So kann es mit dem Sozialstaat nicht weitergehen. Das war der Tenor eines Expertengremiums, das der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder 2002 einberufen und das in den darauf folgenden Jahren unter der Leitung des VW-Personalchefs Peter Hartz grundlegende Reformen des Arbeitsmarkts erarbeitet hatte. Die unter dem Stichwort "Hartz IV" bekannt gewordene Umstrukturierung der sozialstaatlichen Unterstützungsleistungen in Deutschland ist eine der neuesten Episoden einer langen Geschichte, die sich um die Frage dreht, wie mit Armut und materieller Bedürftigkeit gesellschaftlich umgegangen werden soll – und wer dafür in welcher Weise verantwortlich ist. Wer sich in diese Geschichte vertieft, stößt auf eine immer wiederkehrende Grenzziehung, die geradezu als Leitmotiv staatlicher Sozialpolitik, aber auch gesellschaftlicher Debatten über Armut und "Unterschicht" seit dem 18. Jahrhundert bezeichnet werden kann: die Unterscheidung zwischen "verschuldeter" und "unverschuldeter" Armut und die davon abgeleitete Unterscheidung zwischen "unterstützungswürdigen" und "unwürdigen" Armen, den deserving poor und den undeserving poor. In diesem Beitrag werden die Funktionsprinzipien dieses dichotomischen Blicks auf Armut anhand einiger ausgewählter historischer Stationen bis in die Zeit der Spätaufklärung zurückverfolgt und versucht, in aller Kürze zu rekonstruieren, wie er den Diskurs über untere soziale Klassen zu verschiedenen Zeiten geprägt hat. Die Überlegungen beziehen sich in erster Linie auf Deutschland, streifen aber immer wieder auch internationale Entwicklungen.
Der historische Rückblick macht deutlich: Die Differenzierung der sozial schwachen Bevölkerung in solche, die eine Unterstützung der öffentlichen Hand verdient, und solche, die sie nicht verdient haben, hat mit sozialstrukturellen Merkmalen ebenso wenig zu tun wie mit einer Analyse der Kontextbedingungen, in denen sich die Einzelnen einrichten müssen. Sie ist im Kern eine moralische Unterscheidung. Ob man in die Armutszone abrutscht oder nicht, ist demnach eine Frage von Ehrlichkeit oder Unehrlichkeit, von Fleiß oder Faulheit, von Disziplin oder Sichgehenlassen. In einem zweiten Schritt werden den undeserving poor dann bestimmte kulturelle Dispositionen unterstellt: der Hang zur Widersetzlichkeit und zur Verwahrlosung, zur Verschwendung und zum sinnlosen Konsum, zum schlechten Essen und zum schlechten Fernsehen. Im Zuge der deutschen "Unterschichtdebatten" der 2000er Jahre wurden solche Zuschreibungen teils heftig diskutiert; darauf wird noch zurückzukommen sein. Zunächst aber werden einige Schlaglichter auf die Wahrnehmungsgeschichte der Unterklassen geworfen, auf die Moralisierung und Ausgrenzung von Armut und Arbeitslosigkeit, wie sie bei Autoren der deutschen Spätaufklärung ebenso zu finden ist wie bei Karl Marx, in der britischen Sozialforschung des 19. Jahrhunderts ebenso wie in deutschen Sozialreformbewegungen um 1900.
Das Volk und der Pöbel
Um die Unterscheidung einer "guten" und einer "schlechten" Unterklasse historisch zu verfolgen, kann man bis ins Mittelalter oder sogar in die Antike zurückgehen. Zumindest aber sollte man im 18. Jahrhundert ansetzen, in dem eine "Entdeckung des Volkes" in Philosophie und Literatur zu beobachten ist. Autoren wie Jean-Jacques Rousseau und Johann Gottfried Herder feierten damals die Natürlichkeit und Unverbildetheit des "einfachen Volks". Sie meinten damit nicht etwa die Gesamtheit der unterbürgerlichen Schichten, sondern ein idealisiertes Kollektiv, das für ihre Vorstellungen von Ursprünglichkeit und Tradition anschlussfähig war. "Volkspoesie" wurde zu einem Schlüsselkonzept der deutschen Spätaufklärung und dann der Romantik. Nach Herders Idee spiegelte das Volkslied sehr wohl die Nöte und Bedürfnisse der einfachen Leute wider, allerdings nur bis zu einer bestimmten Grenze: "Volk heißt nicht der Pöbel aus den Gassen: der singt und dichtet niemals, sondern schreit und verstümmelt." Aus der elitären Distanz des Intellektuellen heraus bestimmten also Volksfreunde wie Herder, wer zum Volk gehörte und wer nicht. Dieses "Volk" wurde auf dem Feld der Literatur und der Poetik konstruiert, es umfasste die Bauernfamilien und vielleicht noch die Tagelöhner, die – etwa in den Sammlungen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm – als Authentizitätsgaranten alter Erzählungen und Märchen dienten, aber nicht die verelendeten Heimarbeiter, die umherziehenden Wanderhändler und die Insassen der Armenhäuser. Das Volkspoesie-Konzept leistete somit seinen eigenen Beitrag zur Moralisierung der Unterklassen, indem er einen "reinen" und "echten" Teil der von Armut bedrohten Bevölkerung von einem anderen unterschied, der nicht kulturfähig war, der nicht singt und dichtet, sondern eben "schreit und verstümmelt". Pointiert gesagt: Die romantisch-nostalgische Begeisterung für das einfache Volk konnte nur um den Preis der Disqualifizierung des "Pöbels" und seiner rohen Ausdrucksformen etabliert werden.
Wie der Literaturwissenschaftler Michael Gamper ausgeführt hat, diente der dichotomische Blick auf die Unterklassen auch während der Französischen Revolution dazu, ein demokratisches Kollektiv zu konstituieren, ohne gleich die Armutsbevölkerung an der politischen Meinungsbildung beteiligen zu müssen: "Im Besonderen wurde an den Kommentaren der Pariser Ereignisse deutlich, dass die staatsphilosophischen und legislatorischen Bemühungen des 18. Jahrhunderts, welche die Bevölkerung an Formen der Machtausübung beteiligen wollte[n], eine diskursive Spaltung der Bevölkerung implizierte[n]: Es musste ein Stimm- und Wahlvolk konzipiert werden, dessen politische Legitimierung aber die Ausscheidung der unzuverlässigen Elemente, des ‚Pöbels‘ etc. nach sich zog. ‚Gutes Volk‘ vs. ‚schlechter Pöbel‘ wurde zu einem grundlegenden Dualismus der Revolutions-Berichterstattung, der eine immanente Problematik der aufklärerischen Staatstheorie drastisch vor Augen führte." Hier wird klar, dass die Definition des "Volkes" immer auch demokratietheoretische Implikationen hatte. Und so ist die Geschichte der Demokratie bis zur Einführung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts für Männer und Frauen zugleich eine Geschichte verschiedener Varianten der Inklusion und Exklusion: Wer bleibt aus dem Konzept des "Volkes" ausgeschlossen – und mit welcher Begründung?
Das "Volk" und der "Pöbel": Dieser Gegensatz beherrschte den öffentlichen Diskurs über die Unterklassen im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Dabei wirkten alte Muster nach: Obwohl die kirchlich geprägte Armenfürsorge die Armen grundsätzlich als natürlichen Teil einer gottgegebenen ständischen Gesellschaftsordnung ansah, unterschied sie seit dem Spätmittelalter dezidiert zwischen "würdigen" und "unwürdigen" Armen. Im Verlauf der Industrialisierung übernahm die staatliche Sozialpolitik diese Differenzierung und trennte "unverschuldete" von "verschuldeter" Armut. Zentrales Kriterium dieser Differenzierung war die Lohnarbeit, die das Bezugssystem der Armenpolitik bildete. Teilweise nach dem Vorbild des 1834 in England verabschiedeten Poor Law Amendment Act, auf den die Kategorien deserving poor und undeserving poor zurückgehen, wurden in fast allen deutschen Staaten neue Fürsorge- und Wohlfahrtssysteme installiert, Versorgungsleistungen für "verschuldet" in Not Geratene an harte Arbeit in Arbeitshäusern gekoppelt. Hauptziel dieser Reformen war die Senkung der explodierenden Kosten öffentlicher Armenfürsorge – vor allem aber produzierte sie ein Bild vom Armen, der für seine Lage selbst verantwortlich war. Armut war nun zunehmend das Ergebnis persönlichen Fehlverhaltens. Arm zu sein, bedeutete dabei im Wesentlichen, keiner Lohnarbeit nachzugehen, womit die Zuschreibung sozialer und moralischer Defizite einherging. Mitten durch die unteren sozialen Klassen verlief eine Grenzlinie, die "respektable" und "nicht respektable" Existenzen voneinander unterschied. So schrieb der Historiker Geoffrey Best in Bezug auf die englische Armenfürsorge des 19. Jahrhunderts: "Here was the sharpest of all lines of social division, between those who were and those who were not respectable; a sharper line by far than that between rich and poor, employer and employee, or capitalist and proletarian."
Proletariat und Lumpenproletariat
Von der nicht respektablen Arbeiterschaft zum delinquenten Gesindel war es nur ein kleiner Schritt. So sah der liberale Unternehmer und Sozialpolitiker Friedrich Harkort, der für seine Arbeiter wichtige Verbesserungen im Bereich der Krankenversorgung, der Schulbildung und des Arbeitsschutzes einführte, in Teilen der Arbeiterschaft nur "Zuchthauskandidaten". Sein nach der Revolution 1849 publizierter, paternalistischer "Brief an die Arbeiter" verurteilte alle, die "Brod ohne Arbeit verlangen", und er unterschied kategorisch die "braven Arbeiter" von den "Proletariern". "Einen Proletarier nenne ich den, welchen seine Eltern in der Jugend verwahrlost, nicht gewaschen, nicht gestriegelt, weder zum Guten erzogen noch zur Kirche und Schule angehalten haben. Er hat sein Handwerk nicht erlernt, heiratet ohne Brod und setzt seines Gleichen in die Welt, welche stets bereit sind, über anderer Leute Gut herzufallen, und den Krebsschaden der Kommunen bilden."
Paradoxerweise übernahmen auch die Theoretiker der deutschen Arbeiterbewegung, allen voran Karl Marx und Friedrich Engels, die Differenzierung zwischen "guten" und "verwahrlosten" Unterklassen – wenn auch in einer anderen Terminologie und mit anderen Implikationen als bei dem Unternehmer Harkort. Marx versuchte mit Nachdruck, den abwertenden Begriff des Proletariats ins Positive zu wenden, indem er ihn mit dem historischen Prozess der Arbeiterbewegung verknüpfte. Die "Proletarier aller Länder", das waren für Marx nicht die Armen und Abgehängten, sondern die klassenbewussten Arbeiter, die in der Lage waren, die sozialistische Revolution zu tragen. Für den Rest, das Residuum, die absolute Unterschicht, musste Marx daher einen neuen Begriff einführen. Im Anschluss an ältere Bezeichnungen konstruierte er den Terminus "Lumpenproletariat". Lumpenproletariat – das bezeichnete die unorganisierten Unterschichten: "neben verkommenden und abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, (…) Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler" und einige mehr. Für Marx sind diese Lumpenproletarier die "passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft" und für die Revolution nicht zu gebrauchen: "Dies Gesindel ist absolut käuflich."
Überhaupt war es ein Grundzug der deutschen Sozialdemokratie, sich demonstrativ von den untersten Schichten abzugrenzen. Der Sozialismus, so die Argumentation, war schließlich kein Sammelbecken für gescheiterte Existenzen, sondern eine Kulturbewegung. Wenn das klassenbewusste Proletariat aber der "Eckstein der modernen Kulturentwicklung war", wie es der marxistische Publizist Franz Mehring postulierte, dann musste es sich das Subproletariat real und im symbolpolitischen Sinne vom Leib halten. Auf dem Gothaer Parteitag 1896 entbrannte erstaunlicherweise eine heftige Diskussion über Literatur – genauer: über die Frage, wie Unterschichten dort nicht dargestellt werden sollten. Die "Neue Welt", eine Unterhaltungsbeilage zur sozialdemokratischen Presse, hatte die Romane "Der neue Gott" von Hans Land und "Mutter Bertha" von Wilhelm Hegeler abgedruckt – und damit zwei Texte, die realistische Darstellungen von Arbeiterelend boten, inklusive drastischen Schilderungen aus dem Alkoholiker- und Prostituiertenmilieu. Solche Darstellungen, so der führende Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht in Gotha, würden "Körper und Geist der Kinder des Proletariats" ruinieren. Stattdessen solle die Assoziation von Arbeiterschaft und Schmutz peinlich vermieden werden, um die Kulturmission der Sozialdemokratie nicht zu gefährden. Noch lange blieb der deutsche Sozialismus in diesem Sinne auf die Figur des respektablen und disziplinierten sozialdemokratischen Arbeiters fixiert und konnte mit den "Asozialen" nichts anfangen. Damit bestätigte auch die politische Linke die alte Unterscheidung zwischen deserving und undeserving auf ihre eigene Weise. "Die klassische Arbeiterbewegung", so der Historiker Michael Schwartz, "hat diese ursprüngliche traditional-moralische Abgrenzung gegenüber den als asozial stigmatisierten Schichten nie überwunden."
Die Frage nach der Stratifikation und Klassifikation der Gesellschaft beschäftigte schon die Sozialforscher des 19. Jahrhunderts. 1886 startete in England eines der größten Sozialforschungsunternehmen der Zeit, nämlich die von dem Geschäftsmann Charles Booth initiierte Studie "Life and Labour of the People in London", deren Ergebnisse schließlich 1902 bis 1903 in 17 Bänden im Druck erschienen. Zusammen mit seinen Mitarbeitern versuchte Booth, den Anteil der in Armut lebenden Familien an der Londoner Bevölkerung festzustellen. Dabei führte er ein Klassifikationsschema ein, das die Bevölkerung in acht Klassen – von A bis H – einteilte. Die Kategorien A und B bezeichneten nach Booth die unterste Schicht derer, die keiner irgendwie geregelten Arbeit nachgingen, von den "Halbkriminellen" und "Faulenzern" der Klasse A bis zu den "sehr armen" Gelegenheitsarbeitern der Klasse B. Damit war sozialstatistisch festgeschrieben, dass es so etwas wie eine "nutzlose" Unterschicht gab. Insbesondere Klasse A wurde als "Residuum" und "Abschaum" abgestempelt, diese "Barbaren", so Booth, "leisten keinen nützlichen Dienst, schaffen keinerlei Reichtum, eher vernichten sie ihn". Booths Unternehmen war teilweise verknüpft mit den Aktivitäten der 1869 gegründeten Charity Organization Society (COS), die weniger eine Wohltätigkeitsorganisation war als vielmehr ein Versuch, das unterschiedslose Almosengeben zu bekämpfen, das – so die Argumentation – den "Bodensatz" der Gesellschaft am Leben hielt. Damit, so bilanziert der Soziologe Rolf Lindner, ging es Booth wie der COS vor allem darum, "jene gesellschaftlichen Elemente ausfindig zu machen, die nicht bereit (oder in der Lage) sind, sich der Disziplin der industriekapitalistischen Lohnarbeit zu unterwerfen". Diese Denkweise beherrschte viele Sozialreformunternehmungen, die sich um Hilfe am unteren Rand der Gesellschaft bemühten. Wo es um die "Rettung" der Arbeiterschaft vor den Gefahren von Armut, Elend und Sozialismus gehen sollte, blieben häufig die außen vor, die bereits im Elend lebten.
Aus den diffamierenden Diskursen über die "residualen" und "nutzlosen" Elemente der Gesellschaft schälte sich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts die Figur des "Asozialen" heraus. Damit war ein zunehmend biologistisches Verständnis von sozialer Marginalität und sozialer Devianz verbunden: Wer in "verschuldete Armut" geriet oder durch unangepasstes Verhalten auffiel, wurde mittels sozialrassistischer Klassifikationsmuster als notorisch "gemeinschaftsfremd" ausgegrenzt. Dieser Diskurs gewann während der Krisenjahre der Weimarer Republik an Boden und rückte nach 1933 ins Zentrum der staatlichen Politik in Deutschland im Umgang mit den "nicht respektablen" Unterklassen. Im Rahmen der nationalsozialistischen "Volks- und Erbgesundheitspflege" wurden zahllose "Asoziale" und "Gemeinschaftsfremde" sanktioniert, in Konzentrationslager eingewiesen und ermordet. Grundsätzlich fungierte der Begriff des "Asozialen" als eines der konstitutiven Gegenstücke zur Konstruktion des "Volkes" und der "Volksgemeinschaft"; in der Praxis blieb seine Verwendung aber stets schwammig und willkürlich, sodass fallweise auch Juden, Homosexuelle, Sinti und Roma oder politische Oppositionelle mit dieser Zuschreibung belegt wurden.
Die Gewaschenen und die Ungewaschenen
In beiden deutschen Staaten etablierten sich nach 1945 Diskurse sozialer Deklassierung, die in ihren Grundzügen das alte Muster von deserving und undeserving aufgriffen, in denen aber auch immer wieder der Begriff des "Asozialen" vorkam. Der Historiker Christoph Lorke hat gezeigt, dass es sowohl im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik als auch im entwickelten DDR-Sozialismus zu spezifischen De- und Rethematisierungen von "unwürdiger" Armut kam. Im Westen überdeckten die soziologischen Behauptungen einer "Klassengesellschaft im Schmelztiegel" (Theodor Geiger) und einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky) die Tatsache, dass sich diese "Mitte" nach wie vor gegen ein vielfach diffamiertes "Unten" abgrenzte. Im Osten dagegen produzierte der "Aufbau des Sozialismus" eigene Grenzziehungen gegenüber "Dissozialität" und "Asozialität" – wobei der 1968 eingeführte Paragraf 249 die "Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten" sogar strafrechtlich relevant machte. "Unwürdige" Armut bildete so gleichsam "das Fremde im Innern der DDR". Auf diese Weise blieb die Respektabilitätsgrenze als Klassifikationskriterium in beiden deutschen Staaten erstaunlich intakt, was – in neuer Weise – auch für das wiedervereinigte Deutschland gilt. Durch eine Reihe von diskursiven Verschiebungen der 1990er und 2000er Jahre erfuhr der dichotomische, moralisierende Blick auf Armut und Arbeitslosigkeit sogar einen neuen Schub: Ausgerechnet die sozialpolitischen Reformpakete führender sozialdemokratischer Parteien in Europa sorgten dafür, dass nochmals verstärkt in den Kategorien von deserving und undeserving gedacht wurde.
Eine Unterschichtdebatte wurde in den USA schon in den 1980er Jahren geführt, als der Journalist Ken Auletta und der Politikwissenschaftler Charles Murray in ihren Büchern die Existenz einer underclass behaupteten, die Drogenabhängige und entlassene Strafgefangene ebenso umfassen sollte wie Obdachlose, notorische Wohlfahrtsbezieher und illegale Einwanderer. Kernpunkt ihrer Argumentationen war die Unterstellung eines devianten kulturellen Musters von bad values, das sich vom Wertehorizont der bürgerlichen Gesellschaft kategorisch unterschied. Die Zugehörigkeit zur underclass wurde hier also dezidiert auf soziales Handeln und soziale Wertvorstellungen bezogen und damit moralisiert. Diese Debatte liest sich wie ein Vorspann zu dem, was der Berliner Historiker Paul Nolte 2004 in seinem Buch "Generation Reform" schrieb. Auch bei Nolte wurde, so der Soziologe Karl August Chassé, soziale Ungleichheit "nicht nur in klassentheoretischen Begriffen beschrieben", sondern "auf die Lebensweise und die Mentalitäten der betroffenen Gruppen zurückgeführt und insofern kulturalistisch bestimmt". Nolte forderte eine "gestärkte Verantwortung für die eigene Lebensführung" ein, womit das Problem der sozialen Marginalisierung letztlich an die Betroffenen zurückgereicht wurde. Er sprach von "Erziehungskatastrophen" und "kultureller Vernachlässigung" und beschrieb Trash-TV und Fast Food als konstituierende Effekte der Unterschicht. Wenn Nolte zu dem Schluss kommt, Geld sei in vielen Fällen keine Lösung der Probleme, weil es nicht automatisch in Bildung oder bessere Ernährung, sondern "tendenziell innerhalb der Grenzen der eigenen Klassenkultur investiert" werde, dann evoziert er pauschalisierende Vorstellungen von Menschen, die ihre paar Euro in Nordhäuser Doppelkorn, Aldi-Zigaretten, Big-Macs, Pornos und Bezahlfernsehen stecken – und stellt nebenbei fast schon den Sinn sozialstaatlicher Transferleistungen infrage.
Mit einer entlarvenden Szene hat dann der SPD-Vorsitzende Kurt Beck 2006 der kulturalistischen Deutung von Armut und Arbeitslosigkeit weiteren Stoff geliefert: Etwa zwei Monate, nachdem er in einem Interview in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" erklärt hatte, Deutschland habe ein Unterschichtenproblem, rief er einem Langzeiterwerbslosen auf dem Mainzer Weihnachtsmarkt zu: "Wenn Sie sich waschen und rasieren, dann haben Sie in drei Wochen einen Job." Das war eine weitere Variation des alten Themas "Jeder, der will, kann arbeiten", es war aber auch ein sprechender Kommentar zur "aktivierenden Arbeitsmarktpolitik" der Hartz-Gesetze und der sie begleitenden Debatte, "die die Schieflagen, Risiken und Formen struktureller Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt in eine Rhetorik subjektiver Defizite und individuellen Versagens übersetzt und dadurch entpolitisiert". Die von Hartz IV vorgesehene Prüfung der Hilfebedürftigkeit ist dabei ebenso als Disziplinierungsmaßnahme zu werten wie die strengen Zumutbarkeitsregeln und vor allem die Maßnahmen zur Integration in den Arbeitsmarkt. Diese "aktivierende" Politik soll Erwerbslose dazu verpflichten, ihren Status als deserving poor durch Flexibilität, Aktivität und Selbstführung unter Beweis zu stellen. Dabei bedeutete Hartz IV de facto die "größte Kürzung von Sozialleistungen seit 1949", wie es Rüdiger Soldt in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" auf den Punkt brachte.
Ausweg bedingungsloses Grundeinkommen?
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass in den 1990er und 2000er Jahren zwei grundlegende sozialpolitische Konzepte reaktiviert wurden, die wir aus der Geschichte der Armenfürsorge bereits kennen: Erstens setzte man auf das Prinzip der Integration durch Arbeit und bestimmte so die Armut negativ durch den Bezug auf Erwerbsarbeit. Zweitens zielten einige der neuen Ansätze auf die Beeinflussung von Mentalität und Lebensführung – und damit auf Erziehung der Unterklassen. Insbesondere mit der Koppelung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe etablierte die aktivierende Arbeitsmarktpolitik ein Regime, das Armut an die Normvorstellungen geregelter und "nützlicher" Arbeit sowie geordneter, disziplinierter Lebensführung zurückbindet. Aus dieser Perspektive reihen sich die Hartz-Gesetze in eine Geschichte der Moralisierung und Disziplinierung ein, die stets – ob explizit oder implizit – mit den Zuschreibungen von deserving und undeserving operiert. In der gleichen dichotomischen Logik, in der schon "Volk" von "Pöbel" und "Proletariat" von "Lumpenproletariat" unterschieden wurden, stehen sich nun tendenziell wieder ein arbeitendes und ein abgehängtes Prekariat gegenüber.
Wer sich dafür interessiert, wie Hartz-IV-Empfänger im Zeichen einer "Zweiteilung der Gesellschaft in Beschäftigbare und Nicht-Beschäftigbare" mit den Zumutungen dieser stigmatisierenden Situation umgehen, dem seien aktuelle ethnografische Arbeiten wie die brillante Studie "Respektabler Alltag" der Kulturwissenschaftlerin Anna Eckert empfohlen, die sichtbar macht, wie Hartz IV eine machtvolle "Differenzordnung" produziert hat. Eckert zeigt, wie sich Betroffene in der Grauzone von Respektabilität und Nicht-Respektabilität einrichten müssen – und wie sie das teilweise unter Ausnutzung aller verfügbaren materiellen und symbolischen Ressourcen tun.
Eine Chance, diesem Dilemma endlich zu entkommen, wäre die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, wie es seit vielen Jahren – und in vielen verschiedenen Varianten – kontrovers diskutiert wird. In den Debattenbeiträgen zu diesem Thema tauchen Argumente auf, wie sie auch gegen die Unterstützung der undeserving poor immer wieder vorgebracht wurden: Das Grundeinkommen würde die Universalisierung der "sozialen Hängematte" bedeuten; es wäre, so etwa der damalige Generalsekretär der SPD, Hubertus Heil, heute Arbeits- und Sozialminister, eine "Stillegungsprämie", die Menschen mit Geld abfinde, anstatt sie zur Arbeit zu motivieren.Der niederländische Historiker Rutger Bregman lehnt solche Einwände ab und hält die Ergebnisse zahlreicher Pilotstudien und Experimente dagegen. Er zitiert unter anderem den Ökonomen Charles Kenny mit dem einprägsamen Satz: "Wenn Menschen arm sind, so liegt das vor allem daran, dass sie nicht genug Geld haben." Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Geschichte moralisierender Diskurse über die Unterklassen wäre die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ein wahrhaft historischer Einschnitt. Ein solches Modell würde die alten Denkmuster von welfare und workfare überwinden und vor allem ein neues Verständnis von Eigenverantwortung etablieren helfen: Eigenverantwortung würde dann nicht mehr bedeuten, im Rahmen staatlicher Disziplinierungsmaßnahmen kooperieren und die eigene Arbeitskraft oft weit unter Wert verkaufen zu müssen, sondern sie wäre eine Chance, das Leben auch unter schwierigen Umständen mit sanktionsfrei zur Verfügung stehenden Mitteln – und damit in voller Respektabilität – in die Hand nehmen zu können.