Die Bundesrepublik hat sich das politische Ziel gesetzt, gleichwertige Lebensverhältnisse für alle Bürgerinnen und Bürger zu schaffen. Dies ist ein sehr anspruchsvolles Integrationsversprechen. Denn die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit spitzt sich in Deutschland auch territorial immer stärker zu. Gemeinden und Regionen fühlen sich nicht nur abgehängt, sie sind es teilweise schon. Daseinsvorsorge und Infrastrukturen stehen nicht überall in angemessenem Umfang zur Verfügung, um die gesellschaftliche Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Dies gilt nicht nur für den ländlichen Raum, sondern auch für viele großstädtische Quartiere, die unter Segregation leiden. Soziale Gerechtigkeit hat auch eine territoriale Dimension, auf die das Grundgesetz seit der Gründung der Bundesrepublik mit dem Integrationsversprechen der "Einheitlichkeit" beziehungsweise der "Gleichwertigkeit" der Lebensverhältnisse antwortet: Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist ein zentraler politischer und verfassungsrechtlicher Baustein, um soziale Teilhabe und Chancengerechtigkeit zu garantieren sowie sozialen Zusammenhalt und territoriale Kohäsion zu gewährleisten.
Politischer Leitbegriff
Der Terminus "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" ist ein politischer Leitbegriff, der zugleich ein Verfassungsauftrag für öffentliches Handeln ist, jedoch ohne abschließend definiert zu sein. Es ist genau diese definitorische Unbestimmtheit, dieses Unpräzise, das seinen Erfolg erst möglich machte. Denn es handelt sich – wie der Geograf Michael Mießner herausgearbeitet hat – bei dem Begriffspaar "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" um einen "leeren Signifikanten". Dieser fluide Begriff erlaubt es einerseits, um die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Interessen und Positionen territorialer (Un-)Gleichheit zu ringen. Andererseits ermöglicht er es aber auch, einen "kleinsten gemeinsamen Nenner" und damit einen politischen Kompromiss für eine sozialräumliche Ausgleichspolitik zu finden. Politisch bedeutet dies: Wir müssen die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse demokratisch selbst gestalten und die damit einhergehenden politischen Konflikte immer wieder neu aushandeln. Traditionell fokussieren wir auf Wohn-, Arbeits-, Wirtschafts- und Konsumverhältnisse, Daseinsvorsorge und Infrastrukturen, wenn es um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse geht. Doch sind dies auch heute noch die entscheidenden Parameter? Wie bewerten wir beispielsweise aktuell das Verhältnis von Verkehr und Internet, wenn es um den sozialen Zusammenhalt geht? Sollten heute nicht auch Nachhaltigkeit, Umweltgerechtigkeit und Klimaverträglichkeit Schlüsselelemente sein, wenn wir politisch über die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse streiten?
Die Bundeskanzlerin hat in der Debatte um den Bundeshaushalt 2020 unterstrichen: "[V]ielleicht das überwölbende Projekt für diese Koalition ist, was die Innenpolitik anbelangt (…) die Frage mit Blick auf die Kommission ‚Gleichwertige Lebensverhältnisse‘". Sie wisse – so die Bundeskanzlerin weiter – um die Sorgen von Menschen, die sich abgehängt fühlten. Sie realisiere, dass die Entwicklungen zwischen Stadt und Land ganz unterschiedlich seien und dass der Internetausbau zu wünschen übriglasse. Die Politik müsse auf diese Sorgen eingehen und Antworten finden. Um diese Antworten hatte sich die Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" unter Leitung des Bundesinnenministeriums gut zwölf Monate lang bemüht. Im Juli 2019 legte sie ihren Bericht "Unser Plan für Deutschland" vor. In zwölf Schwerpunktbereichen finden sich viele politische Willensbekundungen, wenig Systematisches, doch bisweilen auch Konkretes: Strukturschwache Regionen sollen gefördert, Dörfer und ländliche Räume gestärkt, Internet, Mobilität und Verkehrsinfrastruktur verbessert und das Ehrenamt unterstützt werden. Darüber hinaus soll die Altschuldenfrage angegangen, Barrierefreiheit ebenso wie Kinderbetreuung gewährleistet und die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als ein allgemeines Leitprinzip anerkannt und umgesetzt werden. Die Ambivalenz dieser Vorschläge springt ins Auge: Sie halten sich einerseits im traditionellen Rahmen dessen, was seit Jahren mit Blick auf die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland diskutiert und gefordert wird. Deshalb stellt sich andererseits die Frage: Warum wurde und wird mit Blick auf die Gewährleistung gleichwertiger Lebensverhältnisse so wenig getan, wenn doch seit Jahren klar zu sein scheint, was zu tun ist? Mit anderen Worten: Die Ergebnisse der Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" sind weniger der Aufbruch in eine neue Politik des sozialen, wirtschaftlichen und territorialen Zusammenhalts als vielmehr ein Akt "guten politischen Willens", dessen Verwirklichung weitgehend unklar bleibt.
Daseinsvorsorge und Gleichwertigkeit
Auch wenn die Rede der Kanzlerin und die zwölf benannten Schwerpunkte im Kommissionsbericht – positiv ausgedrückt – im Sinne eines leeren Signifikanten viel politischen Handlungsspielraum eröffnen, lässt sich an ihnen dennoch ablesen, was überwiegend unter Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse verstanden wird (Ausgleich regionaler Disparitäten), woran es mangelt (Internet, Mobilität, Kinderbetreuung) und welche Maßnahmen ergriffen werden sollen (Strukturförderung, Ausstattung verbessern). Zugleich spiegelt sich in den Schwerpunkten aber auch ein Stück der politischen Geschichte dieses Leitbegriffs wider, der sich insbesondere durch die enge Verbindung von Daseinsvorsorge und Gleichwertigkeit auszeichnet.
Mit dem Begriff der "Daseinsvorsorge" wird bereits seit den 1920er Jahren die öffentliche Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen wie beispielsweise Energie, Wasserversorgung, Bildung, aber auch Alters- und Gesundheitsversorgung verstanden. Diese umfassenden Infrastrukturangebote sollen den Menschen überhaupt erst ein gesichertes Leben in der modernen Gesellschaft ermöglichen und soziale Teilhabe garantieren. Der Gedanke der Daseinsvorsorge verbindet sich ab den 1950er Jahren zunehmend mit der politischen Vorstellung von der Herstellung einheitlicher beziehungsweise gleichwertiger Lebensverhältnisse und erweitert auf diese Weise den sozialen Teilhabegedanken um eine territoriale Dimension. Teilhabemöglichkeiten dienen nun nicht mehr allein dem sozialen Ausgleich zwischen Gesellschaftsschichten. Vielmehr sollen auch Menschen in benachteiligten Regionen über einen flächendeckenden Infrastrukturausbau an Errungenschaften der modernen, urbanen Wohlfahrts- und Konsumgesellschaft teilnehmen können. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse wird so zu einem zentralen sozialpolitischen Integrations- und Kohäsionsversprechen der jungen Bundesrepublik.
Dabei wird bis heute die Konkretisierung der Leitvorstellung von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse durch die bundesrepublikanische Planungsphilosophie der späten 1950er bis frühen 1970er Jahre geprägt. Diese Planungsphilosophie beschrieb jedoch nie eine faktische Realität, sondern setzte als Ausdruck des wirtschaftlichen Wachstums der Nachkriegsjahrzehnte auf eine Politik der Konvergenz und damit des Ausgleichs von räumlichen Disparitäten zwischen den Bundesländern, aber auch zwischen Stadt und Land. Dem wohlfahrtsstaatlichen Partizipationsversprechen dieser Jahrzehnte folgend, bezog und bezieht sich dieser Ausgleich – letztlich bis heute – auf alle Lebensbereiche: Arbeit, Bildung, Konsum, Erholung, Freizeit, Kultur, Gesundheit, Sozialleistungen, Telekommunikation, Verkehr und Wohnen. Maßstab für die Bestimmung der durch das Leitbild geforderten Gleichwertigkeit war in der Vergangenheit der gesellschaftlich akzeptierte Standard, wobei "Ausgleich" in der bis dato gängigen Interpretation stets als eine Angleichung nach "oben" – also an ein hohes wohlfahrtsstaatliches Niveau – verstanden wurde.
Ab den 1980er Jahren rückte diese auf Ausgleich gerichtete, steuernde Politik jedoch in den Hintergrund. Nach Ölpreisschock, ersten Arbeitslosigkeitswellen und Ermattungserscheinungen des Wohlfahrtsstaates setzten Politik und Wirtschaft nun auf den Markt und nicht mehr auf den Staat ("Privat vor Staat"). Wettbewerbsorientierung, neoliberale Wirtschaftspolitik und New Public Management wollten die alte Bundesrepublik wieder flottmachen. Selbstverantwortung als neue Leitmaxime sollte verschuldete Haushaltskassen entlasten, Verwaltungen nach dem Vorbild der Wirtschaft effizienter machen sowie Bürgerinnen und Bürger aktivieren, sich um sich selbst zu kümmern.
Spätestens seit der weltweiten Finanzkrise Ende der 2000er Jahre ist Katerstimmung eingetreten, nicht zuletzt auch deshalb, weil die (sozialen) Kosten der Wiedervereinigung unterschätzt und die Konsequenzen des demografischen Wandels lange ausgeblendet wurden. Zugespitzt formuliert: Wettbewerb und Neoliberalismus lebten lange von den sozialstaatlichen Infrastrukturen, die sie eigentlich ablehnten – bis diese Infrastrukturen schließlich veraltet, aufgebraucht oder abgenutzt waren. Überdies folgte die Politik zu lange der Maxime, dass der Markt in seiner Leistungsfähigkeit öffentlichen Interventionen überlegen sei. Der Föderalismus in Deutschland wurde in eine Wettbewerbsordnung umdefiniert. Wo aber der Gedanke des Wettbewerbsföderalismus herrscht, da ist es bis zum Wettbewerb der Regionen, Gemeinden und Bezirke nicht weit, freilich ohne dass jemals Chancengleichheit in diesem territorialen Wettbewerb bestanden hätte. Zugleich wurde in diesem Kontext auch eine ganze Reihe von Sparprogrammen und Entbürokratisierungsinitiativen umgesetzt, die die territorialen Fliehkräfte nur beschleunigt haben und die territoriale Ungleichheit weiter wachsen ließ.
Verfassungsrechtliche Entwicklungen
Diese territoriale Ungleichheit der Bundesrepublik provoziert das politische und zugleich verfassungsrechtliche Integrationsversprechen der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, das in Artikel 72 Absatz 2 Grundgesetz verankert ist. Regelungstechnisch handelt es sich bei dem Einheitlichkeits- beziehungsweise Gleichwertigkeitsgrundsatz um eine Einschränkung der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Vom Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 bis zur Verfassungsreform von 1994 verfügte der Bund über die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz, soweit diese zur Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse erforderlich war. In der Verfassungspraxis wurde dieser Grundsatz dahingehend verstanden, dass dem Bund die Aufgabe zukommen sollte, einheitliche Lebensverhältnisse im ganzen Bundesgebiet herzustellen. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Staatspraxis gestützt, indem es eine politische Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Notwendigkeit, einheitliche Lebensverhältnisse herzustellen, anerkannte und dementsprechend seine gerichtliche Kontrolldichte zurücknahm. Dies änderte sich mit der Verfassungsreform von 1994: An die Stelle der Wahrung einheitlicher Lebensverhältnisse wurde nun die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse als Schranke der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes in Artikel 72 Absatz 2 GG vorgesehen. Darüber hinaus verankerte der verfassungsändernde Gesetzgeber in Artikel 93 Absatz 2a GG ein spezielles Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, in dem die Richterinnen und Richter die Voraussetzungen des Gleichwertigkeitspostulats auf Antrag des Bundesrats, einer Landesregierung oder eines Landtags überprüfen können.
Da es das Ziel dieser Verfassungsänderung war, die Eigenständigkeit der Länder zu stärken, änderte das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung: Zur föderalen Stärkung der Eigenständigkeit der Länder schränkt Karlsruhe seitdem die Möglichkeit der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes ein, indem es den Anwendungsbereich des Gleichwertigkeitspostulats sehr eng und restriktiv fasst: "Das bundesstaatliche Rechtsgut gleichwertiger Lebensverhältnisse ist vielmehr erst dann bedroht und der Bund erst dann zum Eingreifen ermächtigt, wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet." Diese Rechtsprechung ist ambivalent zu bewerten. Positiv ist hervorzuheben, dass das Bundesverfassungsgericht das Gleichwertigkeitspostulat als ein "bundesstaatliches Rechtsgut" anerkennt, das die Verfassungs- und Verwaltungspraxis anleiten soll und muss. Kritisch ist aber zu verzeichnen, dass sich dieses "bundesstaatliche Rechtsgut" nur noch auf ein Minimum gleichwertiger Lebensverhältnisse beziehen soll. Damit wird aber das Gleichwertigkeitspostulat letztlich zu einem verfassungsrechtlich stumpfen Schwert. An die Stelle eines wohlfahrtsstaatlich überzogenen Verständnisses gleichwertiger Lebensverhältnisse ist ein absolutes Minimum föderalen Zusammenhalts getreten, das eigentlich erst dann einschlägig ist, wenn die Gesellschaft der Bundesrepublik aufgrund ökonomischer oder demografischer Disparitäten und Spaltungstendenzen auseinanderzufallen droht.
Sozialräumliche Polarisierung
Aber droht Deutschland auseinanderzufallen? Auch wenn die mediale Berichterstattung gelegentlich diesen Eindruck vermittelt und die Deutschen vielfach den Zusammenhalt gefährdet sehen: Die Bundesrepublik wird nicht auseinanderbrechen. Doch darum geht es ungeachtet der neuen Minimalformel, mit der das Bundesverfassungsgericht das föderale Rechtsgut der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse konkretisiert, aber auch nicht. Eine ganze Reihe von Expertisen und Gutachten – so zum Beispiel die Raumordnungsberichte, die beiden Disparitätenberichte der Friedrich-Ebert-Stiftung, die Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung oder der Deutschland-Atlas – belegen vor allem eines: Die Disparitäten und Unähnlichkeiten zwischen und in den verschiedenen Regionen der Bundesrepublik nehmen zu und gewinnen an Schärfe. Was zunächst "nur" als die Transformationslast ostdeutscher Kommunen infolge von De-Industrialisierung und Abwanderung nach dem Abbau der ostdeutschen Betriebe erschien, hat sich zu einem flächendeckenden Phänomen entwickelt: Großstädtische Agglomerationen wie Hamburg oder Berlin wachsen. Periphere ländliche Räume schrumpfen und altern stark. Arbeitskräftezuzug, hohe Gewerbeeinnahmen und eine kreative Startup-Szene bringen die Städte und Kommunen wirtschaftlich weiter nach vorn. Strukturdefizite werden durch die demografische Alterung und die Infrastrukturkrise noch weiter zugespitzt. Auf die De-Industrialisierung folgt(e) in vielen ländlichen Regionen Ostdeutschlands die De-Infrastrukturalisierung. So verdeutlichen Schaubilder und Übersichtskarten in den genannten Berichten, dass nicht nur Arbeitsplätze regional sehr ungleich verteilt sind, sondern auch die Zahl der Hausärzte, der Volkshochschulen oder die Gewährleistung der Nahversorgung. Günstige Wohnungen sind in Großstädten Mangelware, in vielen ländlichen Räumen stehen hingegen Immobilien leer.
Es wird immer deutlicher, dass in zahlreichen Regionen der Bundesrepublik von einer Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse kaum mehr die Rede sein kann. Hierbei bilden sich regionale Cluster: Während wir in Süddeutschland überwiegend auf sehr gute öffentliche Infrastrukturen und Lebensbedingungen treffen, haben sich im Ruhrgebiet und Nordosten zusammenhängende Gebiete gebildet, die sich von der durchschnittlichen Entwicklung der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik mehr und mehr entfernen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung geht noch einen Schritt weiter und spricht von "Fünfmal Deutschland – fünfmal ein anderes Land": Deutschland erfreut sich weiterhin einer "soliden Mitte", zu der sich die meisten Kreise zählen können. Darüber hinaus gibt es in der Bundesrepublik eine Vielzahl von dynamischen Groß- und Mittelstädten, die auf ein starkes Umland ausstrahlen. Allerdings drohen in den Großstädten deutliche Segregationstendenzen. Die Bessergestellten bleiben in hübschen Wohnquartieren unter sich, die weniger gut Verdienenden werden zusehends an den Rand gedrängt. Zurück bleiben Regionen, die sich – wie beispielsweise das Ruhrgebiet und periphere ländliche Räume – aus der Strukturkrise nicht allein befreien können.
Der Teufel steckt aber wie immer und überall im Detail: Während auf den ersten Blick alles nach den altbekannten Ost-West-, Nord-Süd-, Stadt-Land-Disparitäten aussieht, weist das Ifo Institut darauf hin, dass die Ungleichheit zwischen den Regionen – gemessen am durchschnittlich verfügbaren Einkommen der Haushalte – in den vergangenen zwei Jahrzehnten abgenommen habe. Vor allem der Osten Deutschlands hat hier aufgeholt, die Einkommensunterschiede zwischen den westdeutschen Regionen sind hingegen stärker geworden. Dies führt auch dazu, dass die Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land insgesamt rückläufig sind. Unterschiede im verfügbaren Einkommen sind allerdings nur ein Teil der Bedingungen, die das alltägliche Leben der Menschen bestimmen. Ungeachtet der insofern zu konstatierenden positiven Entwicklung prägen auch weiterhin demografische Größen, Anzahl der Arbeitsplätze und die Verfügbarkeit von wohnortnaher Grundversorgung die Lebensverhältnisse. Einkommen ist eben nicht alles.
Soziale Desintegrationseffekte
Die Wahlerfolge der AfD haben Volksparteien und Öffentlichkeit aufgeschreckt. Viel war die Rede von Abgehängten, politisch Verlassenen (Johannes Hillje) und Verbitterten (Heinz Bude), die sich fremd und unerhört (Ulrich Lilie) im eigenen Land fühlen. Die Erkenntnis, dass nicht allein die ökonomische Angleichung zwischen Ost und West die gesellschaftliche Einheit herbeiführen kann, hat mehr als zwei Jahrzehnte gebraucht. Dass Infrastrukturrückbau, Versorgungsengpässe und die Verwahrlosung des öffentlichen Raumes Deklassierungsgefühle verstärken, blieb lange unbeachtet. Erst langsam sickert ein, dass infrastrukturelle Einbußen auch mit einem Verlust an pluralistischer Öffentlichkeit einhergehen und zu einer Erosion lokaler Demokratie beitragen: Geschlossene Schulen, Verwaltungen, Rathäuser und Polizeidienststellen und eingeschränkter öffentlicher Personennahverkehr reduzieren auch den öffentlichen Raum, in dem sich – in Zusammenspiel mit einem lokalen Vereins- und Parteileben – eine pluralistische Öffentlichkeit konstituieren und entfalten kann. Wenn darüber hinaus Arztpraxen nicht fortgeführt, Kirchen aufgegeben und Geschäfte geschlossen werden, verliert eine Gemeinde gleichzeitig Orte mit öffentlichem Publikumsverkehr. Unter den Bedingungen des demografischen Wandels kommen der Zivilgesellschaft als "Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute" mithin nicht nur die öffentlichen und sicheren Orte, sondern zugleich auch das engagierte Publikum abhanden: Mit den sich aus der Fläche zurückziehenden Ärzten, Selbstständigen und Beamten fehlen einer Gemeinde und Region aktive Menschen, von deren Engagement das Kultur-, Vereins- und Parteileben einer bürgerlichen Öffentlichkeit vielfach lebt.
Das Alarmierende an dieser Zunahme sozialer Verunsicherung in Verbindung mit dem gleichzeitigen Verlust pluralistischer Öffentlichkeit und der Erosion demokratischer Staatlichkeit ist jedoch, dass dadurch ein soziales und politisches Vakuum entstehen kann. Dann besteht die Gefahr, dass die sozialpolitische "Leere", die der Kollaps von Öffentlichkeit und der Rückzug von Staatlichkeit hinterlassen, von autoritären und oft extremistischen Kräften ausgefüllt wird, die nun ihrerseits gesellschaftliche Ordnungsfunktionen übernehmen.
Zentrale Orte und Soziale Orte
In der Debatte um die Bewältigung der Infrastrukturkrise und der wachsenden sozialräumlichen Polarisierung werden vor allem Fragen nach (der Absenkung des) Ausstattungsniveau(s), Erreichbarkeit und (neuen) Angebotsformen diskutiert. Unzweifelhaft entscheidet der Zugang zu und die Teilhabe an Daseinsvorsorgeleistungen maßgeblich über die Lebenschancen der Bürgerinnen und Bürger. Wie schnell bin ich beim Arzt? Wie weit ist der Weg bis zur Grundschule? Wie lange brauche ich zum Einkaufen? Die Fragen nach individueller Benachteiligung aufgrund schlechter Raumausstattung, territorialer Gerechtigkeit sowie dem Zusammenhang von Infrastruktur und gesellschaftlicher Kohäsion stellen sich immer drängender. Es gilt, die sozialintegrative und -kohäsive Seite der Daseinsvorsorge wieder zu stärken. Wie kann das gelingen?
Das althergebrachte Instrument der Industriegesellschaft zur Gewährleistung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist das Zentrale-Orte-Konzept. Es verfolgt einen hierarchischen Ansatz, der von oben nach unten und von innen nach außen denkt, um territoriale Ungleichheit zu vermeiden und so den sozialen Zusammenhalt zu sichern. Die lokalen Unterschiede der Daseinsvorsorge, Infrastrukturen und öffentlichen Güter sollen durch die Ausdifferenzierung einer dreistufigen Raum- und Siedlungsstruktur überbrückt werden, die zwischen Grund-, Mittel- und Oberzentren unterscheidet. Grundzentren stellen dabei den täglichen Lebensbedarf im Hinblick auf Lebensmittel, Grundschule und ärztliche Versorgung sicher. Mittelzentren bieten ausgeweitete Einkaufsmöglichkeiten, weiterführende Schulen und Krankenhäuser. Oberzentren offerieren umfassende Konsummöglichkeiten, Hochschulen und spezialisierte Gesundheitsversorgung. Die Entwicklung regionaler Disparitäten hat vielerorts auch diese Versuche längst überholt, regionale Krisen der Daseinsvorsorge, Infrastrukturen und öffentlichen Güter mittels eines flexibilisierten Zentrale-Orte-Konzepts zu bewältigen. Nicht nur die Infrastrukturen im ländlichen Raum stehen infrage, auch die Leistungsfähigkeit zahlreicher Kleinstädte.
Das Zentrale-Orte-Konzept hat sich dennoch nicht erledigt, zumal es aufgrund infrastruktureller Pfadabhängigkeiten die sozialräumliche Struktur der Bundesrepublik nach wie vor in starkem Maße prägt. Doch es bedarf der Ergänzung durch ein Soziale-Orte-Konzept, das in Stadt und Land die Frage beantwortet, wo sich Gesellschaft begegnet, wenn die kommunalen und regionalen Lebensverhältnisse zunehmend disparater und unähnlicher werden. Daher braucht es Soziale Orte der Begegnung und Kommunikation, an denen Menschen zusammenkommen und ihr Umfeld gestalten. Lokale Demokratie lebt von Öffentlichkeit, und Soziale Orte sind ein Ansatzpunkt, der diese demokratischen Prozesse am Leben hält beziehungsweise vitalisiert. Soziale Orte können dabei weitaus mehr sein als Gastwirtschaft, Vereinsheim und Café. Sie sind Orte, an denen Menschen etwas miteinander gestalten, sich vernetzen und oft auch auf erlebte Mangelsituationen reagieren. Diese gemeinsamen Aktivitäten sollten aber nicht mit dem Ende einer Projektlaufzeit versanden. Bürgerinnen und Bürger, Verwaltungsfachkräfte und Unternehmerinnen benötigen Spiel- und Handlungsräume, um einen nachhaltigen Prozess zu initialisieren, mit dem auch weitere kommunale Aktionen in Gang gesetzt werden können.
Das Soziale-Orte-Konzept reagiert auf die Tatsache, dass unsere Gesellschaft in manchen Großstädten und ländlichen Räumen bereits so weit auseinandergedriftet ist, dass wir den sozialen Zusammenhalt aktiv wiederherstellen müssen. Dies bedarf staatlicher Aktivitäten und öffentlicher Handlungsbereitschaft – nicht aus Staatsgläubigkeit, sondern weil wir in einer Demokratie leben, die sich verfassungsrechtlich in den Gemeinden, Kreisen, Ländern und dem Bund konstituiert. Deshalb kommt jeder dieser politischen Ebenen für sich und allen politischen Ebenen zusammen die Aufgabe zu, den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft demokratisch zu gestalten und zu gewährleisten. Bei der Bereitstellung daseinsvorsorgender Infrastruktur zeigt sich die Staatsbedürftigkeit der demokratischen Gesellschaft. Dies bedeutet nicht, dass der Staat die Daseinsvorsorge, die Infrastrukturen und die öffentlichen Güter selbst und allein zur Verfügung stellen müsste oder könnte. Er ist dafür insbesondere auf das Engagement der Bürgerinnen und Bürger, eine aktive Zivilgesellschaft und eine kooperative Wirtschaft angewiesen. Deshalb kommt es darauf an, ein Soziale-Orte-Konzept zu profilieren, in dem Zusammenwirken von Staat, Gemeinden, Wirtschaftsunternehmen und Zivilgesellschaft und damit der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft für alle sichtbar wird.
Soziale Orte entstehen, so die Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt "Das Soziale-Orte-Konzept", in schrumpfenden Landschaften und segregierenden Städten nicht von selbst. Die Grundvoraussetzung für die Entfaltung des Soziale-Orte-Konzepts ist erstens die staatliche Gewährleistung von Infrastrukturen und öffentlichen Gütern. Soziale Orte entwickeln sich nicht gegen oder ohne öffentliche Strukturen, sondern mit ihnen. Für die Initiierung und Stabilisierung Sozialer Orte sind zweitens engagierte und innovationsfähige Akteure erforderlich. Es braucht die "richtigen Leute am richtigen Ort". Mit dem persönlichen Engagement steigen und fallen die Chancen von Sozialen Orten in einem Stadtteil oder in einer Gemeinde. Aber auch hier kann und muss der Staat unterstützend tätig werden – zunächst mit der Einsicht, dass sich ehrenamtliches Engagement nur dort entfaltet, wo es nicht schlicht als Lückenbüßer für den Ausfall staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Infrastrukturen angesehen wird. Engagement ist immer eine Frage der Gegenseitigkeit: Bürgerliches Engagement entfaltet sich dort, wo sich auch der Staat und die Zivilgesellschaft engagieren. Insofern ist die finanzielle Förderung des Ehrenamts wichtig, aber keineswegs der allein entscheidende Faktor. Soziale Orte sind drittens nicht Projekt, sondern Prozess. Sicherlich gibt es Schnittmengen zwischen sozialem Projekt- und Prozessmanagement. Doch Soziale Orte leben nicht von isolierten, sondern von vernetzten Projekten, sodass ein Wandel der Förderpolitik weg von der Projekt- hin zur Prozessförderung überfällig ist. Schließlich und viertens benötigen Soziale Orte überregionale Aufmerksamkeit und Vernetzung, Einbindung und Anerkennung. Das Soziale-Orte-Konzept fördert nicht die soziale Introvertierung von segregierten Stadtvierteln oder schrumpfenden Gemeinden. Deshalb muss es Sozialen Orten darauf ankommen, soziale, ökonomische, kulturelle und politische Anknüpfungspunkte auch jenseits ihrer Grenzen zu finden und zu leben, um mit dem so entstehenden Zusammenhalt ebenfalls die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu fördern.
Politik des Zusammenhalts
Die Neuinterpretation des Gleichwertigkeitsgrundsatzes darf nicht in der Diskussion um Mindestausstattung, Sockelversorgung, Erreichbarkeiten, Bürgerbusse und Dorfläden stecken bleiben. Vielmehr geht es darum, das soziale Integrations- und Kohäsionsversprechen, das diesen Leitgedanken prägt, wieder neu zu beleben. Deshalb ist es auch gut, dass beispielsweise der Freistaat Bayern einen verfassungsrechtlichen Neuansatz gewagt und das Gleichwertigkeitspostulat als eine Staatszielbestimmung ausgestaltet hat. Der Freistaat – so heißt es in Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 der Bayerischen Verfassung – "fördert und sichert gleichwertige Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen in ganz Bayern, in Stadt und Land". Diese sozialräumliche Staatszielbestimmung wendet sich an Gesetzgeber, Regierung und Verwaltung sowie an die Gerichtsbarkeit. Alle drei Gewalten haben die Aufgabe, gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Bayern, in Stadt und Land, durch Gesetze, Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen zu fördern. Damit dieser sozialräumliche Verfassungsauftrag nicht verpufft, sondern das sozialpolitische Integrationsversprechen erneuern kann, müssen sich Legislative, Exekutive und Judikative von der minimalistischen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lösen, um in einer eigenständigen Auslegung und Anwendung von Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 der Bayerischen Verfassung den sozialräumlichen Zusammenhalt zu fördern. Wenn dies gelingt, kann diese Regelung eine föderale Vorbildwirkung entwickeln, nicht nur für die übrigen Länder, sondern vor allem auch für den Bund. Diese integrationspolitische Befreiung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse aus einer Philosophie des "Minimums" ermöglicht eine neue Politik des Zusammenhalts, die die soziale, wirtschaftliche und territoriale Kohäsion von Gemeinden, Regionen, Ländern und damit insgesamt auch der Bundesrepublik stärkt. Ein zentraler Baustein dieser Politik des Zusammenhalts ist das Soziale-Orte-Konzept. Dessen Ziel ist nicht die Rückkehr in vermeintlich bessere Zeiten wohlfahrtsstaatlicher Blüte oder realsozialistischen Zwangszusammenhalts. Diesen Homogenisierungs- und Abschließungssehnsüchten ist mit einer Politik zu begegnen, die anerkennt, dass es starke demokratische Institutionen braucht, die flächendeckend den Bürgerinnen und Bürgern Vorsorge und Teilhabe ermöglichen, die ihnen Raum geben, eigene Ideen vor Ort zu entwickeln, und die öffentlichen Infrastrukturen positiv erfahrbar machen. Denn der liberale, soziale und demokratische Verfassungsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst schaffen muss.