Einleitung
Die Frage nach der Zulässigkeit von Volksabstimmungen auf Bundesebene war in Deutschland bis in die achtziger Jahre hinein ein Tabu. Es galt als ausgemacht, dass das Grundgesetz direktdemokratische Elemente über den Anwendungsbereich von Art. 29 und Art. 118 hinaus verbiete, in denen die territoriale Neugliederung des Bundesgebietes geregelt wird. Lediglich der so genannte Verfassungsvorbehalt war von jeher unstrittig. Die Ausweitung des plebiszitären Instruments setzt danach eine Grundgesetzänderung voraus, da der heutige Art. 76 Abs. 1 die Gesetzesinitiative abschließend der Bundesregierung, dem Bundestag und dem Bundesrat zuordnet, und Art. 77 Abs. 1 bestimmt, dass Bundesgesetze vom Bundestag beschlossen werden. Im Übrigen hat sich aber die Meinung durchgesetzt, dass die Verfassung selbst einer solchen Ausweitung nicht im Wege stehen würde. Nachdem die prononciert anti-plebiszitäre Lesart des Grundgesetzes in der Rechts- und Politikwissenschaft lange Zeit sakrosankt war, wird die Auseinandersetzung über die direkte Demokratie dort heute nicht mehr primär mit rechtlichen, sondern mit politischen Argumenten geführt.
Die Auffassung von der prinzipiellen Zulässigkeit der Plebiszite gründet insbesondere auf der Formulierung des Art. 20 Abs. 2 Satz 2, wonach die "Staatsgewalt (...) vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (...) ausgeübt (wird)." (Hervorhebung durch den Autor). Das Demokratieprinzip wird also vom Verfassungsgeber nicht ausschließlich als repräsentatives interpretiert. Dies lässt sich auch an der Entstehungsgeschichte des Passus im Parlamentarischen Rat ablesen.
Zusätzlich gestützt wird die These einer prinzipiellen Zulässigkeit der direkten Demokratie durch das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1, das die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern an die Grundsätze des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates "im Sinne dieses Grundgesetzes" bindet. Wenn die Vereinbarkeit der plebiszitären Elemente in den Länderverfassungen mit Art. 28 Abs. 1 von niemandem ernsthaft in Zweifel gezogen wird, warum sollten sie dann dem Demokratieprinzip auf der Bundesebene widersprechen? Dies bedeutet natürlich nicht, dass im Umkehrschluss schon eine positive Verpflichtung besteht, plebiszitäre Elemente ins Grundgesetz aufzunehmen.
Direkte Demokratie in den Länderverfassungen
Die faktische Homogenität der Länderverfassungen ist erstaunlich, wenn man sie an der Gestaltungsfreiheit misst, die Art. 28 GG den Gliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Regierungssysteme einräumt.
Die Präferenz für die positive Initiative wurzelt tief in der deutschen Verfassungsgeschichte und reicht in den Ursprüngen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück.
Zwar ist einerseits die Vergleichbarkeit dadurch eingeschränkt, dass es in Europa neben Deutschland nur drei Länder gibt, die im engeren (staatsrechtlichen) Sinne als föderalistisch bezeichnet werden können, nämlich Belgien, Österreich und die Schweiz. Andererseits wird jedoch die Diskussion um die Einführung plebiszitärer Elemente auf nationaler Ebene in der Bundesrepublik ebenfalls fast ausschließlich um die Initiative geführt. Entsprechend sieht die Mehrzahl der Vorschläge vor, das Modell der Volksgesetzgebung, wie es in Ländern und Kommunen existiert, für den Bund einfach zu übernehmen. Würde dies Wirklichkeit, dann wäre die Bundesrepublik in punkto Volksgesetzgebung selbst der Schweiz voraus!
Diese Feststellung gilt freilich nur, wenn man die tatsächliche Anwendbarkeit des Instruments unberücksichtigt lässt. Hier zeigt sich das glatte Gegenteil. So pro-plebiszitär die Länderverfassungen in ihrer Grundentscheidung für die Initiative anmuten, so bürgerunfreundlich gestalten sie sich in der Praxis. Dass die Kompetenzverteilung im deutschen Föderalismus den Ländern ohnehin nur schmale Zuständigkeiten in der Gesetzgebung belässt, scheint dabei noch das geringere Problem zu sein. Gravierender sind die Hürden, die der Verfassungsgesetzgeber bei den Volksrechten selbst aufgebaut hat - von umfänglichen Themenausschlüssen bis zu nahezu unüberwindlichen Quoren.
Ist das direktdemokratische Modell der Länderverfassungen schon für sich genommen anfechtbar, so könnte seine umstandslose Übertragung auf den Bund noch aus zwei anderen Gründen Probleme aufwerfen: Einmal bedingt die bundesstaatliche Kompetenzverteilung, dass auf beiden Ebenen ganz unterschiedliche Entscheidungsmaterien zu regeln sind. Wenn es stimmt, dass plebiszitäre Verfahren ihre Eignung vor allem in kleinräumlichen Kontexten beweisen, ist es wenig sinnvoll, das Instrument auf der Bundesebene großzügiger auszugestalten als in Ländern und Kommunen, so wie es der von der rot-grünen Koalition eingebrachte Gesetzesentwurf für eine Verfassungsänderung im Jahre 2002 beabsichtigt hat.
Gleichrangigkeit von Volks- und Parlamentsgesetzen?
So wie die parlamentarischen müssen sich auch die plebiszitären Verfahren an zwei normativen Kriterien messen lassen. Zum einen sollen sie zu einem demokratischeren Zustandekommen der Entscheidungen beitragen und somit deren Legitimationskraft stärken, zum anderen die Entscheidungseffizienz erhöhen (oder sie zumindest nicht beeinträchtigen).
Für die Bundesrepublik stellt sich mit Blick auf die Systemverträglichkeit der Plebiszite als Erstes die Frage nach dem Primat der Verfassung. Dieser postuliert, dass ein vom Volk beschlossenes Gesetz der verfassungsgerichtlichen Kontrolle ebenso unterliegt wie ein Parlamentsgesetz. Handelt es sich dabei aber um Richtungsentscheidungen, denen eine höherwertige Legitimität zugeschrieben wird, wenn sie direktdemokratisch zustande kommen, dann würde das Verfassungsgericht einen solchen Volksentscheid nicht einfach kassieren können, ohne seine eigene Legitimation zu untergraben.
Ungleich schwierigere Probleme wirft die nachträgliche Aufhebung oder Abänderung eines Volksgesetzes durch das Parlament auf. Ins öffentliche Bewusstsein geriet dies erstmals 1999, als der schleswig-holsteinische Landtag einen ablehnenden Volksentscheid zur Neuregelung der Rechtschreibung nach knapp einem Jahr rückgängig machte.
Plebiszitäre Elemente und mehrheitsdemokratischer Parlamentarismus
Das letztgenannte Problem relativiert sich durch die Einbettung der plebiszitären Verfahren in den Parteienwettbewerb. Wenn die Parlamentsmehrheit ein Volksgesetz kippen möchte, ist sie gut beraten, sich dabei der Unterstützung der Opposition zu versichern, die ansonsten die Gelegenheit nutzen könnte, eine gemeinsame Front mit den Bürgern zu bilden. Dass sich das Thema direkte Demokratie aufgrund seiner Popularität für den Parteienwettbewerb hervorragend eignet, wurde bereits bei der Einführung und Ausweitung des Instruments in den achtziger Jahren deutlich, die in der Regel auf entsprechende Forderungen der Oppositionsparteien zurückgingen. Dasselbe galt und gilt für die anschließende Praxis. Stellen die plebiszitären Elemente ein potenzielles Korrektiv der repräsentativen Entscheidungsverfahren dar, dann werden die Repräsentanten alles daran setzen, ihre Nutzung zu kontrollieren.
Das heißt aber zugleich, dass dort, wo die Plebiszite als Initiativrechte ausgestaltet sind, diese das Prinzip der alternierenden Regierung unterminieren, auf dem das mehrheitsdemokratische parlamentarische System der Idee nach beruht.
Aus institutioneller Sicht lassen sich zwei Argumente anführen, warum eine Verstärkung des konsensuellen Moments durch Einführung der Volksgesetzgebung auch in der Bundesrepublik sinnvoll sein könnte. Zum einen würden die direktdemokratischen Verfahren den Blockierungstendenzen entgegenwirken, die sich im deutschen Regierungssystem aus der Kombination von starker Wettbewerbsorientierung und ebenso starker konstitutioneller Politikverflechtung ergeben. Zum anderen wären sie eine Antwort darauf, dass der Parteienwettbewerb als Problemlösungsmechanismus gravierende Schwächen aufweist, indem er z.B. die Belange der künftigen Generationen systematisch vernachlässigt.
Die Einbeziehung des Bundesrates
Könnte die Einführung der (positiven) Volksinitiative zu einer durchaus wünschenswerten Änderung der parlamentarischen Regierungspraxis führen, so würde sie mit Blick auf die föderative Mitregierung erhebliche verfassungsrechtliche und -politische Probleme aufwerfen. Diese sind in der Literatur lange Zeit ignoriert worden und haben erst jüngst zu einer intensiven Debatte geführt.
Ein Zustimmungsrecht des Bundesrates zum anschließenden Gesetzesbeschluss halten heute nur noch wenige Autoren für zwingend geboten. Die meisten Verfassungsrechtler vertreten die Ansicht, dass das Ewigkeitsgebot des Art. 79 Abs. 3 lediglich die "grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung" schütze und keine Aussage darüber treffe, in welcher Form diese Mitwirkung zu erfolgen habe. Positiv gewendet heißt das, dass die Mitwirkung auch durch die "Landesvölker" selbst erfolgen kann.
Die Übertragung dieses Modells auf die Bundesrepublik hätte den Vorteil, dass sie die unterschiedlichen Stimmengewichte der Länder im Bundesrat berücksichtigen könnte; die Mehrheit des Landesvolkes wäre dann gleichbedeutend mit der Abgabe der Bundesratsstimmen des Landes. Dies erschien den Befürwortern der direkten Demokratie seinerzeit so plausibel, dass sie die Ländermehr-Lösung 1993 in ihrem Vorschlag für eine plebiszitäre Ergänzung des Grundgesetzes verankerten, der anschließend der Gemeinsamen Verfassungskommission vorgelegt wurde. Als die rot-grüne Koalition 2002 ihren eigenen Entwurf auf den Weg brachte, konnte sie an dieses Konzept anknüpfen.
Die Schwächen der Ländermehr-Lösung erschließen sich einem erst auf den zweiten Blick. Sie liegen einmal im Verbundcharakter des deutschen Föderalismus begründet, der die Gliedstaaten auf ein Organ, das ihre Interessen schützt, funktional angewiesen macht. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn durch ein Gesetz die Finanzen der Länder berührt werden oder wenn der Bund durch allgemeine Verwaltungsvorschriften und die Einrichtung von Behörden in die Zuständigkeit der Länder für die Durchführung der Bundesgesetze eingreift. Letzteres erklärt auch die weltweit einzigartige Struktur der Zweiten Kammer als Vertretungsorgan der Exekutiven und markiert zugleich den entscheidenden Unterschied zur Schweiz. Dort ist es gar nicht nötig, dass der Ständerat den administrativen Sachverstand der Gliedstaaten in den Gesetzgebungsprozess einspeist, weil die Kantone in der nachgelagerten Verwaltung tatsächlich autonom sind.
Gegen dieses Argument ließe sich einerseits einwenden, dass das Gros der Gesetze lediglich Routineangelegenheiten umfasst, bei denen die Verwaltungskompetenz genauso gut auf anderem Wege - etwa durch eine gutachterliche Stellungnahme im Vorstadium des Volksentscheids (nach dem Vorbild des heutigen ersten Durchgangs) - wahrgenommen werden könnte.
Eine "abgespeckte" Version der Volksgesetzgebung
Die Untersuchung hat ergeben, dass eine Übernahme des Modells der zwei- oder dreistufigen Volksgesetzgebung, wie es heute in sämtlichen Bundesländern existiert, für das Grundgesetz nicht empfehlenswert wäre. Nicht nur, dass das Herzstück dieses Modells, die (positive) Gesetzesinitiative, im internationalen Kontext kaum Verbreitung gefunden hat. Auch auf der Länderebene gehen von ihm keine nennenswerten Wirkungen aus, da die äußerst restriktiven Nutzungsbedingungen das Instrument in der Praxis weitgehend entwerten. Verfassungsrechtsprechung und Landespolitiker machen zurzeit noch wenig Anstalten, daran etwas zu ändern.
Ein taugliches Modell der direkten Demokratie auf Bundesebene sollte deshalb auf die Einführung der (positiven) Gesetzesinitiative konsequenterweise verzichten. Damit wäre zum einen der Komplex von Quoren, Ausschlussgegenständen und sonstigen rechtlichen Zulassungsbedingungen wesentlich entschärft, der ansonsten mit Sicherheit zu Dauerstreitigkeiten vor dem Bundesverfassungsgericht führen würde. Zum anderen bräuchte man sich über das Bundesratsproblem nicht den Kopf zu zerbrechen, das ja bei der direkten Demokratie auf Länderebene entfällt. Ein anwendbares, systemverträgliches und in seinen institutionellen Rückwirkungen nutzbringendes Konzept direkter Demokratie könnte sich stattdessen auf zwei Elemente beschränken: eine Vetoinitiative nach schweizerischem Vorbild und ein von der Regierung anzuberaumendes einfaches Referendum.
Die Vetoinitiative gäbe dem Volk die Möglichkeit, bereits beschlossene Gesetze einer nochmaligen Abstimmung zu unterwerfen und sie gegebenenfalls zu Fall zu bringen.
Konsensuelle Wirkungen kann das Volksveto allerdings nur entfalten, wenn die regierende Mehrheit - gewissermaßen als Gegenwaffe - ihrerseits über plebiszitäre Mittel verfügt, um etwaige Blockaden im Entscheidungsprozess aufzubrechen. Die Regierung müsste also die Möglichkeit haben, ihre Gesetzesbeschlüsse vom Volk - auch gegen ein ablehnendes Votum des Bundesrates - bestätigen zu lassen.
Dass die hier vorgeschlagenen Varianten in der Debatte um das optimale "Design" der direkten Demokratie bisher kaum eine Rolle gespielt haben, ist symptomatisch. Für die Plebiszitanhänger, die der Bundesrepublik gebetsmühlenhaft die Gesetzesinitiative empfehlen, sind sie offenbar gleichbedeutend mit einer minderwertigen Form der plebiszitären Beteiligung, deren Einsatz nicht lohne. Dabei wären die systemischen Wirkungen, die von einer gleichzeitigen Einführung der Vetoinitiative und des Referendums ausgingen, beträchtlich. Es ist eine oft wiederholte Binsenweisheit, dass die direktdemokratischen Verfahren diese Wirkung nicht erst durch ihren tatsächlichen, sondern bereits durch ihren möglichen Gebrauch entfalten. Indem sie als Handlungsoption in Reserve stehen, zwingen sie die politischen Akteure, auf die Interessen der referendumsfähigen Gruppen Rücksicht zu nehmen und nach Übereinstimmung zu suchen. Dies bedeutet nicht, dass sich die Bundesrepublik zu einer Konkordanzdemokratie schweizerischen Typs wandeln wird, wenn man dem Vorschlag folgt - dem stehen sowohl die Grundstruktur des Regierungssystems als auch unsere Verfassungstradition entgegen. Mit der Einführung der Plebiszite würde allerdings ein stärker konsensorientierter Politikstil Einzug halten, der die parlamentarische Kultur langfristig verändern und die Bürger wieder näher an die repräsentativen Institutionen heranführen könnte.
Der größte Vorzug einer "abgespeckten" Version der Volksgesetzgebung liegt freilich darin, dass sie die meisten Argumente der Plebiszitkritiker auffangen würde. Der Einwand, dass sich die direktdemokratischen Verfahren für die anspruchsvollen Materien der Bundespolitik nicht eigneten, griffe dann ebenso wenig wie das Föderalismusargument. Auch die grundsätzlichen Zweifel an der Urteilsfähigkeit des Volkes könnten leichter zerstreut werden, da das Prä der parlamentarischen Repräsentation in beiden Fällen erhalten bliebe. Für die Kritiker der direkten Demokratie gilt nämlich wie für die Befürworter, dass sich ihre Argumente nahezu ausschließlich auf die (positive) Gesetzesinitiative richten. In dieser Fixierung liegt das eigentliche Problem der bundesdeutschen Debatte, die ein realistisches Verständnis dessen, was die direkte Demokratie leisten kann und was nicht, bisher verhindert hat. Erst wenn sich dies ändert und die institutionellen Vorschläge auf das richtige Gleis gebracht werden, könnte ein neuer Anlauf zu einer plebiszitären Ergänzung des Grundgesetzes gelingen.