Einleitung
Die "Hurricane-Saison" des Jahres 2005 hatte nicht nur verheerende Folgen für weite Landstriche des amerikanischen Südens. Sie offenbarte auch peinliche Schwächen des Präsidenten George W. Bush und seiner Administration beim Krisenmanagement. Am 1.November dieses Jahres konnte die amerikanische Fernsehöffentlichkeit darüber nachdenken, ob eine Frau im Oval Office besser mit solchen Krisen umgegangen wäre. An diesem Tag wurde die Folge "First Desaster" der neuen TV-Serie Commander in Chief ausgestrahlt - einer Serie, in der erstmals eine Frau das mächtigste Amt der Welt innehat. Mackenzie Allen, die als parteiungebundene Vizepräsidentin nach dem Tod des Amtsinhabers die Nachfolge im Weißen Haus antritt, führt der amerikanischen Nation anschaulich vor Augen, wie es sich anfühlt, eine Präsidentin zu haben.
Der Sender ABC hat die Serie mit prominenten Schauspielern wie Geena Davis und Donald Sutherland ins Rennen geschickt, und der Erfolg im "Prime Time"-Programm blieb nicht aus. Neben aktuellen Problemen wie Hurricanes und Umweltpolitik, Terrorismus und neuer Weltordnung sowie den üblichen innenpolitischen Querelen werden in der Serie die "Innenansichten der Macht" gezeigt: Dazu gehören etwa Einblicke in das schwierige Privatleben einer Präsidentin mit drei Kindern und in die vergleichsweise neuen Rollenprobleme eines beruflich erfolgreichen Mannes, der sich plötzlich in der Position eines "First Husbands" mit einem pinkfarben eingerichteten Büro wiederfindet. Solche Probleme stellen sich für die Amerikaner nicht mehr ganz so fiktiv dar, seit in der Öffentlichkeit über einen möglichen Präsidentschaftswahlkampf zwischen Hillary Clinton und Condoleezza Rice spekuliert wird.
Nun könnte man denken, wir Deutschen seien da schon viel weiter. Mit Angela Merkel im Kanzleramt und einem gestandenen Professor der Humboldt-Universität als Gatte ist hier längst das Realität, was die Amerikaner noch in einer fiktionalen Fernsehwelt vorgeführt bekommen. Andererseits sind die Formen, in denen hierzulande das Politische medial reflektiert wird, in starkem Maße geprägt durch amerikanische Vorbilder. Das wurde im Wahljahr 2005 noch einmal verstärkt deutlich: nicht nur im US-importierten Format des TV-Duells, das mit einer Reichweite von ca. 21 Millionen Zuschauern Einschaltquoten-Rekorde brach, sondern auch mit der ZDF-Serie Kanzleramt, die erstmals im deutschen Fernsehen das Geschehen der großen Politik in diesem Lande zum Gegenstand einer aufwändig produzierten TV-Serie machte.
Ist diese Serie, die deutlich dem amerikanischen Vorbild The West Wing verpflichtet war,
Im Folgenden sollen nach einer kurzen Reflexion über den Zusammenhang von politischer Kultur und Medienkultur einige Überlegungen angestellt werden, die den Stellenwert medialer Entwicklungen für das öffentliche Bild der Politik in Deutschland thematisieren und auch aufzeigen, wie scheinbar ganz "unpolitische" Sendeformate die politische Kultur des Landes prägen können.
Medienkultur und politische Kultur
Der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Annahme einer engen Verzahnung von Medienkultur und politischer Kultur. Erst in dieser Perspektive kann deutlich werden, worin sich die enorme politische Bedeutung von Medienkommunikation begründet - auch und gerade dann, wenn es sich um fiktionale und unterhaltende Medienformate handelt. Fernsehsendungen, so die im Folgenden zu begründende These, sind ein wichtiger Bestandteil des politisch-kulturellen Prozesses in modernen Gegenwartsgesellschaften.
Wenn hier von politischer Kultur gesprochen wird, dann zielt der Begriff auf "die für eine soziale Gruppe maßgebenden Grundannahmen über die politische Welt und damit verknüpfte operative Ideen (...). Diese Grundannahmen stellen so etwas wie Maßstäbe dar, an Hand derer Politik wahrgenommen, interpretiert und beurteilt wird."
Moderne Gesellschaften sind in immer größerem Maße zu Mediengesellschaften geworden. Neueren Studien zufolge erstreckt sich in Deutschland der durchschnittliche Medienkonsum pro Tag auf etwa 600 Minuten.
Der Zeichen- und Wahrnehmungsraum, der durch die Medien umschrieben wird, definiert den Menschen ihre Selbstverständlichkeiten und Normalitäten.
Erstens fungiert der Mediendiskurs als Befestigung des kulturellen Status quo. Mediensysteme sind heute in der Regel marktförmig organisiert, und die Anbieter müssen darauf achten, dass sie die Erwartungen des Publikums möglichst genau bedienen. Erwartungen, Normalitätsvorstellungen, Werte und Sinnkonstrukte werden somit stabilisiert und auf Dauer gestellt. Dies ist insofern wichtig, als die "Partitur" politisch-kultureller Vorstellungs- und Deutungsmuster einer ständigen "Aufführung" bedarf, wenn sie nicht verblassen oder zur bloßen Folklore verkommen soll. Die Medien führen uns - beinahe rituell - die geltenden Selbstverständlichkeiten in immer wieder neuer Form vor und halten sie somit im kulturellen Gedächtnis lebendig. Medien sind in diesem Sinne ein Moment der politischen Soziokultur.
Zweitens werden Veränderungstendenzen unterstützt - wenn sie von einflussreichen Akteuren aufgegriffen werden oder aufgrund ihres Aufmerksamkeitswertes besonders mediengängig sind. Daher können Medien immer auch Verstärker von Wandlungsprozessen sein, indem sie etwas "Neues" - eine neue Wertpräferenz, einen neuen Way of Life - immer wieder in den öffentlichen Wahrnehmungsraum bringen, dadurch "normalisieren" und auch in anderen Teilen der Bevölkerung akzeptabel machen.
Solche Wandlungsprozesse können von Seiten einer politischen Deutungskultur auch bewusst vorangetrieben werden. Deutungskulturelle Aktivitäten sind dabei keineswegs auf den Informationssektor der Medienkultur beschränkt. In zunehmendem Maße wird der Unterhaltungssektor zum Forum politischer Kommunikation.
Die wichtigste Funktion der Massenmedien liegt also darin, politische Kultur und den Kampf um die Deutung von politischen Realitäten sichtbar zu machen. Vorstellungswelten, Werte, Normalitäten und Identitäten nehmen hier weithin wahrnehmbar sinnliche Gestalt an. Diese Visibilisierung des Kulturellen ist die Grundvoraussetzung für die Präsenz einer politischen Kultur im Wahrnehmungsraum der Bürger.
Politik im "Kanzleramt"
Über lange Zeit hinweg zeigte das deutsche Fernsehen - ganz ähnlich wie der deutsche Kinofilm - eine weitgehende Abstinenz gegenüber den Themen und Figuren der "großen Politik". Erst im Herbst des Wahljahres 1998 machte bemerkenswerterweise der Privatsender Sat.1 den Anfang, indem ein deutscher Kanzlerkandidat zur Hauptfigur eines Polit-Thrillers avancierte.
In der hochkarätig besetzten Produktion Macht wurde vorgeführt, wie ein moralisch fragwürdig agierender Spitzenpolitiker entführt und letztlich nur durch das couragierte Handeln seiner Ehefrau gerettet wird. Er begreift, dass er zum Opfer jenes Intrigenspiels wurde, das er selbst über lange Jahre aktiv mitgestaltet hat. Moralisch geläutert tritt er am Ende des Films von allen seinen Ämtern zurück. Ein solches Szenario bleibt letztlich, auch wenn es im Format eines spannenden Thrillers nach amerikanischem Zuschnitt dargeboten wird, der alten deutschen Tradition einer tiefgreifenden Politik-Skepsis verbunden, in der das politische Geschäft als schmutziges Geschäft erscheint und folglich nur der Unpolitische seine Integrität dauerhaft bewahren kann.
Ungeachtet dieser spezifischen Ausrichtung hat der Sat.1-Film 1998 doch einer neuen Entwicklung den Weg bereitet, die den thematischen Focus immer häufiger auf die "große Politik" setzt, dabei jedoch gleichsam einen anderen, insgesamt positiveren Zugang zu einer Welt wählt, die dem Erfahrungshorizont der meisten Bürger ziemlich fern ist. Im Wahljahr 2005 erreichte diese Entwicklung ihren vorläufigen Höhepunkt. Mit der aufwändig produzierten Serie Kanzleramt, die von März bis Juni des Jahres 2005 in 12 Folgen jeweils am Mittwoch im Hauptabendprogramm gesendet wurde, traten renommierte deutsche Fernsehschauspieler an, um einen Blick auf die inneren Mechanismen der Macht in der Hauptstadt Berlin zu eröffnen.
Im Mittelpunkt der Serie steht die Figur des Bundeskanzlers Andreas Weyer, gespielt von Klaus J. Behrendt. Behrendt hatte seit 1993 in der actionbetonten Krimiserie A.S. auf Sat.1 mitgewirkt. Seit 1997 verkörpert er erfolgreich den impulsiven und tatkräftigen Kölner "Tatort"-Kommissar Max Ballauf. Diese durch den Schauspieler hergestellte intertextuelle Semantik eines Menschen, der sich nicht primär durch taktische Brillanz, Weltgewandtheit oder Feinsinnigkeit, sondern durch Erdung und (mitunter auch körperliche) Durchsetzungskraft auszeichnet, passt gut in den Rollenzuschnitt des fiktiven Bundeskanzlers hinein. Der Berufspolitiker erscheint hier nicht als glatter Machtmensch, sondern als handfeste Type mit Ecken und Kanten, der man grundsätzlich auch an der Theke in der Eckkneipe begegnen könnte. Die Figur dieses instinktsicher agierenden Politikers, der zunächst eine Lehre absolviert und dann erst studiert hatte und dessen Sprache die Herkunft aus einfachen sozialen Verhältnissen nicht leugnet, lässt durchaus Parallelen zum damaligen Kanzler Gerhard Schröder erkennen.
Ihm zur Seite agieren in der Serie Kanzleramtschef Norbert Kraft (Robert Atzorn), Büroleiterin Birte Schmitz (Rita Russek), Regierungssprecher Conny Bergmann (Herbert Knaup), Redenschreiber Alexander Nachtweih (Heikko Deutschmann) und die außenpolitische Beraterin Edith Lambert (Claudia Michelsen). Diese Mannschaft im Zentrum der Macht bildet die Figurenkonstellation, um die sich der politische Prozess im Kanzleramt dreht. Hinzu kommen private Figuren: allen voran Nina, die halbwüchsige Tochter des verwitweten Kanzlers, die alterstypische Bedürfnisse und Probleme weiblicher Teenager vorführt; eine Ärztin, mit der Kanzler Weyer zarte Bande knüpft; der Ex-Mann der Büroleiterin, der seine Beziehung nutzen will, um Aufträge für die eigene Firma an Land zu ziehen; und schließlich die schwangere Ehefrau des Redenschreibers, die an der permanenten Abwesenheit ihres Mannes zu verzweifeln droht. Die einzelnen Folgen bieten also eine Mischung aus Politik und "Human Interest", die dazu dient, den Unterhaltungsbedürfnissen der Zuschauer gerecht zu werden und das politische Personal als Menschen "wie du und ich" mit je spezifischen Schwächen erscheinen zu lassen. Zudem werden Anleihen bei anderen Genres gemacht, beispielsweise beim Agententhriller in der Folge "Schattenkrieger".
Die politischen Geschichten sind durchaus realitätsnah angelegt
Die Hauptfiguren sind allerdings grundsätzlich positiv gezeichnet. Schurken und reine Machtmenschen erscheinen nur an der Peripherie. Es handelt sich um verantwortungsbewusste, dem Gemeinwohl verpflichtete Akteure, die zwar jeweils ihre persönlichen Schwächen haben, insgesamt jedoch die für eine solche Serie erforderlichen Identifikationspotentiale im Sinne einer Wir-Gemeinschaft mit dem Zuschauer aufbauen. Wenngleich dies unrealistisch anmutende Züge aufwies, so wurde doch die "Erdung" des Szenarios dadurch erreicht, dass die Akteure bei der Wahl ihrer Mittel keineswegs reine Gutmenschen waren. Die Realpolitik des Kanzleramts sieht auch Intrigen, Täuschungen, ja Formen der Erpressung als legitime Mittel vor, wenn es zur Organisation einer parlamentarischen Mehrheit oder zur Durchsetzung eines Wunschkandidaten in einem politischen Amt erforderlich ist. Und es wird gezeigt, dass häufig nicht einfach zu bestimmen ist, was jeweils im Sinne des Gemeinwohls als richtig gelten soll: Ist es die moralische Verpflichtung zur Wahrung der Menschenrechte oder ist es der lukrative Handelsvertrag, der wiederum heimische Arbeitsplätze sichert? Zu einfache Antworten werden dabei vermieden, es bleibt Raum für jene Ambivalenz, die oft auch reales politisches Handeln kennzeichnet.
Die Bildgestaltung der Serie transportiert visuell jenen Glanz und den partiellen Monumentalismus, wie er in der neuen Hauptstadtarchitektur Berlins präsent ist. Die Gebäude sind groß, modern, architektonisch interessant gestaltet. Der Einrichtungsstil der Räumlichkeiten ist schick, die Akteure bewegen sich in der Regel gut gekleidet durch die Szene.
Es ist interessant, dass die Serie Kanzleramt in der Zuschauergunst nicht so erfolgreich war, wie es sich zu Beginn abzeichnete und wie es von den Machern auch erwartet worden war, die nach dem zunächst guten Start schon von weiteren Staffeln sprachen. Hatte die mit großem Werbeaufwand vorbereitete erste Folge der Serie am 23. März noch fast fünf Millionen Zuschauer und damit etwa 15 Prozent Marktanteil, fiel die Reichweite in den folgenden Wochen stetig ab. Am letzten Sendetag im Juni erreichte die ausgestrahlte Doppelfolge nur noch knapp über eine Million Zuschauer. Für diese schlechte Entwicklung lassen sich vielfältige Ursachen benennen, etwa die eines ungünstigen Sendeplatzes mit häufiger Konkurrenz zu Fußballübertragungen und Polit-Talks wie Hart aber fair. Vielleicht waren große Teile des Publikums auch nicht bereit, dieses vergleichsweise positive Bild der politischen Akteure anzunehmen in einer Zeit, in der das Image der Politiker eher schlecht war. Oder aber das politisch-kulturell verankerte Misstrauen gegenüber dem "schmutzigen Geschäft" der Politik wirkt noch immer nach und man macht sich lieber im Stil von Kabarett und Comedy lustig über die Politiker, als in ihnen heldenhafte Vorkämpfer für das Wohl der Gemeinschaft zu sehen. Hier zeigt sich eine deutliche Differenz zum amerikanischen Kontext: Auch die US-Zuschauer wissen, dass Politiker in der Regel keine Helden sind; aber als symbolische Form, als inszenierte Wirklichkeit des Politischen und auch als positives Bild dessen, wie es in der Politik sein sollte, wissen sie solche fiktionalen Welten durchaus zu schätzen.
Dennoch zeigt die Serie und zeigen zahlreiche andere Filme, in denen die neue Hauptstadtarchitektur immer mehr in den visuellen Mittelpunkt der Politikinszenierung rückt, eine Veränderung an. Der Blick auf die große Politik "amerikanisiert" sich. Die politische Ordnung bekommt ein charismatisches Zentrum, eine symbolisch verdichtete Sinnstruktur, über die sich zunehmend die kollektive Identifikation der Bürger mit dem Gemeinwesen organisieren wird. Die Filme popularisieren dieses charismatische Zentrum, indem sie es von der physischen Präsenz ablösen und in Millionen Wohnzimmer hineintragen. Diese politische Ästhetik und Ikonographie bewegt sich in Richtung dessen, was "Washington" für die politische Symbolik der USA bedeutet. Allerdings haben wir es, wie in der Architektur auch, niemals mit ungebrochenem Pathos und Monumentalität zu tun, sondern mit symbolischen Formen, die in der Demonstration neuen Selbstbewusstseins stets das Bewusstsein für das Problematische der eigenen Geschichte bewahren. Sowohl der umgestaltete Reichstag als auch das Holocaust-Denkmal stehen für diese neue Identität, die das Charismatische mit vielfachen Brüchen durchaus zu vereinbaren weiß. Und so sind auch die Helden der neuen Polit-Unterhaltung im Fernsehen nie wirklich strahlende, sondern immer etwas gebrochene und leicht ambivalente Helden.
Große und kleine Politik
Ungeachtet der Schwierigkeiten von Kanzleramt ist zu prognostizieren, dass es mit der unterhaltenden Thematisierung der "großen Politik" weitergehen wird; und diese Visualisierungen werden zu einer weiteren Umgestaltung der öffentlichen Wahrnehmung der Politik und damit der politischen Kultur des Landes beitragen. Ein Symptom dafür sind zwei ARD-Produktionen, die Amt und Person des Bundeskanzlers aus ganz unterschiedlicher Perspektive beleuchtet haben. Auf der einen Seite die Romanze Küss mich, Kanzler (2004), auf der anderen Seite das Drama Spiele der Macht (2005). Während der letztgenannte Film durchaus noch starke Bezüge zur politik-kritischen Tradition aufweist und die Ambivalenzen der Macht in den Mittelpunkt stellt, weist die Romanze in eine andere Richtung. Die Liebesgeschichte zeigt Anklänge an die Hollywood-Produktion The American President (1995), in der Michael Douglas als verwitweter Präsident Shepherd eine Liebesbeziehung zu einer Umweltaktivistin aufnimmt. Nach einigen Turbulenzen findet er sein privates Glück, und darüber hinaus gelingt ihm auch die Arbeit als Politiker besser. In der deutschen Variante ist es der attraktive Bundeskanzler (Robert Atzorn), der sich von seiner untreuen Frau trennt und statt dessen in eine polnische Migrantin verliebt, die im Kanzleramt putzt, obwohl sie studierte Zahnärztin ist. Die Machart des Films mit der Hauptstadtarchitektur als Kulisse und einem attraktiven Darstellerpaar, das nach vielen (komischen) Verwicklungen zueinander findet,
Das alltägliche Erscheinungsbild des Politischen im Unterhaltungsfilm sieht in Deutschland jedoch noch immer anders aus. Nicht Kanzler und Minister, sondern allenfalls kommunalpolitische Größen, Polizeipräsidenten und korrupte Amtsträger auf niederer Ebene bevölkern die Szenerie. Politik findet hier vor allem statt als Kampf um Anerkennung, der zwischen verschiedenen sozialen Schichten, ethnischen Gruppen, Geschlechtern und Generationen, zwischen "Ossis und Wessis" sowie immer wieder zwischen Mehrheiten und Randgruppen ausgefochten wird.
Die Gegenwart der Vergangenheit
Damit ist das Stichwort für ein weiteres Merkmal der Kontinuität gegeben. Wie oben bereits angedeutet, liegt ein spezifischer Unterschied zwischen der medialen Politikinszenierung in Deutschland und den USA noch immer darin, dass die Differenz in den historischen Erfahrungen zum Tragen kommt. Die politische Kultur ist hierzulande nach wie vor ohne den identitätsstiftenden Bezug zur nationalsozialistischen Vergangenheit nicht vorstellbar, und dies schlägt sich auch im medialen Bild des Politischen nieder.
Populäre Dokumentationen über die NS-Zeit erfreuen sich einer ungebrochenen Nachfrage.
Vor diesem Hintergrund erscheint es nur plausibel, dass mit fiktionalen oder zumindest teilfiktionalen Formen der Aufarbeitung dieser Thematik große Zuschauerzahlen erzielt werden. Das gilt etwa für Speer und Er (2005), ein zweiteiliges Dokudrama des renommierten Autors und Regisseurs Heinrich Breloer. Durch die Montage von dokumentarischem Material und hochkarätig besetzten Spielszenen erreicht diese Realitätskonstruktion der politischen Vergangenheit eine ästhetische und emotionale Intensität, wie sie über rein dokumentarische Formen kaum möglich wäre. Gleichzeitig wird die Fiktion durch das Dokumentarische jeweils beglaubigt und auf den harten Boden historischer Tatsachen zurückgeholt.
Noch einen Schritt weiter ging die Kino-Produktion Der Untergang (2004), die auch international große Aufmerksamkeit erregte und im vergangenen Jahr in einer verlängerten Fassung im Fernsehen zu sehen war.
Politik im Trash-Format
Neben der "großen Politik", der neuartigen Behandlung der NS-Vergangenheit und den vielfältigen politischen Dimensionen im Bereich von Tatort-Krimis und anderen Unterhaltungsfilmen darf ein neues Feld der medialen Politikinszenierung nicht übersehen werden. Es ist verortet im Bereich der so genannten "Trash-Formate", die gerade aus einer konsequenten Absage an die Normen des guten Geschmacks und des guten Benehmens heraus so etwas wie Kultstatus gewinnen.
Die RTL-Dschungel-Show, die es in bislang zwei Staffeln nach angelsächsischem Vorbild auf immens hohe Einschaltquoten brachte,
Die Akteure müssen jeweils nicht nur die gruppendynamischen Prozesse aushalten und sich beim Zuschauer beliebt (oder auch gerade unbeliebt) machen, sondern so genannte "Dschungelprüfungen" bestehen, durch die das Abendessen der Gruppe beschafft werden kann. Dadurch werden wie in einem Mikrokosmos Funktionsmechanismen und Spannungslinien der Gesellschaft fassbar, die sonst viel abstrakter blieben. Eine komplexe Struktur aus Konkurrenz- und Kooperationsbeziehungen ist hier angelegt, die sorgsam aufgebaut wurde und wie in einer spieltheoretisch konstruierten Laborsituation ein ganzes Potpourri rationaler Handlungsalternativen aufspannt, die hinsichtlich des möglichst großen Spielerfolgs ausgewählt werden müssen. Hinzu kommt, dass die spezifische Konstellation im Dschungelcamp mit Leistungsdruck und Ressourcenverknappung durchaus Fragen der Verteilungsgerechtigkeit aufwirft, die in der ökonomisch geschwächten Gesellschaft dieser Tage von hohem Wiedererkennungswert sind. Wer bekommt was wofür? Wer übt Solidarität mit wem? Wer hat das Sagen und verteilt die zu erledigenden Aufgaben unter den Beteiligten nach welchen Regeln - allesamt zutiefst politische Fragen.
Ein entscheidendes Moment, das sich schon bei Big Brother kommerziell bewährt hat, ist die Zuschauerbeteiligung. Das Publikum kann per Telefon darüber abstimmen, welcher Kandidat jeweils zur Prüfung gehen soll und darüber, wer das Camp schließlich zu verlassen hat. Diese "plebiszitäre Wende" des Fernsehens macht das Publikum in noch höherem Ausmaß zum Entscheider, als es dies durch die Quotenorientierung auf dem Medienmarkt ohnehin schon ist. Politisch findet sich der Mediennutzer daher in der Position des Souveräns wieder. Er kann seine Kandidaten wie bei einer politischen Wahl küren oder abwählen.
Entscheidend aber ist - hier hilft der Blick der Cultural Studies weiter -, was die Zuschauer im Prozess der Aneignung konkret aus dem Angebot machen. Sicher, man empfindet Vergnügen an den Missgeschicken der Kandidaten und an den Kämpfen und Intrigen, die im Lager ausgefochten und gesponnen werden. Aber die Zuschauer nutzen das Trash-Format auch dazu, über den Umgang der Generationen miteinander, über Respekt und Anerkennung zu diskutieren, weil sich zum Beispiel der jugendliche Kandidat Daniel Küblböck in einem heftigen Streit respektlos gegenüber dem älteren Kandidaten Costa Cordalis benommen hat.
In nächtelangen Diskussionen erörterte ein Teil des Publikums, wie Alter, Achtung und Respekt sinnvollerweise miteinander gekoppelt sein sollten.
Der Trash wird gleichsam unverhofft und unbeabsichtigt zum Forum der politischen Kommunikation und Werteerziehung. Während Politiker und Medienwächter noch über den sittengefährdenden Zynismus derartiger Shows diskutierten, nutzten die jungen Zuschauer die Sendungen als Plattform, um lebensnah und orientiert an ihren eigenen Problemen und Bedürfnissen identitätsbildende Diskurse zu führen. Auch das ist hinter der grellen Fassade der Medienunterhaltung eine höchst politische Angelegenheit, die nicht verdummend wirkt, wie es das Vorurteil will, sondern Materialien bietet, die Mediennutzer konstruktiv nutzen können.
Politik als Fiktion markiert also keineswegs eine Abkehr von der politischen Wirklichkeit, sondern einen unterhaltend gestalteten Raum der Reflexion und der Diskussion, der wertvolle Beiträge zum Prozess der politischen Kultur leisten kann.