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Reformen des Sozialstaates Editorial Aktivierender Wohlfahrtsstaat und sozialpolitische Steuerung Ordnungspolitische Perspektiven für die Krankenversicherung Die sozialen Kosten der Ökonomisierung von Gesundheit Die demographische Herausforderung der Alterssicherung Gerechtigkeit durch Sozialpolitik?

Gerechtigkeit durch Sozialpolitik?

Michael Opielka

/ 14 Minuten zu lesen

Nur eine mehrdimensionale Perspektive auf Gerechtigkeit erscheint angemessen. Sozialpolitik institutionalisiert heute soziale Gerechtigkeit, wie mit dem analytischen Rahmen der Wohlfahrtsregime gezeigt werden kann.

Einleitung

Gerechtigkeit ist multidimensional. Wenn Sozialpolitik Gerechtigkeit fördern soll, wird es notwendigerweise komplex. Im Folgenden geht es um eine Reduktion dieser Komplexität, ohne sie zu verletzen. Wir konzentrieren uns auf soziale Gerechtigkeit und lassen damit andere Aspekte der Gerechtigkeit außer Acht, beispielsweise das gerechte Handeln in kleinen Gemeinschaften oder die Frage, wie der Einzelne göttlichen und natürlichen Gesetzen gerecht wird.

Soziale Gerechtigkeit kann auf den ersten Blick vor allem als Programm gegen Ungleichheit verstanden werden. Doch damit gelangt man noch nicht zur gewünschten Klarheit. Denn auch Ungleichheit hat verschiedene Dimensionen, zum Beispiel Einkommen, Vermögen, Talente, Geschlecht oder Bildung. Hinzu kommt die stets strittige Frage, was Sozialpolitik, ja Politik überhaupt und wem gegenüber verändern kann. Es scheint also sinnvoll, den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Sozialpolitik etwas grundsätzlicher zu analysieren. Es wird sich zeigen, dass Sozialpolitik zur Gerechtigkeit in der Tat sehr wesentlich beitragen kann.

Gerechtigkeit als Tausch oder als Wert

In der gegenwärtigen Diskussion sozialer -allgemeiner: politischer - Gerechtigkeit kommt niemand umhin, auf das wohl einflussreichste Buch des 20. Jahrhunderts zu diesem Thema zu verweisen, auf John Rawls' "Eine Theorie der Gerechtigkeit". Rawls verknüpfte die klassische Vertragstheorie mit der modernen Entscheidungstheorie, um seine Grundintuition der "Gerechtigkeit als Fairness" enzyklopädisch zu einer Gerechtigkeitstheorie auszuarbeiten. Begriffe wie das "Differenzprinzip", wonach Ungleichheiten nur zulässig (und also gerecht) seien, wenn sie den je schwächsten Gesellschaftsmitgliedern nützen, oder der Gedanke, dass eine gerechte Verteilungsordnung "unter dem Schleier des Nichtwissens" in einem "Urzustand" gedacht werden könne, sind zu Topoi der modernen politischen Philosophie geronnen. Auf den bereits in den siebziger Jahren vorgebrachten Einwand der bald als "Kommunitaristen" bezeichneten Kritiker wie Michael Sandel und Charles Taylor, dass Rawls eine zu individualistische ("unembedded") Konzeption vertrete, antwortete dieser später, dass sein Gerechtigkeitskonzept immer politisch gesehen werde müsse, als Konzept innerhalb einer politischen Gemeinschaft. Sein Hauptgegner war die Theorie des Utilitarismus, die dem Politischen letztlich keine eigene Wirklichkeit neben den Handlungskalkülen der Wirtschaftssubjekte zuspricht. Rawls betrachtete sich als liberalen Sozialdemokraten. Seine prozeduralistische Ethik fand auch bei Autoren wie Jürgen Habermas Zustimmung.

An John Rawls schloss sich eine kaum überschaubare Diskussion an. Einer der wohl wichtigsten deutschen Rezipienten ist Otfried Höffe, der gleichwohl die Grundintention von Rawls kritisch wertet: "Am Ende stellt sich die Theorie selber als eine zwar raffinierte, aber doch nur wohlüberlegte Gerechtigkeitsüberzeugung dar." Höffe deutet mit dem Suffix "Überzeugung" an, dass Rawls eine Art Wertprogramm vertritt, dem gegenüber er Skepsis empfiehlt. Er selbst schlägt ein Konzept von "Gerechtigkeit als Tausch" vor, in dem für "soziale Gerechtigkeit" im Grunde kein Platz ist. Da Höffes Gedanken politisch-legitimativ einflussreich sind, lohnt sich eine kritische Betrachtung - zumal, wie am Beispiel eines anderen deutschen Sozialphilosophen, Wolfgang Kersting, zu zeigen sein wird, diese Gedanken noch weiter radikalisiert werden können.

Zunächst zur zentralen Überlegung bei Höffe: "Man sieht ein, dass im Programm der politischen Gerechtigkeit die soziale Gerechtigkeit nur an nachgeordneter Stelle vorkommen kann. Soweit sie nämlich in die Zuständigkeit von Recht und Staat fällt, führt sie deren Merkmal, die Zwangsbefugnis mit sich. (...) Die fehlende Begriffsbestimmung darf sich nicht mit einem Gesichtspunkt zufrieden geben, der wie die Solidarität so lange ethisch vage bleibt, wie man nicht klärt, ob sie zur geschuldeten Rechtsmoral gehört oder aber in den Bereich der verdienstlichen Tugendmoral hinüberschreitet. Nur im ersten Fall ist die Gerechtigkeit gefragt, während es im zweiten Fall auf die freie Großmut der Bürger ankommt. (...) Neuerdings versteht man die soziale Gerechtigkeit als eine Frage der Verteilung. (...) Weil dem Verteilen ein Erarbeiten vorausgeht, weil außerdem die ersten Gegenstände der politischen Gerechtigkeit, Rechte und Freiheiten (Rawls), nicht erarbeitet werden, folglich keine zu verteilenden Gegenstände sind, habe ich einen Paradigmenwechsel vorgeschlagen. Ihm zufolge stellt sich die Verteilungsgerechtigkeit als eine sekundäre Aufgabe dar, der ... Leistungen der Tauschgerechtigkeit vorangehen."

Zwei Argumentationen sind hier wesentlich: zum einen, dass soziale Gerechtigkeit etwas mit "Zwang" zu tun habe, weil natürlich staatliche Verteilung die Erhebung von Steuern und Abgaben voraussetzt. Folgt man Höffe, dann wäre sozialer Ausgleich aber "eher zu einer christlichen Caritas oder aber, säkularisiert, zu einer Brüderlichkeit bzw. Solidarität, jedenfalls zu einer verdienstlichen Mehrleistung, deren Anerkennung die Menschen einander nicht mehr schulden", zu rechnen. Damit wird die Legitimation für Sozialpolitik als öffentliches Gut, die Rawls vertrat, untergraben. Das zweite Argument Höffes ist eher soziologisch: "Gerechtigkeit als Tausch" meint, dass Gerechtigkeit nur auf Reziprozität beruhen kann. Er verweist auf den Durkheim-Schüler Marcel Mauss und sein aus ethnologischen Studien gewonnenes Konzept des komplexen Gaben-Tausches. Wie aber daraus in modernen Gesellschaften eine Sozialpolitik gewonnen werden kann, bleibt im Dunkeln, sehr weit darf sie wohl nicht gehen.

Noch radikaler tritt der Philosoph Wolfgang Kersting auf, der hinter sozialer Gerechtigkeit und Sozialpolitik vor allem Neid vermutet: "Eine überbordende Gerechtigkeitsrhetorik prägt das öffentliche Gespräch sozialstaatlicher Demokratien, überflutet den Markt der Wählerbewirtschaftung und überzieht das Verteilungsgezänk der Gruppen mit einem moralsemantischen Firnis." Das sind starke Worte, entnommen aus einem Aufsatz, der den "wohlfahrtsstaatlichen Grundbegriff" der "Gerechtigkeit" zu analysieren behauptet. Der Grund wird düster beschrieben: "Der Sozialstaat ist auf der Individualisierungssteppe der Moderne errichtet. Seine Bewohner sind Selbstverwirklichungsvirtuosen im ethischen Niemandsland, die ihre Erfolgskarrieren auf dem Markt und ihre Versorgungskarrieren im Sozialstaat mit der gleichen egozentrischen Konzentration vorantreiben. (...) Einen Markt jenseits des Egoismus-Prinzips, ein Wohlfahrtssystem des Gemeinsinns wird es nicht geben." In eine solche Weltsicht passt die Stimmung der vergangenen Jahre, von "Agenda 2010" bis "Hartz IV". Der Markt muss es richten, doch leider: "Demokratien sind gleichheitsversessen." Das aber ist, so Kersting, irrig: "Der Sozialstaat ist zur Sicherung der Marktmöglichkeiten der Bürger da. Er hat die Bürger zum Markt zurückzuführen, sie marktfähig zu halten. (...) Er bindet seine subsidiären Transferzahlungen an die überprüfbare Bereitschaft zur Beschäftigungsaufnahme und zur Selbstverantwortlichkeit."

Die Geschichte der politischen Philosophie hält glücklicherweise weitaus differenziertere Deutungsangebote bereit. Am Anfang stand die "Nikomachische Ethik" von Aristoteles. Dieser unterschied die "allgemeine Gerechtigkeit" (iustitia universalis) von der "besonderen Gerechtigkeit" (iustitia particularis), die er wiederum in die Leistungsgerechtigkeit (iustitia communitativa) und die Bedarfsgerechtigkeit (iustitia distributiva) untergliederte. Die allgemeine Gerechtigkeit ist, so Aristoteles, "nicht ein Teil der Tugend, sondern die ganze Tugend, und die ihr entgegengesetzte Ungerechtigkeit ist nicht ein Teil der Schlechtigkeit, sondern die ganze Schlechtigkeit."

Der Hinweis "ganze" verweist auf die ontologische, metaphysische Möglichkeit einer Gerechtigkeitstheorie, die Georg W. F. Hegel in seinem berühmten Diktum vom "wahren Staat" mehr als zwei Jahrtausende später aufgreifen wird: "Dahingegen besteht die Wahrheit im tieferen Sinn darin, dass die Objektivität mit dem Begriff identisch ist. Dieser tiefere Sinn der Wahrheit ist es, um den es sich handelt, wenn z.B. von einem wahren Staat oder von einem wahren Kunstwerk die Rede ist. Diese Gegenstände sind wahr, wenn sie das sind, was sie sein sollen, d.h. wenn ihre Realität ihrem Begriff entspricht. So aufgefasst ist das Unwahre dasselbe, was sonst auch das Schlechte genannt wird." Dass gutes, tugendhaftes Handeln eine gute politische Ordnung voraussetzt, war für Aristoteles so gewiss wie für Hegel, der dafür den Begriff der "Sittlichkeit" prägte. Im 20. Jahrhundert hat Theodor W. Adorno mit seinem Diktum "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" aus den "Minima Moralia" (§ 18) daran angeknüpft.

Die Kontroverse lässt sich begrifflich fassen. In Tabelle 1 der PDF-Version werden die Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit in eine soziologische, an Talcott Parsons anschließende Systematik gebracht.

Neben den Gerechtigkeitskonzepten, die an Tausch (Markt) und an die staatlich-politische Institutionalisierung anschließen, existieren mithin zwei weitere Gerechtigkeitskonzepte, die für die Sozialpolitik nicht minder bedeutungsvoll sind. In vormodernen, auf Familien- und Verwandtschaftsgemeinschaft basierenden Gesellschaften ist die Bedarfsgerechtigkeit die Grundlage für solidarisches Handeln. Heute wird dieses (eher partikularistische) Gerechtigkeitsprinzip unter Signaturen wie "Kommunitarismus", "kommunikatives Handeln", "Lebenswelt" oder "Bürgergesellschaft" betont. Das vierte Gerechtigkeitsprinzip schließt (universalistisch) an den Menschenrechten an, findet seinen sozialen Grund in ethischen Wertkommunikationen und damit in einer politischen Kultur, welche die Teilhabe jedes Bürgers einer Gesellschaft (bzw. jedes Menschen in der Weltgesellschaft) an allen Funktionssystemen betont. Talcott Parsons und Niklas Luhmann haben dafür den Begriff der "Inklusion" verwendet. Die Idee der Teilhabegerechtigkeit verweist über die nationale Gesellschaft hinaus. Sie zielt, wie Amartya Sen argumentierte, auf "globale Gerechtigkeit", die einen sozialen Wert verkörpert, der "mehr" ist als "internationale Fairness". Dabei handelt es sich nicht um ein im einfachen Sinn "idealistisches" Konzept, vielmehr um eine Gerechtigkeitskonzeption, die zugleich die unterschiedlichen Logiken verschiedener "Sphären der Gerechtigkeit" berücksichtigt, wie sie Michael Walzer in seinem Klassiker exemplarisch und anschaulich analysierte.

Ähnlich wie diese "Sphären" müssen auch die in den vergangenen Jahren im Gerechtigkeitsdiskurs prominenten Themen Generationengerechtigkeit oder Chancengerechtigkeit auf die überwölbenden Gerechtigkeitsprinzipien bezogen werden. Es gibt reiche Kinder und arme Alte, Chancen nur in der Jugend oder immer wieder im Lebenszyklus.

Empirie der Gerechtigkeit

Häufig wird behauptet, zentrale wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe - wie "soziale Gerechtigkeit" - hätten unterdessen diskursive Neuinterpretationen erfahren und dabei ihren einstigen semantischen Gehalt vollkommen eingebüßt. Dass dies nicht selten an begrifflichen Vereinseitigungen liegt, konnten wir im ersten Schritt zeigen. Doch auch zwischen den Diskursen der Eliten und den Intuitionen und Überzeugungen der Bevölkerung herrscht gerade hinsichtlich der Aufgabe der Sozialpolitik keineswegs Deckungsgleichheit.

Die Statistiker sind sich nicht einig darüber, ob die soziale Ungleichheit und damit möglicherweise auch die Ungerechtigkeit in Deutschland wirklich zugenommen hat. Ein klassischer Indikator ist der so genannte "Gini-Koeffizient". Er misst die Einkommensdisparitäten zwischen dem untersten und dem obersten Quintil (Fünftel) der Einkommenshierarchie einer Gesellschaft. Im "Datenreport 2004" des Statistischen Bundesamtes können wir nachlesen, dass die Ungleichheit von Markteinkommen und Renten in den alten Bundesländern zwischen 1991 und 2002 zugenommen hat (Gini-Koeffizient: 0,319 auf 0,368), während sie in den neuen Ländern nur geringfügig stieg. Durch erhöhten sozialstaatlichen Einfluss blieb gleichwohl die Ungleichheit bei den Haushaltsnettoeinkommen in Deutschland insgesamt relativ konstant. Was allerdings zunahm, ist der Anteil der Bürgerinnen und Bürger in "relativer Armut", also mit einem Haushaltsnettoeinkommen von weniger als 50 Prozent des Durchschnitts: Er stieg von 10,1 (1991) auf 11,1 Prozent (2002), wobei vor allem - nach einem Absinken Mitte der neunziger Jahre - der Anstieg zwischen 2001 und 2002 auffiel: von 9,4 auf 11,1 Prozent.

Ohne sozialstaatliche Leistungen wären jene Armutsquoten freilich noch weitaus höher, wie in der Abbildung demonstriert. Die Wirksamkeit bereits des Familienlastenausgleichs ist signifikant, weitere Leistungssysteme reduzieren die Armutsquote weiter - auch wenn sie noch immer viel zu hoch erscheint.

Dass der Wohlfahrtsstaat zur sozialen Gerechtigkeit beiträgt, ist den Bürgern intuitiv und kognitiv klar. Mit einer Vielzahl von empirischen Analysen vor allem im Rahmen von Umfrageforschungen wurde versucht, die Gerechtigkeitsüberzeugungen der Bevölkerung zu rekonstruieren. In einer Sekundäranalyse insbesondere von Daten des ISSP (International Social Survey Programme) verglich Jürgen Gerhards die Vorstellungen der Bürgerinnen und Bürger der EU und der Beitrittskandidaten im Hinblick auf den Wohlfahrtsstaat (vgl. Tabelle 2 der PDF-Version). Dabei wurden drei Wohlfahrtsstaatskonzeptionen abgefragt:

Grundmodell (EU-Kommission, "liberal"): Befragte stimmen der staatlichen Verantwortung für mindestens zwei von drei Aufgaben zu, die eine Einkommenssicherheit im Fall von Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit messen; alle restlichen staatlichen Aufgaben werden abgelehnt.

Sozialdemokratisches Modell: Befragte stimmen zusätzlich der staatlichen Verantwortung für mindestens eine der beiden Aufgaben "Abbau von Einkommensunterschieden" oder "Bereitstellung von Arbeitsstellen" zu.

Sozialistisches Modell: Befragte befürworten zusätzlich noch die gesetzliche Kontrolle von Löhnen und Gehältern.

In einer 2003 durchgeführten Sonderumfrage im Rahmen des "Sozio-ökonomischen Panels" (SOEP) stimmten rund 70 Prozent der Befragten dem Satz zu, "Ein Anreiz für Leistung besteht nur dann, wenn die Unterschiede im Einkommen groß genug sind", wobei 28Prozent mit diesem Statement "voll" und 42 Prozent "eher" übereinstimmten. Freilich, eine noch größere Mehrheit will die damit befürwortete Leistungsorientierung auch gleich wieder eingeschränkt wissen. Immerhin traf die Aussage, dass "der Staat (...) für alle einen Mindestlebensstandard garantieren" sollte, bei 53 Prozent der Befragten auf "volle" und bei 30 Prozent "eher" auf Zustimmung. Doch könnte die Fragestellung zur verfehlten Annahme verleiten, dass die Bevölkerung nur einen Minimalsozialstaat bejaht.

Im "ALLBUS", der "Allgemeinen Bevölkerungsbefragung der Sozialwissenschaften" von 2000 wurde das Statement "Der Staat muss dafür sorgen, dass man auch bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und Alter ein gutes Auskommen hat" abgefragt. Die Betonung lag hier also auf "gutes Auskommen", was eine Art Lebensstandardsicherung impliziert. Bemerkenswerterweise ist hier das Antwortverhalten gegliedert nach den Parteipräferenzen (vgl. Tabelle 3 der PDF-Version):

Insgesamt ist die Zustimmung zu einem sozialpolitischen Gesellschaftsvertrag in Deutschland und Europa also außerordentlich hoch. Wie korrespondieren diese empirischen Beobachtungen mit den Sozialpolitikkonzeptionen und den in ihnen eingelagerten Gerechtigkeitsmodellen? Dies soll im letzten Abschnitt genauer untersucht werden.

Wohlfahrtsregime und soziale Gerechtigkeit

Inspiriert durch die einflussreichen Arbeiten von Gosta Esping-Andersen hat sich in der vergleichenden Sozialpolitikforschung das Konzept der Wohlfahrtsregime weitgehend durchgesetzt. Wohlfahrtsregime sind komplexe Strukturmuster der Sozialpolitik, insbesondere zum Arbeitsmarkt, zum Gemeinschaftssystem, vor allem der Familie, und zur staatlichen Regulierung selbst. Esping-Andersen unterschied das liberale, das konservative und das sozialdemokratische Wohlfahrtsregime. Manche Autoren schlugen neben diesen drei Regimetypen als vierten Typus ein "südeuropäisches" oder "mediterranes" Wohlfahrtsregime, Autoren mit globaler Perspektive ein "konfuzianisches" Wohlfahrtsregime vor. Neben diesen phänotypischen Erweiterungen wird neuerdings, mit soziologisch-gesellschaftstheoretischen Argumenten, die Erweiterung von Esping-Andersens Typologie um ein "garantistisches", am Bürgerstatus und eher universalistischen Teilhaberechten orientiertes Wohlfahrtsregime vertreten.

In Tabelle 4 der PDF-Version sind die vier Regimetypen von Wohlfahrtsstaaten und ihre Variablen zusammengestellt. Mit Hilfe der den Variablen beigegebenen Indikatoren kann der jeweilige Regimetyp ermittelt werden. Für die drei klassischen Regimetypen wurden die Zuordnungen von Esping-Andersen bzw. aus der Sekundärliteratur übernommen. Für den Typus "Garantismus" liegen vergleichbare Berechnungen noch nicht vor, sie beruhen daher auf Schätzungen und Erfahrungswerten.

Im Liberalismus gilt Leistung als Leitidee sozialer Gerechtigkeit. Die Folge der Marktwirtschaft ist dann legitime Ungleichheit. Freilich ist nicht erst seit dem Aufkommen des Feminismus und seinem Hinweis auf die unbezahlte Familienarbeit von Frauen strittig, welche Leistung zählt. Auch innerhalb des Arbeitsmarktes zählen keineswegs nur "Leistung pur", sondern Knappheit, Interessenbündelung und Status. Daran knüpft die sozialistisch-sozialdemokratische Kritik an und plädiert für eine staatlich-politische Umverteilung, die sich am Leitbild der Verteilungsgerechtigkeit orientiert. Konservative wiederum zweifeln sowohl die Leistungs- wie die Gleichheitsidee an und wollen eher Bedarfsgerechtigkeit, vermittelt in Gemeinschaftsformen; allen voran die Familie, aber auch berufsständische Formen dienen dem Konservativen als Legitimitätsquelle.

Wenn wir dieses klassische Dreieck von "Links-Mitte-Rechts" betrachten, dann wird deutlich, warum die Sozialversicherungen mit ihrer Neideinhegung zumindest bislang in Deutschland so etwas wie einen Kompromiss der divergierenden Gerechtigkeitsideen herstellen konnten - ergänzt um das liberale Modell der "Fürsorge" (Sozialhilfe), der Konzentration auf die "wirklich Bedürftigen" und das konservative Modell der "Versorgung", wie wir es in der Beamtenversorgung und heute auch in Familienleistungen (Kindergeld, Erziehungsgeld) finden. Die Leitidee des "Garantismus" geht einen Schritt weiter, indem sie an den Bürger- und Grundrechten anknüpft, jeder Bürgerin und jedem Bürger soziale Teilhabe "garantiert", konkretisiert vor allem im Konzept der "Bürgerversicherung" (wie in der Schweiz, den Niederlanden oder auch in der Rentenversicherung "Social Security" der USA) und in der Forderung nach einem "Grundeinkommen", das jedem zusteht, ohne Arbeitsvoraussetzung.

Im Konzept "Garantismus" werden die "sozialen Grundgüter", die nach Auffassung von John Rawls grundsätzlich allen Menschen zustehen sollen, als positive soziale Grundrechte definiert und nicht nur, wie im "Sozialliberalismus" von Rawls und anderen, als Kompensationen mangelnden Marktkapitals. Während Rawls - darin in der Tradition des modernen, bei Hegel begründeten Denkens in sozialen Relationen und Funktionen - die Gesellschaft zu Recht als Kooperationszusammenhang versteht, kommt ihm eine eigenständige wertkommunikativ-ethische Begründung von Sozialpolitik nicht in den Blick. Er bewegt sich im "nachmetaphysischen" Mainstream der modernen, vor allem angloamerikanisch geprägten politischen Philosophie. Wenige ihrer Vertreter gestehen so offen wie Harry Frankfurt, dass ihre Auseinandersetzung um die Spannungen von Gerechtigkeit und Gleichheit "nichts Substantielles zur Lösung der Frage bei-(trägt), welche Sozialpolitik befolgt oder vermieden werden sollte". Das hält sie dennoch nicht davon ab, philosophisch argumentierend normative, letztlich subjektiv-politische Positionen zu vertreten.

Die Argumentation dieses Beitrags zielte auf eine Dekonstruktion und Reflexion dieser Meinungen ab. Wenn Stefan Gosepath in einer umfangreichen Studie einen "liberalen Egalitarismus" entwerfen will und darin "Ausnahmen von der Gleichverteilung" vor allem für ökonomische Güter so begründet: "Die wesentliche Ausnahme von der Gleichverteilung liegt in den ungleichen Folgen der Eigenverantwortung", dann müsste er soziologisch nachweisen, dass im Wirtschaftsleben tatsächlich überwiegend "Eigenverantwortung" die unterschiedliche Güterverteilung begründet - und nicht auch Erbschaften, Seilschaften oder Glück. Hier war Rawls realistischer.

Die Betrachtung der Sozialpolitik mit dem analytischen Rahmen der Wohlfahrtsregime macht sichtbar, dass soziale Gerechtigkeit realistisch nicht in der residualen Perspektive politischer Philosophen wie Otfried Höffe oder Wolfgang Kersting begriffen werden kann. Gerechtigkeit ist in einer differenzierten modernen Gesellschaft notwendigerweise mehrdimensional. Sozialpolitik institutionalisiert und dynamisiert soziale Gerechtigkeit. Sie wird umstritten bleiben, aber nichtsdestotrotz ist sie wirksam.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. dazu die Beiträge zum Thema "Ungleichheit - Ungerechtigkeit" in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (2005) 37 (u.a. von Otfried Höffe).

  2. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975.

  3. Otfried Höffe, Einführung in Rawls' Theorie der Gerechtigkeit, in: ders. (Hrsg.), John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Berlin 1998, S. 25.

  4. Ders., Erwiderung, in: Wolfgang Kersting (Hrsg.), Gerechtigkeit als Tausch? Auseinandersetzungen mit der politischen Philosophie Otfried Höffes, Frankfurt/M. 1997, S. 345f. (Herv. M. O.).

  5. Ders. (Anm. 3), S. 13.

  6. Wolfgang Kersting, Gerechtigkeit: Die Selbstverewigung des egalitaristischen Sozialstaats, in: Stephan Lessenich (Hrsg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frank-furt/M.-New York 2003, S. 107, 115, 121, 134.

  7. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, München 1991, S. 206.

  8. Georg W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in: Werke in 20 Bänden. Bd. 8, Frankfurt/M. 1970, S. 369. Vgl. Michael Opielka, Glauben und Wissen in der Politik. Zu einigen Folgen Hegels in der politischen Soziologie moderner Wohlfahrtsstaaten, in: Andreas Arndt/Karol Bal/Henning Ottmann (Hrsg.), Hegel-Jahrbuch 2005. Glauben und Wissen - Dritter Teil, Berlin 2005, S. 39 - 47.

  9. Vgl. Robert B. Pippin, Negative Ethik. Adorno über falsches, beschädigtes, totes, bürgerliches Leben, in: Axel Honneth (Hrsg.), Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Frankfurt/M. 2005, S. 85 - 114.

  10. Zur Begründung der handlungssystemischen Stufen (Level 1 - 4) vgl. Michael Opielka, Gemeinschaft in Gesellschaft. Soziologie nach Hegel und Parsons, Wiesbaden 2004.

  11. Amartya Sen, Global justice. Beyond international equity, in: Inge Kaul (Hrsg.), Global public goods. International Cooperation in the 21st Century, Oxford 1999, S. 116 - 125.

  12. Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. EinPlädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frank-furt/M.-New York 1992.

  13. So die meisten Beiträge in S. Lessenich (Anm. 6). Vgl. zum gegenwärtigen Literaturstand Michael Opielka, Wohlfahrt und Gerechtigkeit. Ideenanalysen in der Soziologie der Sozialpolitik, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 57 (2005) 3, S. 550 - 556.

  14. Vgl. Statistisches Bundesamt, Datenreport 2004, Bonn 2004, S. 626f.

  15. Vgl. Jürgen Gerhards, Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union. Ein Vergleich zwischen Mitgliedsländern, Beitrittskandidaten und der Türkei, Wiesbaden 2005, S. 189. Gerhards macht darauf aufmerksam, dass unter "sozialistisch" allerdings gewöhnlich auch Eingriffe in die Vermögensordnung verstanden werden.

  16. Peter A. Berger, Deutsche Ungleichheiten - eine Skizze, in: APuZ, (2005) 28 - 29, S. 7.

  17. Vgl. Gosta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990.

  18. Vgl. Michael Opielka, Sozialpolitik. Grundlagen und vergleichende Perspektiven, Reinbek 2004.

  19. Für die Einstufung des Schweizer Sozialstaats als "weicher Garantismus" vgl. Erwin Carigiet/Michael Opielka, Deutsche Arbeitnehmer - Schweizer Bürger? Zum deutsch-schweizerischen Vergleich sozialpolitischer Dynamiken, in: Erwin Carigiet/Ueli Mäder/Michael Opielka/Frank Schulz-Nieswandt (Hrsg.), Wohlstand durch Gerechtigkeit. Deutschland und die Schweiz im sozialpolitischen Vergleich, Zürich 2006 (i.E.).

  20. Wie etwa bei Bruce Ackerman/Anne Alstott, The Stakeholder Society, New Haven-London 1999, deren Konzept einer "Sozialerbschaft" als Vermögenstransfer an jeden 18-Jährigen neuerdings auf Deutschland übertragen wurde: Gerd Grözinger/Michael Maschke/Claus Offe, 60000 Euro für jeden 18-Jährigen, in: Frankfurter Rundschau v. 12.1. 2006 (auch www.boell.de/arbeit).

  21. Harry Frankfurt, Gleichheit und Achtung, in: Angelika Krebs (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik, Frankfurt/M. 2000, S.38.

  22. Stefan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt/M. 2004, S.16.

Dr. rer. soc., Dipl. Päd., geb. 1956; Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule Jena, Fachbereich Sozialwesen, Carl-Zeiss-Promenade 2, 07745 Jena.
E-Mail: E-Mail Link: michael.opielka@fh-jena.de
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