Das im Volksmund "Hartz IV" genannte Gesetz war keine Arbeitsmarkt- oder Sozialreform wie jede andere. Denn das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene, vom damaligen Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement als "Mutter aller Reformen" gewürdigte Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt hat die Bundesrepublik so tief greifend verändert wie sonst kaum eine innenpolitische Entscheidung von Parlament und Regierung.
Betroffene und Profiteure
Insgesamt haben seit Anfang 2005 etwa 20 Millionen Personen zumindest eine Zeit lang die Grundsicherungsleistungen der Bundesagentur für Arbeit bezogen. Aufgrund der hohen personellen Fluktuation innerhalb des Grundsicherungssystems haben sehr viele Bürger/innen einmal oder sogar wiederholt die deprimierende Erfahrung von Hartz-IV-Hilfebedürftigkeit gemacht. Dass die Gesamtzahl der Transferleistungsempfänger/innen zuletzt ebenso abgenommen hat wie die relative Höhe der Zahlbeträge, liegt nicht etwa an einem Rückgang der materiellen Bedürftigkeit von Leistungsberechtigten, sondern primär an den durch die Hartz-Reformen drastisch verschärften Anspruchsvoraussetzungen, Kontrollmechanismen und Repressalien der für die Leistungsgewährung zuständigen Jobcenter und Sozial- beziehungsweise Grundsicherungsämter.
Durch das Gesetz hat sich die finanzielle Situation von Millionen Langzeit- beziehungsweise Dauererwerbslosen und ihren Familien spürbar verschlechtert. Insbesondere durch das Abdrängen der Langzeiterwerbslosen, die vorher Arbeitslosenhilfe erhalten hatten, in den Fürsorgebereich mit seinen für alle gleich niedrigen Transferleistungen trug Hartz IV dazu bei, dass sich die Kinderarmut beinahe verdoppelte. Gab es im Dezember 2004, also unmittelbar vor dem Inkrafttreten des Gesetzespakets, 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die Sozialhilfe bezogen, so lebten im Dezember 2017 etwas mehr als zwei Millionen und im Dezember 2018 knapp unter zwei Millionen unverheiratete Minderjährige von Hartz-IV-Leistungen.
Stark betroffen waren Ostdeutsche, alleinerziehende Mütter und Migranten, deren soziale Probleme sich durch Hartz IV verschärften. Weil das Arbeitslosengeld II als ergänzende Transferleistung zu einem geringen Lohn konzipiert war, dürfte Hartz IV außerdem entscheidend dazu beigetragen haben, dass der Niedriglohnsektor, das Haupteinfallstor für heutige Erwerbs-, Familien- und Kinderarmut wie für spätere Altersarmut, mittlerweile beinahe ein Viertel der Beschäftigten umfasst. Ungefähr eine Million der Arbeitslosengeld-II-Bezieher/innen sind gar nicht arbeitslos, sondern können von dem Lohn, den sie erhalten, bloß nicht leben, ohne ergänzend Hartz IV in Anspruch zu nehmen.
In der politischen, medialen und Fachöffentlichkeit bleibt die Frage, ob Hartz IV arm macht oder ob damit erfolgreich Armutsprävention betrieben wird, bis heute umstritten. Das verwundert kaum, weil "Armut" ein politisch-normativer, sehr komplexer, mehrdimensionaler sowie moralisch und emotional aufgeladener Begriff ist.
Wie das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) errechnete, wurden Hartz-IV-Bezieher/innen in den vergangenen Jahren immer mehr von der allgemeinen Einkommensentwicklung abgekoppelt. Sowohl absolut wie relativ hat sich der Abstand zwischen dem Regelbedarf (ohne Miet- und Heizkosten) und der Armutsgefährdungsschwelle, die laut einer EU-Konvention bei 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt, seit Einführung von Hartz IV erheblich vergrößert. Betrug er 2006 noch 401 Euro (absolut) und 53,8 Prozent (relativ), stieg er bis 2018 auf 619 Euro beziehungsweise 59,8 Prozent.
Inge Hannemann, jahrelang Mitarbeiterin eines Jobcenters, klagt darüber, dass die Menschlichkeit bei dem Versuch, die Vermittlung, Beratung und Begleitung von Personen auf ihrer Suche nach Erwerbstätigkeit in betriebswirtschaftliche Zahlen umzuwandeln, auf der Strecke geblieben sei.
Unterscheidet man zwischen Betroffenen und Profiteur(inn)en der Arbeitsmarktreform, gibt es neben den Verlierergruppen auch Nutznießer/innen und Gewinner/innen. Dazu gehörten bisherige Sozialhilfebezieher/innen, die erwerbsfähig waren und nun die Eingliederungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit in Anspruch nehmen konnten, sofern die Jobcenter sie in deren Genuss kommen ließen und ihre Fördermaßnahmen nicht auf Höherqualifizierte konzentrierten. Die eigentlichen Profiteure der rot-grünen Arbeitsmarktreformen waren jedoch Unternehmen auf der Suche nach Arbeitskräften, die möglichst billig, willig und wehrlos sein sollten. "Getreu dem Grundsatz, wonach (nahezu) jede Arbeit besser ist als keine, zielt Hartz IV auf die möglichst umfassende Internalisierung eines allgemeinen Arbeitszwangs."
Mit dem Gesetz wurde nicht bloß enormer Druck auf Langzeiterwerbslose, sondern auch auf das Lohnniveau ausgeübt. Reallohnverluste vor allem im unteren Einkommensbereich waren die Folge. Aufgrund der verschärften Zumutbarkeitsregeln und der massiven Sanktionsdrohungen führt Hartz IV dem Niedriglohnsektor ständig neuen Nachschub zu. Unter dem Damoklesschwert von Hartz IV sind Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften außerdem eher bereit, schlechte Arbeitsbedingungen und/oder niedrigere Löhne zu akzeptieren. Schließlich bescheren sinkende Löhne und Gehälter von Arbeitnehmer(inne)n deren Arbeitgebern höhere Gewinne. Für die Bezieher/innen von Arbeitslosengeld II ist Hartz IV ein Disziplinierungsinstrument und für "normale" Arbeitnehmer/innen eine Drohkulisse und ein Druckmittel. Hingegen bieten die Grundsicherungsleistungen für Arbeitgeber die Möglichkeit, Hartz IV gewinnsteigernd als Kombilohnmodell zu nutzen. Für exzessives Lohndumping betreibende Unternehmer, die überwiegend aus der Leiharbeitsbranche stammen, bildet das an sogenannte Erwerbsaufstocker/innen gezahlte Arbeitslosengeld II eine indirekte Subvention, deren Höhe sich auf über zehn Milliarden Euro pro Jahr beläuft.
Veränderungen des sozialen Klimas und der politischen Kultur
Hartz IV hat einen sozialen Klimawandel bewirkt und die politische Kultur der Bundesrepublik nachhaltig beschädigt. Stärker als vor der Arbeitsmarktreform werden Langzeit- und Dauererwerbslose öffentlich als "Drückeberger", "Faulenzer" und "Sozialschmarotzer" diffamiert. Hatte man die Bezieher/innen der mit Hartz IV abgeschafften Arbeitslosenhilfe noch als früher Sozialversicherte und ehemalige Beitragszahler/innen wahrgenommen, wurden Langzeiterwerbslose nach dem Inkrafttreten von Hartz IV und Medienberichten über die steigende Belastung des Bundeshaushalts durch das Arbeitslosengeld II, das Sozialgeld und die Übernahme eines Teils der Unterkunftskosten häufiger als faule Müßig- beziehungsweise teure Kostgänger/innen des Steuerstaates empfunden, was sich im Gefolge der globalen Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008/09 verstärkte.
Arbeitslosengeld-II-Bezieher/innen und ihre Kinder werden als "Hartzer" verlacht und sozial ausgegrenzt. Wilhelm Heitmeyer, damaliger Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld (IKG), machte eine "neue Verhöhnung" aus, die seit der Reform in weiten Bevölkerungskreisen um sich gegriffen habe. Daraus zog der Journalist Bruno Schrep den Schluss, dass die Solidargemeinschaft der Bundesbürger/innen auseinandergebrochen sei: "Viele Arbeitsplatzbesitzer, viele Nichtbetroffene haben einen stillschweigenden Pakt geschlossen: Sie grenzen sich von den Hartz-IV-Empfängern ab, reißen Witze über sie, vermeiden Kontakte, brechen Freundschaften ab. Dahinter steckt die pure Angst, womöglich schon bald selbst betroffen zu sein."
Hier liegt ein wichtiger Grund für die Herausbildung einer Subkultur im Bereich der Arbeitslosengeld-II-Empfänger/innen samt ihren Familien, die von Hartz-IV-Kochbüchern über Sozialkaufhäuser bis zu Hartz-IV-Kneipen reicht, wo Leistungsbedürftige unter sich bleiben und ihr Bier zu Niedrigpreisen trinken. Manchmal scheint es, als ob innerhalb der Bundesrepublik zwei Welten oder eine "Parallelgesellschaft" existieren. In den Hochhausvierteln am Rand der Großstädte besuchen die "Abgehängten" jene Suppenküchen, die sich heute nobel "Lebensmitteltafeln" nennen und deren Zahl nach 2005 rapide anstieg,
In den vergangenen 15 Jahren waren hierzulande neben Tendenzen der Entsicherung und Entsolidarisierung auch Prozesse der Entdemokratisierung zu beobachten. Hartz-IV-Bezieher/innen werden nicht bloß sozial ausgegrenzt, sondern auch politisch ins Abseits gedrängt. Das parlamentarisch-demokratische Repräsentativsystem befindet sich in einer Krise, das wegen seiner Stabilität gerühmte Modell der "Volksparteien" franst aus, und die politische Partizipationsbereitschaft sozial Benachteiligter sinkt. "Während Bessergestellte weiterhin mit hoher Wahrscheinlichkeit wählen, bleiben viele Arme zu Hause."
Hauptleidtragende der Erosionstendenzen im parteipolitischen Raum ist die SPD, innerhalb der Hartz IV von Anfang an stark umstritten war. Selbst als die damalige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles im November 2018 erklärte, Hartz IV "hinter sich lassen" zu wollen, hatte sie nicht alle Spitzenfunktionäre hinter sich. Dass die SPD aufgrund der Agenda 2010 hunderttausende Mitglieder und mehrere Millionen Wähler/innen verlor, hat sie nicht zu glaubwürdiger Selbstkritik veranlasst. Statt die "aktivierende" Arbeitsmarktpolitik für grundfalsch zu erklären, räumt man nur ein, dass sie heute fehl am Platze sei, weil inzwischen Fachkräftemangel statt Massenarbeitslosigkeit herrsche. Unterschwellig lautet die Botschaft: Wenn der Arbeitsmarkt in dem sich anbahnenden Konjunkturrückgang erneut aus den Fugen gerät, machen wir dieselbe Politik wie damals Gerhard Schröder und Wolfgang Clement.
Dabei hat deren Regierungspraxis den Niedergang der SPD eingeleitet, und zwar nicht bloß wegen der massenhaften Enttäuschung davon (potenziell) Betroffener, sondern auch, weil die Partei ihre eigene sozialstrukturelle Basis mit Hartz IV zerstört hat. An die Stelle aufstiegsorientierter und selbstbewusster Facharbeiter/innen sind vielfach Niedriglöhner/innen getreten, die nicht mehr aus Traditionsbewusstsein oder in alter Verbundenheit die SPD unterstützen, sondern aus Enttäuschung über deren Politik und die eigene soziale Perspektivlosigkeit gar nicht mehr oder womöglich die AfD wählen, deren Parteiname sie als erhoffte "Alternative" zum Neoliberalismus ausweist. Schließlich haben Gerhard Schröder und Angela Merkel ihren Regierungskurs allzu oft als "alternativlos" dargestellt. "Indem die etablierten Kräfte, einschließlich beträchtlicher Teile der politischen Linken, sich der neoliberalen Sachzwangslogik ergeben haben, kann der Rechtspopulismus sich als die Kraft inszenieren, die ein Primat der Politik wiederherstellt."
Dass die Angst vor dem sozialen Abstieg durch Hartz IV bis zur Mitte der Gesellschaft vorgedrungen ist, nutzt der AfD ebenfalls. Angst verleitet Menschen zu irrationalen Reaktionen, weshalb sich das deutsche Kleinbürgertum in ökonomischen Krisen- und gesellschaftlichen Umbruchsituationen politisch vorwiegend nach rechts orientiert. Erfolgreich ist der Rechtspopulismus auch, weil seine Mittelschichtsideologie eine Zwangslage fleißiger Bürger/innen zwischen "korrupten Eliten" und "faulen Unterschichten" konstruiert. Mittelschichtangehörige, denen die etablierten Parteien keinen Schutz vor Deklassierung bieten, erkennen ihr Weltbild in dem rechtspopulistischen Narrativ wieder, dass sie als die eigentlichen Leistungsträger/innen der Gesellschaft nach Strich und Faden ausgeplündert werden.
Wenn sich außerdem die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft, die sozioökonomische Ungleichheit wächst und der gesellschaftliche Zusammenhalt schwindet, gerät die Demokratie in Gefahr. Dass die Bundesrepublik heute vor einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zerreißprobe steht, ist nicht zuletzt Hartz IV geschuldet.