Zu Beginn des laufenden Jahrhunderts wurden als Reaktion auf eine verfestigte Massenarbeitslosigkeit Reformen der Ordnung des deutschen Arbeitsmarkts umgesetzt. Sie folgten einem bewährten, aber hierbei neu akzentuierten sozialstaatlichen Leitprinzip, der Einheit von "Fördern und Fordern". Dieses Prinzip lässt sich gedanklich durch einen Dreiklang von Argumenten begründen:
Erstens können Phasen der Beschäftigungslosigkeit grundsätzlich überwunden werden; da sie in einem marktwirtschaftlich organisierten Arbeitsmarkt nicht zu vermeiden sind, muss der Staat im Sinne des Förderns eine Arbeitsvermittlung bereitstellen, die nach höchstmöglicher Professionalität strebt. Zweitens kann sich Beschäftigungslosigkeit über die Zeit verfestigen; diese negative Pfadabhängigkeit zu vermeiden, ist wichtiger als die Abfederung der direkten wirtschaftlichen Konsequenzen der Beschäftigungslosigkeit, solange die existenzielle Absicherung der Betroffenen befriedigend gewährleistet ist. Drittens erfordert die Befreiung aus der Beschäftigungslosigkeit eigene Anstrengungen; primäres arbeitsmarkt- und sozialpolitisches Instrument sollte daher im Sinne des Forderns die Hilfe zur Selbsthilfe (die "Aktivierung") sein, von den Betroffenen kann ein gewisses Maß an Eigenverantwortung und Flexibilität erwartet werden.
Der Schlussstein der 2003 bis 2005 in diesem Geist umgesetzten Hartz-Reformen war – als Reformpaket "Hartz IV" – die ab 2005 geltende Zusammenlegung der bisherigen Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II. Da dieses "ALG II" nicht an das Einkommen in der vorherigen Beschäftigung gebunden ist, ist sein niedriges Niveau vor allem für ehemals besserverdienende Langzeitarbeitslose vergleichsweise unattraktiv. Dies war kein Zufall, da man mit dieser Reform insbesondere diese Gruppe durch ihre stärkere "Aktivierung" aus der Beschäftigungslosigkeit holen wollte.
Neues Arbeitsmarktgleichgewicht
Dies ist auch durchaus eindrucksvoll gelungen: 2005 waren rund 26 Millionen Personen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Demgegenüber standen rund fünf Millionen registrierte Arbeitslose, davon nahezu zwei Millionen Langzeitarbeitslose. Von diesem für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft unverdaulichen Ausgangszustand kannte die Entwicklung in den Folgejahren nur eine Richtung: Die Beschäftigung ist kontinuierlich gestiegen und die Arbeitslosigkeit drastisch zurückgegangen. Im Laufe des Jahrzehnts nach der Umsetzung wurden die Anzahl der Arbeitslosen und die der Langzeitarbeitslosen jeweils mehr als halbiert, auf 2,3 Millionen registrierte Arbeitslose beziehungsweise 800.000 Langzeitarbeitslose im Jahr 2018. Im selben Zeitraum stieg die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf 33 Millionen Personen.
Typischerweise wechselten Arbeitslose zunächst in eine atypische Beschäftigung.
Nun ist nach der Reform natürlich nicht wegen der Reform. Der vielfach als "deutsches Beschäftigungswunder" gefeierte – aus Sicht der den Hartz-Reformen vorangegangenen Jahrzehnte auch schier unglaubliche – Abbau der hohen Sockelarbeitslosigkeit wurde zweifellos von einer Reihe von Faktoren getragen, etwa einer lang anhaltenden Phase der Lohnmoderation. Eine eindeutige Zuordnung dieser grandiosen Erfolgsgeschichte zu den Hartz-Reformen wäre genauso naiv, wie es töricht wäre, ihren Beitrag völlig zu verleugnen. Um hier eine überzeugende Antwort zu geben, ist empirische Forschung gefordert.
Wir wissen inzwischen relativ viel über die Wirksamkeit einzelner Elemente des Pakets der Hartz-Reformen, etwa über die Wirksamkeit der Neuausrichtung der Arbeitsvermittlung oder einzelne Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik.
Rückschritte vermeiden
Wenngleich die zu beobachtende Halbierung der Arbeitslosigkeit und der massive Beschäftigungsaufwuchs somit nur zu einem gewissen Teil – vermutlich etwa einem Viertel – von den Hartz-Reformen getragen wurden, ist der aktuelle Diskurs über deren "Korrektur" mehr als leichtfertig. Denn dabei wird offenbar vergessen, wie sehr man vorher händeringend nach Wegen gesucht hatte, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Die auf dem sinnvollen Prinzip des Förderns und Forderns aufgebaute Arbeitsmarktordnung gilt es zu bewahren, um das mittlerweile erreichte niedrige strukturelle Niveau der Arbeitslosigkeit zu erhalten. Das kann nicht dadurch gelingen, dass für einzelne Gruppen von Arbeitsuchenden auf das Fordern weitgehend verzichtet wird.
Dies käme zudem angesichts des demografischen Wandels und der umfassenden und rapide verlaufenden Digitalisierung des Arbeitsmarkts völlig zur Unzeit: In der digitalisierten Arbeitswelt der Zukunft wird es insbesondere für die Älteren darauf ankommen, bei einem Verlust des bisherigen Arbeitsplatzes nicht den Anschluss zu verlieren, sondern rasch eine neue Beschäftigung aufzunehmen. Wenn die Arbeitsmarktordnung sinnvoll weiter reformiert werden soll, dann muss es um zukunftsgerichtete Aspekte gehen wie die Überprüfung der Grundsicherung in einer Lebenszyklusperspektive, die Weiterentwicklung der aktivierenden Instrumente oder die Verzahnung von Arbeitsmarktpolitik, Familienpolitik und Einwanderungspolitik.