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Fördern und Fordern als erfolgreiches Leitprinzip | Hartz IV | bpb.de

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Fördern und Fordern als erfolgreiches Leitprinzip

Bodo Aretz Jan Fries Christoph M. Schmidt

/ 6 Minuten zu lesen

Zu Beginn des laufenden Jahrhunderts wurden als Reaktion auf eine verfestigte Massenarbeitslosigkeit Reformen der Ordnung des deutschen Arbeitsmarkts umgesetzt. Sie folgten einem bewährten, aber hierbei neu akzentuierten sozialstaatlichen Leitprinzip, der Einheit von "Fördern und Fordern". Dieses Prinzip lässt sich gedanklich durch einen Dreiklang von Argumenten begründen:

Erstens können Phasen der Beschäftigungslosigkeit grundsätzlich überwunden werden; da sie in einem marktwirtschaftlich organisierten Arbeitsmarkt nicht zu vermeiden sind, muss der Staat im Sinne des Förderns eine Arbeitsvermittlung bereitstellen, die nach höchstmöglicher Professionalität strebt. Zweitens kann sich Beschäftigungslosigkeit über die Zeit verfestigen; diese negative Pfadabhängigkeit zu vermeiden, ist wichtiger als die Abfederung der direkten wirtschaftlichen Konsequenzen der Beschäftigungslosigkeit, solange die existenzielle Absicherung der Betroffenen befriedigend gewährleistet ist. Drittens erfordert die Befreiung aus der Beschäftigungslosigkeit eigene Anstrengungen; primäres arbeitsmarkt- und sozialpolitisches Instrument sollte daher im Sinne des Forderns die Hilfe zur Selbsthilfe (die "Aktivierung") sein, von den Betroffenen kann ein gewisses Maß an Eigenverantwortung und Flexibilität erwartet werden.

Der Schlussstein der 2003 bis 2005 in diesem Geist umgesetzten Hartz-Reformen war – als Reformpaket "Hartz IV" – die ab 2005 geltende Zusammenlegung der bisherigen Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II. Da dieses "ALG II" nicht an das Einkommen in der vorherigen Beschäftigung gebunden ist, ist sein niedriges Niveau vor allem für ehemals besserverdienende Langzeitarbeitslose vergleichsweise unattraktiv. Dies war kein Zufall, da man mit dieser Reform insbesondere diese Gruppe durch ihre stärkere "Aktivierung" aus der Beschäftigungslosigkeit holen wollte.

Neues Arbeitsmarktgleichgewicht

Dies ist auch durchaus eindrucksvoll gelungen: 2005 waren rund 26 Millionen Personen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Demgegenüber standen rund fünf Millionen registrierte Arbeitslose, davon nahezu zwei Millionen Langzeitarbeitslose. Von diesem für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft unverdaulichen Ausgangszustand kannte die Entwicklung in den Folgejahren nur eine Richtung: Die Beschäftigung ist kontinuierlich gestiegen und die Arbeitslosigkeit drastisch zurückgegangen. Im Laufe des Jahrzehnts nach der Umsetzung wurden die Anzahl der Arbeitslosen und die der Langzeitarbeitslosen jeweils mehr als halbiert, auf 2,3 Millionen registrierte Arbeitslose beziehungsweise 800.000 Langzeitarbeitslose im Jahr 2018. Im selben Zeitraum stieg die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf 33 Millionen Personen.

Typischerweise wechselten Arbeitslose zunächst in eine atypische Beschäftigung. Zudem stiegen die Anzahl der geringfügig Beschäftigten, insbesondere im Nebenjob, sowie der Zeitarbeitnehmer stark an, getragen unter anderem von der Reform der Arbeitsmarktordnung. Der Beschäftigungsaufwuchs des vergangenen Jahrzehnts beruhte dennoch keineswegs vor allem auf prekärer Beschäftigung, blickt man auf den massiven Anstieg der Normalarbeitsverhältnisse. Besonders bemerkenswert ist der Anstieg der Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren.

Nun ist nach der Reform natürlich nicht wegen der Reform. Der vielfach als "deutsches Beschäftigungswunder" gefeierte – aus Sicht der den Hartz-Reformen vorangegangenen Jahrzehnte auch schier unglaubliche – Abbau der hohen Sockelarbeitslosigkeit wurde zweifellos von einer Reihe von Faktoren getragen, etwa einer lang anhaltenden Phase der Lohnmoderation. Eine eindeutige Zuordnung dieser grandiosen Erfolgsgeschichte zu den Hartz-Reformen wäre genauso naiv, wie es töricht wäre, ihren Beitrag völlig zu verleugnen. Um hier eine überzeugende Antwort zu geben, ist empirische Forschung gefordert.

Wir wissen inzwischen relativ viel über die Wirksamkeit einzelner Elemente des Pakets der Hartz-Reformen, etwa über die Wirksamkeit der Neuausrichtung der Arbeitsvermittlung oder einzelne Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik. Dabei wurden insbesondere Weiterbildungsmaßnahmen für Arbeitslose, Eingliederungszuschüsse und Überbrückungsgeld sowie die Deregulierung von Zeitarbeit und die Einführung von Mini-Jobs positiv bewertet. Auf Basis verschiedenster empirischer Ansätze zeigt sich, dass anscheinend die Übergänge aus der Arbeitslosigkeit in Beschäftigung durch die Hartz-Reformen beflügelt wurden, was vor allem den Hartz-I- und Hartz-III-Reformen, aber durchaus auch der Hartz-IV-Reform zugerechnet wird. Studien zufolge ist aufgrund der Hartz-IV-Reform die sich in einem langfristigen Arbeitsmarktgleichgewicht ergebende "strukturelle" Arbeitslosigkeit gefallen. Die Reform hat also einen spürbaren Beitrag zum "deutschen Arbeitsmarktwunder" geleistet. Dabei waren zwar solche Langzeitarbeitslosen eher Verlierer der Reform, die zuvor einer gut bezahlten Beschäftigung nachgingen. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht war die Reform jedoch aufgrund ihres Beitrags zum Abbau der Arbeitslosigkeit sehr erfolgreich.

Rückschritte vermeiden

Wenngleich die zu beobachtende Halbierung der Arbeitslosigkeit und der massive Beschäftigungsaufwuchs somit nur zu einem gewissen Teil – vermutlich etwa einem Viertel – von den Hartz-Reformen getragen wurden, ist der aktuelle Diskurs über deren "Korrektur" mehr als leichtfertig. Denn dabei wird offenbar vergessen, wie sehr man vorher händeringend nach Wegen gesucht hatte, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Die auf dem sinnvollen Prinzip des Förderns und Forderns aufgebaute Arbeitsmarktordnung gilt es zu bewahren, um das mittlerweile erreichte niedrige strukturelle Niveau der Arbeitslosigkeit zu erhalten. Das kann nicht dadurch gelingen, dass für einzelne Gruppen von Arbeitsuchenden auf das Fordern weitgehend verzichtet wird.

Dies käme zudem angesichts des demografischen Wandels und der umfassenden und rapide verlaufenden Digitalisierung des Arbeitsmarkts völlig zur Unzeit: In der digitalisierten Arbeitswelt der Zukunft wird es insbesondere für die Älteren darauf ankommen, bei einem Verlust des bisherigen Arbeitsplatzes nicht den Anschluss zu verlieren, sondern rasch eine neue Beschäftigung aufzunehmen. Wenn die Arbeitsmarktordnung sinnvoll weiter reformiert werden soll, dann muss es um zukunftsgerichtete Aspekte gehen wie die Überprüfung der Grundsicherung in einer Lebenszyklusperspektive, die Weiterentwicklung der aktivierenden Instrumente oder die Verzahnung von Arbeitsmarktpolitik, Familienpolitik und Einwanderungspolitik.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Christoph M. Schmidt, Geht doch: Zur Evaluation großer Reformpakete am Beispiel der Arbeitsmarktpolitik, in: Claudia M. Buch/Regina T. Riphahn (Hrsg.), Evaluierung von Finanzmarktreformen – Lehren aus den Politikfeldern Arbeitsmarkt, Gesundheit und Familie, Halle 2019, S. 17–33.

  2. Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Vor wichtigen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen, Jahresgutachten 2018/19, Wiesbaden 2018.

  3. Vgl. Thomas Rothe/Klaus Wälde, Where Did All the Unemployed Go? Non-standard Work in Germany after the Hartz Reforms, Nürnberg 2017.

  4. Vgl. Sabine Klinger/Enzo Weber, Zweitbeschäftigungen in Deutschland: Immer mehr Menschen haben einen Nebenjob, Nürnberg 2017.

  5. Vgl. Michael C. Burda, The German Labor Market Miracle, 2003–2015: An Assessment, Berlin 2016; ders./Jennifer Hunt, What Explains the German Labor Market Miracle in the Great Recession? The Evaluation of Inflation Dynamics and the Great Recession, Washington, D.C. 2011; ders./Stefanie Seele, Das deutsche Arbeitsmarktwunder: Eine Bilanz, Berlin 2017; Christian Dustmann et al., From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany’s Resurgent Economy, Nashville 2013; Alexander Herzog-Stein/Fabian Lindner/Simon Sturn, The German Employment Miracle in the Great Recession: The Significance and Institutional Foundations of Temporary Working-Time Reductions, Oxford 2017.

  6. Vgl. Hugh Mosley et al., Evaluation der Maßnahmen zu Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission. Modul 1a: Neuausrichtung der Vermittlungsprozesse, Berlin–Bonn 2005; Hilmar Schneider et al., Evaluation der Maßnahmen zur Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission. Modul 1b: Förderung beruflicher Weiterbildung und Transferleistungen, Bonn–Berlin 2006; Frank Schiemann et al., Evaluation der Maßnahmen zur Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission. Modul 1c: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Berlin u.a. 2006; Frank Wießner et al., Evaluation der Maßnahmen zur Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission. Modul 1e: Existenzgründungen, Nürnberg u.a. 2006; Thomas Zwick et al., Evaluation der Maßnahmen zur Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission. Modul 1d: Eingliederungszuschüsse und Entgeltsicherung, Nürnberg u.a. 2006.

  7. Vgl. Lena Jacobi/Jochen Kluve, Before and After the Hartz Reforms: The Performance of Active Labour Market Policy in Germany, Nürnberg 2007.

  8. Vgl. Michael Fertig, Evaluation der Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission. Modul 1f: Verbesserung der beschäftigungspolitischen Rahmenbedingungen und Makrowirkungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, Essen 2006; René Fahr/Uwe Sunde, Did the Hartz Reforms Speed-Up the Matching Process? A Macro-Evaluation Using Empirical Matching Functions, Hoboken 2009; Matthias S. Hertweck/Oliver Sigrist, The Aggregate Effects of the Hartz Reforms in Germany, Berlin 2013; Andrey Launov/Klaus Wälde, The Employment Effect of Reforming a Public Employment Agency, Amsterdam 2016.

  9. Vgl. Michael U. Krause/Harald Uhlig, Transitions in the German Labor Market: Structure and Crisis, Amsterdam 2012; Tom Krebs/Martin Scheffel, Macroeconomic Evaluation of Labor Market Reform in Germany, Heidelberg 2017.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Bodo Aretz, Jan Fries, Christoph M. Schmidt für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist promovierter Volkswirt und war bis Anfang 2019 Referent im wissenschaftlichen Stab des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

ist promovierter Volkswirt und Referent für Arbeitsmarktökonomik im wissenschaftlichen Stab des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. E-Mail Link: jan.fries@svr-wirtschaft.de

ist Präsident des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, Professor an der Ruhr-Universität Bochum und Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. E-Mail Link: praesident@rwi-essen.de