stabilität; die Einbindung in den Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis vermittelt ein Gefühl des Beheimatetseins. Letzterer Aspekt ist gerade bei Migranten von großer Bedeutung, da diese ein Gefühl der Zugehörigkeit seltener über kulturelle Gemeinsamkeiten oder eine räumliche Bindung entwickeln können.

Im Folgenden geht es zunächst um die auffälligsten Gemeinsamkeiten der sozialen Netzwerke von Migranten: Familienzentriertheit, ethnische und soziale Homogenität und Lokalität.

Familienzentriertheit

Die überwiegende Mehrheit der von uns befragten Migrantinnen und Migranten besitzt ein kleines familienzentriertes Netzwerk, das heißt ihr soziales Netz besteht hauptsächlich aus der Kern- und Herkunftsfamilie. Zudem spielen angeheiratete Familienangehörige wie die Ehepartner der Geschwister eine relevante Rolle. Insgesamt gibt es in unserem Sample lediglich vier Fälle, in denen die familiären Kontakte in der sozialen Dimension unerheblich sind; dabei handelt es sich um Resultate langwieriger Konflikte oder großer räumlicher Entfernungen zur Familie.

Eine Minderheit der Migranten hat neben familiären Kontakten noch Freunde; diese außerfamiliären Kontakte sind hinsichtlich der Kontakthäufigkeit weniger intensiv als die familiären Kontakte. Selten können die Migranten außerfamiliäre Kontakte über einen längeren Zeitraum hinweg aufrechterhalten. Während in der Schul- und Ausbildungsphase noch außerfamiliäre und interethnische Kontakte bestanden, nimmt die Anzahl dieser Kontakte nach der Heirat und dem ersten Kind ab. Dies ist ein Schrumpfungsprozess, der - unabhängig von der ethnischen Herkunft einer Person - in der Familiengründungsphase häufig zu beobachten ist. Weil Migranten besonders früh heiraten, setzt der Schrumpfungsprozess der Netzwerke bereits im Alter von Anfang zwanzig ein.

Mit den Ergebnissen zur Kontakthäufigkeit korrespondiert, dass familiäre Kontakte von den Migranten als intensiver, stabiler und verlässlicher als die außerfamiliären wahrgenommen werden. Dies zeigt sich auch in ihren Leistungen: In materieller Hinsicht ist für die Migranten die Familie die wichtigste Anlaufstation. So leihen sie sich in finanziellen Notlagen oftmals Geld von Familienmitgliedern und wohnen nach der Heirat in der Regel zunächst bei ihren Eltern, bis sie sich eine eigene Wohnung leisten können. Auch im Alltag ist die Familie eine wichtige Stütze, so beispielsweise bei der Kinderbetreuung. Die Familie bietet den Migranten aber nicht nur materielle Sicherheit und Hilfe, sie erfüllt auch wichtige emotionale Bedürfnisse. Es ist deshalb für viele der von uns Befragten nicht vorstellbar, ihre Eltern oder Geschwister über einen längeren Zeitraum nicht zu sehen oder weit entfernt von der Familie zu wohnen.

Die Familienzentriertheit der sozialen Netze von Migranten wird durch ihr Heiratsverhalten verstärkt. Zwei Drittel unseres Samples haben transnational geheiratet, das heißt der Ehepartner oder die Ehepartnerin ist erst nach der Heirat nach Deutschland gekommen. Bei über der Hälfte der transnationalen Ehen handelt es sich um einen direkten Verwandten des Befragten. Durch die Heirat innerhalb der Verwandtschaft findet keine Erweiterung der bestehenden Netze um außerfamiliäre Kontakte statt.

Soziale und ethnische Homogenität

Neben der Familienzentriertheit sind soziale und ethnische Homogenität weitere Gemeinsamkeiten der sozialen Netze der Migranten. Ihre Netzwerkbeziehungen sind im Wesentlichen auf Kontakte zu Personen mit gleichem sozioökonomischen Status, beruflichem Qualifikationsniveau und gleicher ethnischer Herkunft beschränkt. Während die Berufstätigen hauptsächlich Kontakte zu anderen Berufstätigen haben, sind die Freunde der Arbeitslosen häufig selber arbeitslos.

Lediglich acht Migranten des Samples haben außer türkischen noch Freunde anderer Nationalitäten. Die interethnischen Freundschaften stammen überwiegend aus Schul- und Arbeitskontexten. Aber auch bei den Migranten mit ethnisch heterogenen Netzwerken sind die engsten Freunde größtenteils türkischer Herkunft, während sich Deutsche eher in der Peripherie der Netzwerke befinden.

Die soziale Homogenität der Netzwerke der Migranten lässt sich vor allem mit dem Ursprung ihrer Kontakte begründen: Die Kontakte sind entweder familiär - und somit in unserem Sample per se sozial homogen - oder es sind aufrechterhaltene Bindungen aus der Haupt- bzw. Realschule. In wenigen Fällen kommen noch Kontakte aus Arbeit oder Ausbildung hinzu.

Lokalität

Die dritte Gemeinsamkeit ist die Lokalität der sozialen Netzwerke. Die Wohnung liegt meist in fast fußläufiger Entfernung zu Eltern und Geschwistern. Neben der herausragenden Rolle der räumlichen Nähe zur Herkunftsfamilie ist auch die Nähe zu Freunden relevant: Da die Pflege von Kontakten außerhalb des Stadtteils mit mehr Aufwand und Planung verbunden ist, sind die Beziehungen sehr distanzempfindlich; Kontakte außerhalb des Stadtteils werden seltener aufrechterhalten. Eine geringe räumliche Distanz ist somit die Voraussetzung für die Persistenz der sozialen Beziehungen.

Folgen der Netzwerkeigenschaften für die Integration

Welche Konsequenzen haben nun Familienzentriertheit, soziale/ethnische Homogenität und Lokalität der sozialen Netzwerke der Migrantinnen und Migranten auf ihr soziales Kapital, und was leisten die Netzwerke im Hinblick auf ihre Integration?

Die Familie hat für die Migranten eine unerlässliche Unterstützungsfunktion, sie ist ein Netz, das vor materieller Not und sozialer Isolation schützt. Zugleich ist sie aber auch ein Käfig, da sie die Optionen einschränkt und die Ressourcen, die sie zur Verfügung stellen kann, eng begrenzt sind.

Die Begrenztheit der Ressourcen und die Ambivalenz des großen Einflusses der Familie zeigen sich vor allem hinsichtlich der Integration in den Arbeitsmarkt: Erstens haben die befragten Migrantinnen und Migranten von ihren Eltern keine ausreichende Unterstützung während ihrer Schulausbildung erfahren. Dies ist zum einen auf die fehlenden Sprachkenntnisse der Eltern, aber auch auf deren Unkenntnis des deutschen Schulsystems und der Relevanz von Schul- und Berufsausbildung in Deutschland zurückzuführen.

Zweitens drängt - korrespondierend mit dieser Unkenntnis - die erste Generation ihre Kinder zu einer frühen Heirat, wobei die Ehepartnerinnen und -partner zum Zeitpunkt der Eheschließung meist noch in der Türkei leben. Die frühe Heirat verhindert oft eine Berufsausbildung, da die Männer in ihrer Ausbildungszeit zu wenig verdienen würden, um eine Familie zu ernähren, und die Frauen für die Kinderbetreuung zuständig sind. Das transnationale Heiratsverhalten hat zudem zur Folge, dass die Chance auf eine Vergrößerung des sozialen Kapitals in Deutschland vergeben wird, da der zugereiste Ehepartner in Deutschland kaum nützliche Kontakte in die Ehe einbringen wird. Hier gibt es Anzeichen eines Phänomens, das Alejandro Portes und Julia Sensenbrenner als "enforceable trust" bezeichnet haben: Je stärker die Mitglieder einer ethnischen Gruppe auf diese angewiesen sind, desto eher sind sie bereit, ihre eigenen Interessen gegenüber denen der Gruppe zurückzustellen. So dient das Heiratsverhalten zwar der Stärkung der vorhandenen familiären Netzwerke und damit dem Zusammenhalt der jeweiligen Gruppe bzw. der Familien, es hat aber für die betroffenen Migranten negative Konsequenzen - insbesondere was die Dimensionen Arbeit und soziale Netzwerke betrifft.

Auch in Bezug auf eine längerfristige Integration ist das Heiratsverhalten kritisch einzuschätzen. Die Kinder dieser Ehepaare bilden keine dritte Generation, sondern eher eine Generation "zweieinhalb". Insbesondere in den Fällen, in denen die Frau aus der Türkei nachgekommen ist, ist zu vermuten, dass die Kinder ausschließlich mit der türkischen Sprache aufwachsen. Wie die Angehörigen der ersten Generation haben auch diese Mütter in der Regel keine Kenntnis vom deutschen Schul- und Berufssystem und können folglich ihre Kinder nicht unterstützen. Die Folge ist eine zumindest verlangsamte Integration.

Drittens verfügt die erste Generation über wenige und nur eingeschränkt leistungsfähige Kontakte zum Arbeitsmarkt. Sie hat lediglich Zugang zu den Bereichen, in denen sie selbst beschäftigt war, und hierbei handelt es sich fast ausschließlich um das untere Arbeitsmarktsegment. Das hat fatale Folgen: Während die erste Generation - etwa durch Fabrikarbeit im unteren Segment - noch integriert war, gilt das heute nicht mehr. In diesem Bereich überwiegen mittlerweile prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die einen typischen Übergang zu einer langfristigen Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt bilden. Die Industriearbeit, in welche die Angehörigen der ersten Generation ihre Kinder vermitteln wollen und die auch die erste Priorität der befragten Migranten darstellt, bietet nur noch wenigen eine langfristige Perspektive. Über weitere Kontakte zum Beispiel zu Verbindungspersonen in andere Netze (Brückenköpfe) oder gar Personen, die über die Vergabe von Arbeit entscheiden (Gatekeeper) verfügen die Migranten der ersten Generation kaum.

Auch besitzen die befragten Migrantinnen und Migranten nur kaum soziales Kapital, das ihnen Zugang zu den oberen Segmenten des Wohnungsmarktes verschaffen würde. Hinsichtlich der Wohnsituation erhält aber die räumliche Distanz zur Familie ein größeres Gewicht: Um in der Nähe ihrer Eltern und Geschwister leben zu können, nehmen die Migranten auch Nachteile wie eine qualitativ minderwertige Wohnung oder das Leben in einem stigmatisierten Stadtteil in Kauf. Damit bestimmt nicht die ethnische Segregation, sondern die Nähe zur Familie den Wohnort der Migrantinnen und Migranten. Lediglich für jene, die im Altbauquartier leben, spielt die ethnische Segregation ihres Quartiers eine positive Rolle - wenngleich die bestehende soziale Kontrolle negativ eingeschätzt wird. Somit sind unsere Ergebnisse zur ethnischen Segregation und zur Community-Bildung relativ unspektakulär.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Familie eine eher ambivalente Wirkung auf die Integrationschancen der zweiten Generation hat, da sie nur in einem begrenzten Umfang soziales Kapital zur Verfügung stellen und ihr Einfluss die Optionen der Migranten beeinträchtigen kann. Eine Folge der Familienzentriertheit und des transnationalen Heiratsverhaltens der Migrantinnen und Migranten ist ein sozial und ethnisch homogenes Netz.

Ethnisch heterogene Netze mit Kontakten zu Deutschen gelten im Allgemeinen als Indikator für die gelungene Integration von Migranten. Der Kontakt zu Deutschen ist aber nicht nur ein Zeichen für einen Zugang zu den sozialen Netzen der Mehrheitsgesellschaft und damit Gradmesser für soziale Integration. Ein um solche Kontakte erweitertes Netzwerk wird auch als ressourcenreicher eingeschätzt als eines, das ausschließlich aus Migranten besteht. Bei Deutschen erscheint die Chance höher, dass sie über relevante Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft - etwa zu Gatekeepern - oder Verbindungen zu einflussreichen Netzwerken und damit über mehr soziales Kapital verfügen. Dieselbe Argumentation gilt auch für sozial heterogene Netzwerke.

In unserer Studie bestätigen sich die Annahmen über die Leistungsfähigkeit sozial heterogener Netzwerke: Migranten, die sich in sozial heterogenen Netzwerken bewegten, waren häufiger in der Lage, über direkte oder indirekte Beziehungen Kontakte zu Gatekeepern aufzunehmen, die bei der Arbeitssuche entscheidend waren. Sie waren auf dem Arbeitsmarkt letztendlich erfolgreicher als diejenigen mit sozial homogenen Netzwerken.

Die zweite Vermutung, derzufolge ethnische Heterogenität einen positiven Einfluss auf das soziale Kapital hat, kann nach unseren Ergebnissen dagegen nicht bestätigt werden. So hatten die wenigen Migranten mit einem ethnisch heterogenen Netz nicht mehr Ressourcen oder bessere Zugänge zum Arbeitsmarkt als jene mit ethnisch homogenen Netzen. Dieses Ergebnis erklärt sich mit einem Blick auf die sozioökonomischen Eigenschaften der Deutschen in den heterogenen Netzwerken. Ethnisch heterogene Netzwerke sind ebenso sozial homogen wie ethnisch homogene Netze und daher nicht unbedingt leistungsfähiger. Im Gegenteil: Ein ethnisch homogenes Netz bietet unter Umständen bessere Ressourcen als ein ethnisch heterogenes. Bei der Vermittlung von Informationen über Arbeitsmöglichkeiten haben sich beispielsweise die ethnisch homogenen Kontakte der von uns befragten Migrantinnen und Migranten als nützlicher erwiesen. Entscheidender Faktor für die Leistungsfähigkeit und das soziale Kapital der Netzwerkbeziehungen ist somit eher die soziale Schicht als die ethnische Zugehörigkeit. Dass hingegen auch in den sozial heterogenen und damit leistungsfähigeren Netzwerken selten Kontakte zu Gatekeepern oder anderen Entscheidungsträgern bestehen, zeugt vom insgesamt eher schwachen sozialen Kapital, das den Migranten zur Verfügung steht.

Erklärungen für die Netzwerkeigenschaften

Fasst man die Ergebnisse zusammen, ergeben sich aus den sozialen Netzwerken neben beschränkten Ressourcen auch Restriktionen, durch welche sich die Integration verlangsamen kann. Wie lassen sich die Eigenschaften der Netzwerke von Migranten erklären?

Die Ursachen für Größe, Zusammensetzung und Leistungsfähigkeit der sozialen Netzwerke sind vielfältig: Der Migrationshintergrund der Interviewten hatte zur Folge, dass das Netz im Aufnahmeland zunächst extrem klein war und die Familie in dieser Situation eine besondere Relevanz erhielt. Im Zuge der Migration von der Türkei nach Deutschland blieb den Migrantinnen und Migranten in der Regel nur der engste Familienkern von Eltern und Geschwistern. Zugleich konnten die Eltern der zweiten Generation meist nur wenige Kontakte in Deutschland aufbauen. Dies hatte zur Folge, dass ihre Kinder überwiegend im kleinen Familienkreis aufwuchsen.

Auch eine kulturell begründete Distanz gegenüber Deutschen, die ein Teil der Befragten äußert, trägt zur Familienzentrierung und zur ethnischen Homogenität bei. Andere Lebensgewohnheiten und ein anderes Verständnis der Freizeitgestaltung werden als Erklärungen dafür genannt, die freie Zeit lieber mit Angehörigen der eigenen ethnischen Gruppe zu verbringen. Wie aus Studien bekannt ist, spiegelt die soziale Distanz der türkischen Migranten gegenüber Deutschen die soziale Distanz der Deutschen gegenüber Türken wider. So gaben nach einer repräsentativen Umfrage über die Hälfte der deutschen Befragten an, sie hätten eine große soziale Distanz gegenüber Türken. Die Netzwerkeigenschaften sind jedoch nicht nur durch die Migration bedingt oder kulturell definiert, sondern haben auch schichtspezifische Ursachen, da es sich bei der sozialen Homogenität, der Familienzentriertheit und dem begrenzten sozialen Kapital auch um Eigenschaften handelt, die ebenso für Arbeiterhaushalte festgestellt wurden.

Fazit: Türkische Parallelgesellschaft?

Bezug nehmend auf unsere zu Beginn des Beitrages formulierte Fragestellung lässt sich das gängige, in den Medien reproduzierte Bild von türkischen Clans mit großen, weitläufigen sozialen Netzwerken, die räumlich, sozial und kulturell abgeschottet sind, durch unsere Forschungsergebnisse nicht bestätigen. Der in den Medien kursierende Begriff der Parallelgesellschaft taucht zwar gelegentlich auch in soziologischen Kontexten auf, eine systematische Auseinandersetzung hat bislang aber nicht stattgefunden. Nimmt man die von Raymond Breton formulierte "institutionelle Vollständigkeit" von ethnischen Gemeinschaften als Kriterium für eine Parallelgesellschaft und überprüft dieses anhand der dargestellten Lebenssituation der befragten Migrantinnen und Migranten, so gibt es nur wenige Überschneidungspunkte: Trotz einer relativ starken ethnischen Homogenität der Netzwerke sind die hier beschriebenen türkischen Lebenswelten nicht völlig von deutschen Lebenswelten abgetrennt. Die beschränkte Leistungsfähigkeit, das geringe soziale und kulturelle Kapital und die kleine Größe der Netze verhindern zudem eine institutionelle Unabhängigkeit. Selbst wenn man wie Thomas Meyer nach "unvollständigen", das heißt institutionell unselbständigen ethnischen Gemeinschaften Ausschau hält, scheint das ökonomische Potenzial der türkischen Migranten nicht ausreichend zu sein, um eine eigenständige Ökonomie aufzubauen: So lag die Selbständigenquote bei den türkischen Erwerbstätigen 2003 bei 6,1 Prozent und damit deutlich sowohl unter der Selbständigenquote der Deutschen (10,5 Prozent) als auch unter jener der italienischen (13,1 Prozent) und griechischen Erwerbstätigen (14,8 Prozent). Auch das Nettoeinkommen von türkischen Selbständigen lag mit einem Median von etwa 1 400 Euro unter den Durchschnittswerten von italienischen und griechischen (jeweils 1 600 Euro) und deutschen (1 850 Euro) Selbständigen.

Auf der räumlichen Ebene von Stadtvierteln ist eine solche Unabhängigkeit ebenfalls nicht zu erwarten: Die ethnisch segregierten Stadtviertel können fehlende Ressourcen der sozialen Netze nur zum Teil ausgleichen. Zwar bieten segregierte Quartiere meist mehr Gelegenheiten für Jobs in der ethnischen Ökonomie; ausschlaggebender für eine erfolgreiche Integration ist aber neben einer generellen - das heißt nicht zwingend ethnischen - funktionalen Mischung die soziale Mischung im Quartier. Die Migrantinnen und Migranten im sozial gemischten Altbauquartier verfügten insgesamt über ein höheres soziales Kapital, von dem sie bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche profitieren konnten. Dieses Kapital zeigt sich weniger in engen Netzwerkverbindungen als in weitläufigen und relativ oberflächlichen Bekanntschaften - ein Phänomen, das Mark Granovetter als "strength of weak ties" tituliert hat.

Eine soziale und eine funktionale Mischung sind in ethnisch segregierten Quartieren nicht selbstverständlich; hierfür spielen Lage, Architektur, Bausubstanz und Geschichte des jeweiligen Quartiers eine wesentliche Rolle. Vor allem aber zeigen die Ergebnisse, dass die ethnische Gemeinschaft nicht solche Strukturen aufweist und Ausmaße annimmt, dass ein völliger Rückzug für türkische Migranten eine Option wäre. Wenn überhaupt, so findet ein Rückzug in die Kleinfamilie statt. Bezogen auf dieses Ergebnis, wäre sogar die Schlussfolgerung nahe liegend, die türkischen Migranten verfügten über zu geringe Community-Strukturen, da ein höherer Grad an eigenständiger Ökonomie etwa eine sozioökonomische Verbesserung zur Folge haben sollte.

Die ethnische Segregation hat sich in unserer Studie als wenig bedeutend herausgestellt. Demgegenüber können die ethnische Homogenität der sozialen Netzwerke, die von einigen der Befragten geäußerte kulturell begründete Distanz zu Deutschen und vor allem das transnationale Heiratsverhalten als Hinweise auf eine Isolierung türkischer Netzwerke interpretiert werden. Während sich die ethnisch homogenen Netzwerke als ressourcenreicher herausstellen als ethnisch heterogene, erschwert das Heiratsverhalten nicht nur die Integration der Migranten in den Arbeitsmarkt, sondern kann auch Einfluss auf die Deutschkenntnisse ihrer Kinder haben. Ob dieser Befund ausreicht, um eine Parallelgesellschaft auszurufen, erscheint fragwürdig. Er verweist allerdings auf ein verschärftes, dauerhaftes Ausgrenzungsrisiko der Migranten und ihrer Nachfolgegenerationen in unserer Gesellschaft und hier vor allem im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt.

Neben einer Verbesserung der Bildungschancen von Einwandererkindern ist jedoch nicht zuletzt der politisch-mediale Diskurs über ethnische Minderheiten im Zusammenhang mit deren gesellschaftlicher Akzeptanz von Bedeutung. Wie in der eingangs beschriebenen Alltagsdefinition` deutlich wird, bezieht sich der Begriff der Parallelgesellschaft auf eine spezifische Gruppe: die der türkischen/muslimischen Minderheit. Wendet man die Kriterien der räumlichen, kulturellen und sozialen Abschottung aber auf alle in Frage kommenden Gruppen an, zeigt sich, dass es in der Gesellschaft durchaus auch andere Gruppen gibt, die das Etikett Parallelgesellschaft` tragen könnten. Josef Eckert und Mechthilde Kißler beschreiben beispielsweise eine weitgehende Isolierung der linksalternativen Szene im Kölner Stadtviertel Ehrenfeld. Für Georg Simmel, der sich auf städtischer Ebene mit dem Zusammenleben unter den Bedingungen von hoher Dichte und Heterogenität auf geringem Raum beschäftigt hat, stellt ein tolerantes, aber auch gleichgültiges Nebeneinander eine Voraussetzung für den Umgang mit der Heterogenität in den Städten dar. Dies kann auch als Argument für kulturelle Vielfalt gelten, die sich aufgrund eines bestimmten städtischen Klimas entfalten kann und die zu geringen Überschneidungspunkten zwischen den jeweiligen Gruppen führt. Ein gleichgültiges Nebeneinander trifft nicht nur auf ethnische, sondern auf viele soziale Gruppen zu; es kennzeichnet moderne städtische Gesellschaften. In diesem Sinne könnten verschiedene kulturelle Milieus verschiedene Parallelgesellschaften bilden, womit die unterschwellige Bedrohlichkeit des Begriffs abhanden kommt.

Findet jedoch, wie im derzeitigen politisch-medialen Diskurs, der Begriff Parallelgesellschaften nur auf türkische oder muslimische Minderheiten Anwendung, erhält er auf der symbolischen Ebene eine ausgrenzende Bedeutung. Dass mit kultureller und religiöser Vielfalt auch ganz anders umgegangen werden kann, zeigt das Beispiel der kanadischen Stadt Toronto, die zu den ethnisch heterogensten Städten der Welt gehört. Die wachsende kulturelle Vielfalt wird durch die offizielle kanadische Politik der Einheit-in-Verschiedenheit (unity-within-diversity), die auf der Grundlage einer gemeinsamen Verfassung und gemeinsamer Gesetze auf das Prinzip der kulturellen Gleichwertigkeit und gegenseitiger Toleranz abzielt, gefördert. Zudem steht die Mehrheit der kanadischen Bevölkerung (83 Prozent) der wachsenden Multikulturalität in der Gesellschaft positiv gegenüber. Auf Seiten der Einwanderer zeigen die hohen Einbürgerungszahlen und das hohe Zugehörigkeitsgefühl zur Aufnahmegesellschaft (79 Prozent), dass eine tolerante Einwanderungspolitik, die Einwanderer nicht unter einen Assimilationsdruck setzt bzw. ethnisch segregierte Quartiere nicht mit dem Bild des Bedrohlichen assoziiert, sich positiv auf die Hinwendung von Einwandern zur Aufnahmegesellschaft auswirken kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Thomas Meyer, Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede, Frankfurt/M. 2002, S. 208f.

  2. Das Forschungsprojekt wurde von der VW-Stiftung im Rahmen des "Niedersächsischen Forschungsverbunds Technikentwicklung und gesellschaftlicher Strukturwandel" gefördert. Außer den Autorinnen dieses Beitrages waren Walter Siebel und Norbert Gestring an dem Projekt beteiligt.

  3. Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 190f.

  4. Vgl. Rosemarie Nave-Herz, Familiale Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland seit 1950, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, (1984)1, S. 45 - 63.

  5. Vgl. Alejandro Portes/Julia Sensenbrenner, Embeddedness and Immigration: Notes on the social Determinants of Economic Action, in: The American Jounal of Sociology (AJS), (1993) Volume 98, 6, S. 1320 - 1350.

  6. Vgl. Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage: Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000.

  7. Vgl. Hartmut Esser, Integration und ethnische Schichtung. Gutachten im Auftrag der Unabhängigen Kommission "Zuwanderung", in: http://www. bmi.bund.de/Downloads/Esser.pdf (10.4. 2003).

  8. Vgl. Gaby Straßburger, Heiratsverhalten und Partnerwahl im Einwanderungskontext. Familie und Gesellschaft. Band 10, Würzburg 2003, S. 38.

  9. Vgl. Norbert Elias/John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, Frankfurt/M. 1993.

  10. Vgl. z.B. Wilhelm Heitmeyer, Versagt die "Integrationsmaschine" Stadt? Zum Problem der ethnisch-kulturellen Segregation und ihrer Konfliktfolgen, in: Wilhelm Heitmeyer/Rainer Dollase/Otto Backes (Hrsg.), Die Krise der Städte. Analysen zu den Folgen desintegrativer Stadtentwicklung für das ethnisch-kulturelle Zusammenleben, Frankfurt/M. 1998, S. 443 - 467.

  11. Norbert Gestring, Parallelgesellschaften - ein Kommentar, in: Jahrbuch StadtRegion 2004/2005, Wiesbaden 2005, 163 - 169.

  12. Raymond Breton, Institutional Completeness of Ethnic Communities and the Personal Relations of Immigrants, in: AJS, 70 (1964), S. 193 - 205. Unter "institutioneller Vollständigkeit" versteht Breton eine in sich geschlossene Gesellschaft, die ihr Leben weitgehend selbständig organisiert hat, d.h. die räumlich, sozial, ökonomisch, kulturell und institutionell unabhängig ist und keinerlei Beziehungen zur Mehrheitsgesellschaft unterhält.

  13. Vgl. T. Meyer (Anm. 1), S. 211.

  14. Vgl. Mikrozensus 2003, faktisch anonymisierte 70 %-Substichprobe, eigene Berechnungen. Der Median teilt die Stichprobe in zwei Hälften, so dass 50 % unter und 50 % über dem Wert des Medians liegen.

  15. Vgl. Mark Granovetter, The Strength of Weak Ties, in: AJS, 78 (1973), 6, S. 1260 - 1380.

  16. Vgl. Josef Eckert/Mechthilde Kißler, Südstadt, wat es dat? Kulturelle und ethnische Pluralitäten in modernen urbanen Gesellschaften am Beispiel eines innerstädtischen Wohngebietes in Köln, Köln 1997.

  17. Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: ders., Das Individuum und die Freiheit, Frankfurt/M. 1993, S. 192 - 204.

  18. Vgl. Rainer Geißler, Multikulturalismus in Kanada - Modell für Deutschland?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (2003) 26, S. 19 - 25.

  19. Minister of Public Works and Government Services Canada, Annual Report on the Operation of The Canadian Multiculturalism Act 2003-2004, in: www. multiculturalism.pch.gc.ca (18.6. 2005).

  20. Vgl. ebd.

Dr. rer. pol., geb. 1972; wissenschaftliche Angestellte beim Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA), German Microdata Lab, B2, 1, 68159 Mannheim.
E-Mail: E-Mail Link: janssen@zuma-mannheim.de

Dr. rer. pol., geb. 1972; wissenschaftliche Angestellte an der Universität Oldenburg, Institut für Soziologie, Postfach 2503, 26111 Oldenburg.
E-Mail: E-Mail Link: ayca.polat@uni-oldenburg.de