Gegenüber dem Leipziger Gewandhaus steht ein Bauwerk aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, dessen Giebel das Tympanon eines antiken Tempels imitiert. Darauf eingemeißelt ist der Satz: "Omnia vincit labor", die Arbeit besiegt alles. Über der Inschrift stehen zwei Skulpturen von Arbeitern, die abwechselnd mit schweren Klöppeln die Glocke schlagen. Das Krochsche Hochhaus, so der Name des Gebäudes, hämmert zu Beginn des Industriezeitalters den Menschen eine Weisheit aus Vergils Lehrgedicht über den Landbau ein: Arbeit ist uns Fluch und Verheißung.
Seit Aristoteles galt die Überzeugung, Arbeit sei die von Gott gegebene Bestimmung der Menschen. Der Wert der Arbeit erschöpft sich längst nicht nur in der Erzielung von Einkommen. Noch die entfremdetste Tätigkeit enthält einen Rest von Sinngebung. Der deutsche Philosoph G.W.F. Hegel bestand darauf, jeder Teilnehmer am Leistungsaustausch auf dem Markt (oder in der Fabrik) habe das Recht, sein Brot zu verdienen, mithin sich und seine Familie auf dem kulturell gegebenen Niveau zu ernähren.
Wenn das stimmt, ist allein die Möglichkeit einer Welt, der die Arbeit auszugehen droht, der worst case. Die Erfahrung von Arbeitslosigkeit entzieht nicht nur Einkommen, sondern zerstört die ganze Existenz. Man lässt den Dingen ihren Lauf, wird apathisch, verliert allen Elan.
Erfolg eines gemäßigten Neoliberalismus
Im Jahr 2005, als die Hartz-Reformen in Kraft traten, waren in Deutschland fast fünf Millionen Menschen ohne Arbeit, davon 1,8 Millionen Langzeitarbeitslose, die länger als ein Jahr keine Arbeit hatten. Dass es je wieder Vollbeschäftigung geben könnte, wurde von vielen als Illusion verworfen. Und jetzt? Mitte 2019 hat sich die Zahl der Arbeitslosen im Vergleich zu 2005 mehr als halbiert, auf 2,3 Millionen. Es gibt nur noch gut 700.000 Langzeitarbeitslose. In Deutschland sind 45 Millionen Menschen erwerbstätig – das ist Rekordbeschäftigung; 33 Millionen darunter in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen – ebenfalls eine Rekordzahl, die den Vorwurf entkräftet, der Preis der neu gewonnenen Arbeit seien vornehmlich prekäre Beschäftigungsverhältnisse. In vielen Regionen Deutschlands herrscht inzwischen Vollbeschäftigung. Die Entlassungsquote liegt auf dem niedrigsten Wert seit der Wiedervereinigung. Die Zahl der offenen Stellen hingegen hat einen neuen Rekordwert erreicht.
Wie immer man es deutet: Dass der Weg noch weiter hinein in die Massenarbeitslosigkeit gestoppt wurde, ist eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Zeit von 1973 bis 2005 war eine Phase der Unterbeschäftigung, die nun – vorerst – zu Ende ist. Wir leben in Zeiten eines Job-Booms. Gefahren einer möglichen Rezession im Sommer 2019 lassen den Arbeitsmarkt – bisher – unberührt und robust.
Waren es die Hartz-Reformen, die für diese Trendwende der Beschäftigung verantwortlich sind? In Kürze nur so viel:
Die Reformen haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Wahrscheinlichkeit, eine Stelle zu finden, ist um rund 10 Prozent angestiegen, während die Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden, um 30 Prozent gesunken ist. Hartz IV hat auch dafür gesorgt, dass das "Matching" zwischen offenen Stellen und Arbeitssuchenden enorm verbessert wurde.
Es könnte sogar sein, dass der größte Erfolg von Hartz IV gar nicht darin bestand, neue Stellen zu schaffen, sondern den Abbau der Beschäftigung zu verhindern.
Die Reformen der Agenda 2010 insgesamt haben die Zufriedenheit der Bürger in Deutschland deutlich verbessert, die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Partizipation, die in einer Arbeitsgesellschaft an Arbeit gekoppelt ist, verbessert und – nicht zu vergessen – das Einkommen vieler erhöht.
Es war das erklärte Ziel der Reformen, Arbeit attraktiv und Arbeitslosigkeit unattraktiv werden zu lassen. Dahinter steht die Überzeugung, Arbeit – selbst unter ungünstigen Bedingungen – sei allemal der Arbeitslosigkeit vorzuziehen. Man kann diesen Systemwechsel mit guten Gründen als Rückkehr zu den Ursprüngen der Sozialen Marktwirtschaft deuten, die sich den Grundsätzen der Freiburger Schule verpflichtet weiß: eine "Verschiebung des Leitbildes von der Vollversorgung zur Eigenverantwortung".
Das entsprach dem politischen Lebensgefühl der späten 1990er Jahre: Ein Sozialstaat, der für die Menschen keine Arbeit hat, kann auch nicht sozial sein. Kanzler Schröder (und seine Berater) waren beeindruckt vom damaligen britischen Premierminister Tony Blair, der mit einem "dritten Weg" die "neue Mitte" der Gesellschaft erreichen wollte: Ein "aktivierender Sozialstaat" sollte die "Beschäftigungsfähigkeit" (employability) der Menschen befördern. Das war ein gemäßigter Neoliberalismus, der durchaus die Grundüberzeugungen der vormaligen liberalen Regierungschefin Margaret Thatcher teilte. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die Sozialdemokraten mit dem Liberalismus Ernst gemacht haben, während die Reformen der Kohl-Regierung sich in einer ziemlich folgenlosen Rhetorik der "geistig-moralischen Wende" erschöpften. Indes ist dieser gemäßigte Neoliberalismus der SPD nicht wesensfremd. Er speist sich aus dem Leistungsethos der Arbeiterschaft, das die Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert prägte.
Warum die Verelendungstheorie versagt
Diese Erfolgsgeschichte der Hartz-Reformen widerspricht in nahezu allen Punkten dem linken Narrativ eines epochalen Sozialabbaus, einer Lesart, der Die Linke als Partei bekanntlich neben der SED der DDR ihre Existenz verdankt. Folgt man dem Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, bedeuten die Hartz-Reformen "eine Verschlechterung in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens".
Diese Verelendungstheorie, die auch von anderen vertreten wird, umfasst im Wesentlichen die folgenden Deutungen: Die Hartz-Reformen seien erstens das Ende des Sozialstaates, wie wir ihn kannten, sie hätten zweitens ein neues Prekariat arbeitender Armer (working poor) geschaffen und am Ende, drittens, die Ungleichheit im Land vergrößert. Diese fatale Ungerechtigkeit der Hartz-Reformen habe, viertens, auch politische Risiken – "Neoliberalismus bringt Rechtsradikalismus". Nichts davon lässt sich belegen.
Erstens ist es verfehlt, Hartz IV als "sozialen Kahlschlag" zu brandmarken. Dass seit 2005 die Ausgaben für die Arbeitslosigkeit zurückgehen, ist wahr. Doch dies ist der verbesserten Beschäftigung geschuldet, die weniger Transferzahlungen erforderlich machte. Arbeitslosigkeit kommt die Allgemeinheit heute billiger zu stehen als vor den Reformen. Das bedeutet nicht, dass der Sozialstaat insgesamt geschrumpft wäre. Im Gegenteil: Insgesamt sind die Sozialausgaben stärker als das Wachstum auf inzwischen knapp eine Billion Euro angeschwollen. Das sind fast 50 Prozent mehr als Mitte der 2000er Jahre.
Man kann noch weiter gehen: Dass die Deutschen sich diesen Ausbau des Sozialstaats leisten konnten, ist Folge der Hartz-Reformen, die für sprudelnde Steuereinnahmen und üppige Sozialbeiträge mitverantwortlich sind. Wenn mehr Menschen Arbeit haben, zahlen sie mehr Einkommensteuern und insgesamt mehr Versicherungsbeiträge für die Risiken Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Alter. Sie konsumieren mehr, was die Binnennachfrage stärkt – und abermals über die Mehrwertsteuer mehr Geld in die öffentlichen Kassen spült. Dies (verbunden mit niedrigen Zinsen) brachte den deutschen Finanzminister in die komfortable Lage, den Staat auszubauen, ohne neue Schulden machen zu müssen. Vollbeschäftigung ist nicht nur ein Gewinn in sich und für die Menschen, die nicht mehr arbeitslos sind. Es ist auch eine soziale Wohltat für das Land.
Dass es, zweitens, Armut in Deutschland gibt, ist unbestritten. Dass es zugleich Armutsschicksale gibt, die von Generation zu Generation in "Hartz-Familien" weitervererbt werden, ist ebenfalls unbestritten – und bitter. Aber das alles hat es auch schon vor den Reformen gegeben: Familien, die aus der "Stütze", wie man die Sozialhilfe damals nannte, nicht heraus kamen. Es stimmt auch, dass die Armutsgefährdung in Deutschland gestiegen ist:
Die Zunahme des Armutsrisikos liegt in dem gestiegenen Anteil an Personen mit Migrationshintergrund; die Armutsquote bei Personen ohne Migrationshintergrund dagegen hat sich in den vergangenen 25 Jahren wenig verändert.
Auch der Anteil der Vollzeiterwerbspersonen ist seit 1984 nicht gesunken; er liegt konstant bei 40 Prozent. Hätte die Prekarisierungstheorie Recht, müssten sich Verschlechterungen zeigen. Die Zahl der Mini-Jobber oder Soloselbstständigen ist nicht in die Höhe geschossen.
Ohne Zumutungen wäre das nicht zu machen. Hartz IV bindet die Unterstützung durch den Staat an die Bereitschaft zur Arbeitssuche und Arbeitsaufnahme und an die Selbstverständlichkeit, sich bei der Arbeitsagentur beraten zu lassen. Hartz IV besteht auch darauf, das Vermögen (jenseits von Freibeträgen des Schonvermögens) auf die Transfers anzurechnen: Das entspricht dem Subsidiaritätsprinzip der Sozialen Marktwirtschaft. Einzig die hohe Transferentzugsrate für Empfänger von Arbeitslosengeld II ist ein schwerer Systemfehler, denn er vergrößert die Schwelle zur Aufnahme von Arbeit, was kontraproduktiv ist. Dazu gibt es inzwischen aber gute Korrekturvorschläge.
Völlig verfehlt ist es, drittens, zu behaupten, Hartz IV habe die Ungleichheit vergrößert. Das Gegenteil ist wahr: Die Ungleichheit der Einkommen hat zwar seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts zugenommen, wie überall in den entwickelten Ländern. Doch die Spreizung der Einkommen ist 2005 zum Stillstand gekommen, ausgerechnet in jenem Jahr, in dem die Gesetze in Kraft getreten sind. In Deutschland liegt der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit misst, bei 0,29.
Viertens wird für den Erfolg des Rechtspopulismus alles und jedes verantwortlich gemacht. An erster Stelle stehen aber definitiv nicht die Reformen des Arbeitsmarktes, sondern der Schock der Migration von 2015. Eine maßgebliche Rekrutierungsbasis sind nicht die arbeitslosen Hartz-IV-Bezieher, sondern jene Zurückgebliebenen, die – zu Recht oder zu Unrecht – wähnen, die Migranten zögen als privilegierte "Einwanderer in den Sozialstaat" an ihnen vorbei.
Fazit
Die Agenda-2010-Reformen und mit ihnen die Hartz-Reformen sind ein Beleg für die Leistungsfähigkeit des deutschen Modells der Sozialen Marktwirtschaft und nicht, wie die Linke behauptet, Ausweis seiner Kapitulation. Die Reformen mögen die Linke gespalten haben – in SPD, Linke und sozialchauvinistische Teile der AfD –, aber sie haben die Gesellschaft geeint, weil sie – gewiss über subjektiv nicht immer attraktive Anreize – in großem Stil Teilhabe wieder ermöglicht haben. Teilhabe ist in einer Arbeitsgesellschaft nur über Arbeit möglich. Die ökonomische Spaltung in Arbeitslose und Arbeitsplatzbesitzer wurde – zumindest von der Tendenz her – überwunden, verbunden mit beträchtlichen Erfolgen: Die Zahl der Arbeitslosen wurde mehr als halbiert.
Das ist kein neoliberaler Fluch, sondern humaner Segen staatlicher Souveränität. Es ist der demokratische Staat, der, legitimiert durch das souveräne Volk, die Rahmenbedingungen setzt und, wenn Modernisierung nötig ist, verändert.