Einleitung
Im Hinblick auf die neunziger Jahre wird von informierten Beobachtern von einem "Aufschwung",
Aber auch in der Bundesrepublik Deutschland ist es unterhalb der nationalen Ebene - auf der das Grundgesetz in seinem Art. 29 Verfahren der Direktdemokratie nur im Falle der Länderneugliederung kennt - auf der kommunalen Ebene und der der Länder in den neunziger Jahren zu einer Bedeutungszunahme direktdemokratischer Verfahren gekommen, und auch auf der Bundesebene ist eine Intensivierung der politischen Auseinandersetzung mit Fragen der Direktdemokratie nicht zu verkennen:
Vor diesem für die Direktdemokratie sehr positiven, internationalen und nationalen Hintergrund soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, welche Erfahrungen außerhalb der Bundesrepublik mit der Direktdemokratie gemacht worden sind und welche Lehren aus diesen Erfahrungen gezogen werden können.
Was versteht man unter
Zwei unterschiedliche Verständnisse des Begriffes "direkte Demokratie" können unterschieden werden: Zum einen meint Direktdemokratie einen spezifischen Typus politischer Herrschaft, in dem politische Macht allein und direkt durch die Gesamtheit der abstimmungsberechtigten Bürgerinnen und Bürger - und nicht durch einzelne oder wenige Repräsentanten oder Amtsträger - verbindlich ausgeübt wird. Der Gegenbegriff zu der so verstandenen Direktdemokratie ist die repräsentative Demokratie. Zum anderen versteht man unter "direkter Demokratie" ein politisches Entscheidungsverfahren, bei dem Bürgerinnen und Bürger politisch-inhaltliche Sachfragen auf dem Wege der Volksabstimmung selbstständig und unabhängig von Wahlen entscheiden. In diesem Verständnis ist Direktdemokratie nicht als Gegenteil einer repräsentativen Demokratie zu verstehen. Vielmehr können nach dem Prinzip der Volksabstimmung konstruierte Entscheidungsverfahren als ergänzende Instrumente politischer Beteiligung in unterschiedlicher Ausgestaltung repräsentativdemokratischen politischen Systemen "beigemischt" werden.
Welche Instrumente der direkten Demokratie - nun verstanden als politisches Beteiligungsverfahren - können unterschieden werden? Dabei ist zunächst einmal die Unterscheidung zwischen Abstimmungen über Personen und über inhaltliche Sachfragen wichtig. Abstimmungen über Personen finden in Demokratien durch Wahlen statt. Direktdemokratie aber geht über Wahlen hinaus, denn Wahlen begründen Repräsentativsysteme, d.h. die Wählerinnen und Wähler wählen Parlamentarier, Staatsoberhäupter, Bürgermeister usw., die dann wiederum ihrerseits als Vertreter der Bürgerinnen und Bürger politische Entscheidungen treffen. Direktdemokratie dagegen meint direkte Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger über inhaltliche Sachfragen durch Volksabstimmung.
So verstandene direktdemokratische Formen politischer Beteiligung können sich unterschiedlicher Instrumente bedienen. Zentral dabei ist die Unterscheidung in Anregungen, Referenden, Initiativen (Volksbegehren) und Plebiszite.
- Unter Anregungen versteht man Volksabstimmungen über Gesetzesvorschläge, deren Abstimmungsergebnisse für die Staatsorgane nicht bindend sind.
- Durch ein Referendum kann ein Parlamentsbeschluss über ein Gesetz oder eine Verfassungsbestimmung einer Volksabstimmung unterworfen werden. Im Ergebnis wird durch die Volksabstimmung also ein Beschluss des Parlaments nachträglich durch das Volk bestätigt oder abgelehnt. Liegt die Kompetenz zur Auslösung eines solchen Referendums bei den Stimmbürgern, spricht man von einem fakultativen Referendum, wie es die Verfassungen der Schweiz, Italien, Liechtenstein sowie von 25 US-Bundesstaaten kennen. Ist eine solche Volksabstimmung durch Rechtsnormen - in der Regel durch Verfassungsrecht - zwingend vorgeschrieben, wie dies meist bei Verfassungsänderungen oder internationalen Verträgen der Fall ist, spricht man von einem obligatorischen Referendum. Dieses kennen die Verfassungen der Schweiz, Österreichs, Dänemarks, Australiens, Liechtensteins, von 49 US-Bundesstaaten sowie in der Bundesrepublik die Landesverfassungen von Bayern und Hessen.
- Unter einer Initiative versteht man ein direktdemokratisches Entscheidungsverfahren, das von einzelnen Personen, Gruppen oder Organisationen - also nicht "von oben", sondern aus der Mitte des Volkes heraus - ausgelöst werden kann und mit dem diese aktiv und direkt inhaltliche Vorschläge in den Gesetzgebungsprozess einbringen können. Hierfür wird üblicherweise eine bestimmte Anzahl von Unterschriften verlangt; je nach politischem System entscheidet dann das Parlament oder auch wieder das Volk im Rahmen eines Volksentscheids über den Vorschlag. Bezogen auf Verfassungsgesetze kennen die Verfassungen der Schweiz, von 17 US-Bundesstaaten, Liechtenstein sowie einige deutsche Landesverfassungen eine solche Initiative. Hinsichtlich einfacher Gesetze ist sie in allen deutschen Bundesländern, 21 US-Bundesstaaten, Liechtenstein sowie der Schweiz auf der Ebene der Kantone möglich.
- Von Plebisziten spricht man, wenn die Kompetenz zur Auslösung einer Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung oder ein einfaches Gesetz nicht den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern zukommt, sondern im Ermessen eines Staatsorgans (z.B. Regierung, Staatspräsident, Parlamentsmehrheit) liegt. Diese Konstruktion erlaubt es den jeweils zuständigen Staatsorganen, das Plebiszit aus strategischen Überlegungen im politischen Wettbewerb mit den jeweils anderen Staatsorganen und als Vertrauensfrage - und damit Legitimationsressource des eigenen Amtes und der eigenen Person - einzusetzen. Dies trifft beispielsweise für das Referendum in der fünften Republik Frankreichs zu, das weniger mit dem Ziel einer stärkeren politischen Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger eingeführt wurde als vielmehr mit der Absicht, die herausragende Stellung des Staatspräsidenten im politischen System zu behaupten und zu festigen.
Die europäischen Staaten im Vergleich
Versuchen wir nun, einen genaueren Blick auf die Verbreitung der Direktdemokratie zu werfen. Dabei beziehen wir uns auf eine vergleichende Studie, die eine Arbeitsgruppe der Stiftung "Initiative & Referendum Institute Europe" unter der Leitung von Andreas Gross und Bruno Kaufmann im Jahr 2002 in den damaligen 15 EU-Mitgliedstaaten, den 13 EU-Beitrittskandidatenstaaten sowie den vier Mitgliedstaaten der EFTA (Island, Norwegen, Liechtenstein und der Schweiz) vorgenommen hat.
Im Anschluss an diese eher grobe Einteilung wurden die ausgewählten Staaten anhand eines weiter ausdifferenzierten qualitativen und quantitativen Kriterienkatalogs
- Die Avantgardisten mit einem breiten Spektrum direktdemokratischer Verfahren: Liechtenstein und die Schweiz.
- Die Demokraten, in denen die Bürgerinnen und Bürger wenigstens zum Teil über Möglichkeiten verfügen, ohne die Zustimmung der Staatsorgane gesamtstaatliche Volksabstimmungen auszulösen, und in denen es das obligatorische Referendum gibt: Italien, Slowenien, Lettland, Irland, Dänemark, Litauen und die Slowakei.
- Die Vorsichtigen, in denen es zwar Erfahrungen mit direktdemokratischen Instrumenten gibt, diese aber vorwiegend plebiszitär ausgelöst werden, d.h. durch das Parlament oder die Regierung und nicht durch die Bürgerinnen und Bürger selbst: Frankreich, Spanien, Österreich, Schweden, Norwegen, Ungarn.
- Die Ängstlichen, in denen zwar Ansätze direktdemokratischer Instrumente existieren, die politischen Eliten aber bislang vor einem stärkeren Ausbau der Direktdemokratie zurückschrecken: Polen, Großbritannien, Finnland, Estland, Belgien, Island, Luxemburg, Bundesrepublik Deutschland, Griechenland und Tschechische Republik.
- Die Hoffnungslosen, in denen es praktisch keine institutionellen Verfahren oder Erfahrungen mit der Direktdemokratie gibt, die politischen und kulturellen Rahmenbedingungen negativ für einen Ausbau der Direktdemokratie sind, in denen aber wenigstens teilweise eine Debatte über Direktdemokratie läuft: Rumänien, Portugal, Bulgarien und Malta.
- Die Schlusslichter, in denen es zum Zeitpunkt der Untersuchung (2002) überhaupt keine Anhaltspunkte für direktdemokratische Entwicklungen gibt: Zypern und die Türkei.
Die Direktdemokratie in der Schweiz
Der Staat, in dem die direkte Demokratie weltweit die größte Bedeutung hat, ist die Schweiz. Dies rechtfertigt einen genaueren Blick auf die dort weit ausgebauten Instrumente der Direktdemokratie und ihre Wirkung auf das politische System.
Nach dem seit 1848 bestehenden obligatorischen Verfassungsreferendum (Art. 140 Bundesverfassung) muss jede vom Parlament beschlossene Verfassungsrevision - unabhängig davon, ob es sich um einen einzelnen Artikel oder eine Totalrevision der Verfassung handelt - durch eine Volksabstimmung gebilligt werden. Das Gleiche gilt auch für den Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften - wie beispielsweise der EU - oder zu Organisationen der kollektiven Sicherheit. Zur Annahme einer solchen Volksabstimmung ist das so genannte doppelte Mehr erforderlich - erstens das Volksmehr, also die Mehrheit der gültigen Stimmen im ganzen Land, und zweitens das Ständemehr, also eine Mehrheit von Kantonen, in denen die abstimmenden Bürgerinnen und Bürger die betreffende Vorlage angenommen haben. Durch diese Regelung wird dem stark ausgebauten Föderalismus in der Schweiz Tribut gezollt.
Mit Hilfe des 1874 eingeführten fakultativen Gesetzesreferendums (Art. 141 Bundesverfassung) können vom Parlament bereits verabschiedete, neue oder geänderte Gesetze oder gesetzesähnliche Beschlüsse nachträglich auf Initiative der Bürgerinnen und Bürger zum Gegenstand von Volksabstimmungen gemacht werden, d.h. die Entscheidung über die Inanspruchnahme des fakultativen Gesetzesreferendums ist der Kontrolle durch die Staatsorgane entzogen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Forderung nach einem Referendum von 50 000 Stimmbürgern oder von acht Kantonen unterstützt wird. Die hierfür als Beweis zu erbringenden Unterschriften von Abstimmungsberechtigten müssen innerhalb von 100 Tagen nach der Publikation des entsprechenden Gesetzes vorgelegt werden. Im Gegensatz zum obligatorischen Referendum reicht im Falle des fakultativen das Volksmehr, damit das Gesetz in Kraft treten kann. Quantitativ gilt, dass nur gegen einen geringen Anteil der prinzipiell referendumsfähigen Gesetze auch tatsächlich ein Referendum angestrengt wird. Wenn es aber dann zur Volksabstimmung kommt, werden mehr als die Hälfte aller Fälle nachträglich abgelehnt, und die Waffe des Referendums erweist sich als durchaus scharf.
Durch die 1891 eingeführte Verfassungsinitiative können die Bürgerinnen und Bürger eine Volksabstimmung über eine von ihnen gewünschte Änderung der Bundesverfassung verlangen (Art. 138 und Art. 139 Bundesverfassung). Voraussetzung für das Zustandekommen einer Verfassungsinitiative ist, dass es den Initiatoren gelingt, innerhalb einer Frist von 18 Monaten die Unterschriften von 100 000 Stimmberechtigten für die Initiative zu sammeln. Ähnlich wie beim fakultativen Gesetzesreferendum kann eine Verfassungsinitiative auch gegen den Willen der Staatsorgane auf den Weg gebracht werden. Kommt die Initiative durch die fristgerechte Sammlung der notwendigen Unterschriften zustande, müssen Parlament und Regierung - auch gegen ihren Willen - über den Inhalt der Initiative beraten und können einen - meist weniger weit gehenden - Gegenvorschlag in der Hoffnung formulieren, dieser werde in der Abstimmung angenommen. Beide Vorschläge werden den Stimmbürgern zur Abstimmung vorgelegt. Zur Annahme der Verfassungsinitiative sind das Volksmehr und das Ständemehr erforderlich. Im Gegensatz zur Verfassungsinitiative steht eine Gesetzesinitiative den Stimmbürgern auf der Bundesebene in der Schweiz nicht zu. In den Kantonen und Gemeinden dagegen verfügen die schweizerischen Bürgerinnen und Bürger noch über weitergehende direktdemokratische Beteiligungsrechte: Dort gibt es neben der Gesetzesinitiative auch das Finanzreferendum, d.h., Ausgabenbeschlüsse sind ab einem bestimmten Betrag in der Mehrzahl der Kantone dem obligatorischen - zwingend vorgesehenen - Referendum unterworfen, in den übrigen Kantonen dem fakultativen Referendum zugänglich. Auf diese Weise können die schweizerischen Stimmbürger über zahlreiche öffentliche Infrastruktureinrichtungen, über öffentlich finanzierte Bauvorhaben oder die Finanzierung von Schulen und Krankenhäusern mitentscheiden.
Welche Erfahrungen haben die Schweizerinnen und Schweizer mit der Direktdemokratie gemacht? Dabei ist zunächst einmal zwischen den unterschiedlichen Wirkungen der direktdemokratischen Instrumente zu differenzieren.
Ganz anders dagegen das Instrument der Volksinitiative. Mit ihrer Hilfe können die Bürger der Politik inhaltliche Impulse geben, neue Gegenstände auf die Agenda der Gesetzgebung setzen und so die Inputseite des politischen Prozesses beeinflussen. Volksinitiativen gehen nicht vom Parlament oder von der Regierung, sondern von den Bürgerinnen und Bürgern aus. Somit können sie als das Antriebselement oder als das "Gaspedal" der direkten Demokratie in der Schweiz bezeichnet werden.
Wie wirken sich diese direktdemokratischen Instrumente auf das politische System der Schweiz aus?
Erstens hat die Direktdemokratie in der Schweiz zur Entstehung und Festigung konkordanzdemokratischer Praktiken im Regierungssystem und zur kooperativen Einbindung gesellschaftlicher Gruppen und Interessen beigetragen.
Die zweite Anpassungsstrategie seitens der politischen Eliten besteht darin, Gesetzesvorlagen bereits im Gesetzgebungsprozess durch Verhandlungen mit möglichen Initiatoren von Referenden "referendumsfest" zu machen und deren Rückgriff auf die direktdemokratischen Instrumente durch Kompromisse und inhaltliche Konzessionen zu verhindern.
Mit Hilfe der dritten Anpassungsstrategie versuchen die politischen Eliten vor allem bei Verfassungsinitiativen in der Zeit zwischen dem Zustandekommen der Initiative und der Abstimmung, durch Verhandlungen mit den Initiatoren, die Formulierung kompromissfähiger Gegenentwürfe oder durch die abgeschwächte Übernahme der Forderungen der Initiative die Kraft zu nehmen bzw. die Initiatoren zur Rücknahme der Initiative vor der Abstimmung zu bewegen, was in fast einem Drittel dieser Fälle auch gelungen ist.
Die Leistungen der direkten Demokratie
Worin können vor dem Hintergrund der internationalen Erfahrungen mit der direkten Demokratie deren Leistungen bestehen?
- Direktdemokratische Instrumente und deren Gebrauch schaffen themenspezifische, politikinhaltliche Partizipationsmöglichkeiten für die Bürger und Bürgerinnen. Sie können auch die "schwierigeren", individualistischen und anspruchsvollen Bürgerinnen und Bürger der Wertewandel-Generationen für politische Teilhabe aktivieren, die zwar durchaus Verantwortung in der Politik übernehmen wollen, die aber in Dingen, die sie persönlich betreffen, auch direkt und ungefiltert durch Parteien ihre Meinungen einbringen wollen.
- Sie tragen zur Öffnung parteiendemokratischer Machtstrukturen bei, indem sie Regierung und Parlament zwingen, unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck einen sachbezogenen Diskurs mit der Bevölkerung zu führen und die Bürgerinnen und Bürger in den Diskurs über politische Entscheidungen einzubeziehen, um sie von den vorgeschlagenen Lösungen zu überzeugen, wollen die politischen Eliten nicht Gefahr laufen, an der Abstimmungsurne zu scheitern.
- Direktdemokratische Instrumente fördern einen transparenten und offenen Politikprozess sowie den politischen Wettbewerb, da alle an der Direktdemokratie beteiligten Akteure zusätzliche Informationen und Argumente in den Entscheidungsprozess einspeisen müssen und damit die Grundlage für einen umfassenden, politische Kontrolle intensivierenden Diskurs zwischen politischen Eliten und Bürgerinnen und Bürgern schaffen.
- Durch den breiten und intensiven Diskussionsprozess im Vorfeld von Volksabstimmungen und die unmittelbare Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungen stärken direktdemokratische Elemente die politische Integration der Bürger.
- Der Gebrauch direktdemokratischer Instrumente zusammen mit der dazu notwendigen Informationsaufnahme, Bildung von Beurteilungsmaßstäben und Abwägung von Argumenten ermöglicht Prozesse des öffentlichen politischen Lernens und die Herausbildung staatsbürgerlicher Verantwortung für das Gemeinwohl.
Die Auswirkung auf das politische System
Das Beispiel der Schweiz hat uns gezeigt, dass auch in einem modernen Gesellschaftssystem eine starke Direktdemokratie möglich ist; allerdings nicht zum Nulltarif, was die Gewichtsverteilung im politischen System anbelangt.