Einleitung
Die Konjunktur des Begriffspaars "Geschichte und Erinnerung" in westlichen Gesellschaften geht auch an Russland nicht spurlos vorüber. Allerdings sucht man die Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit auf der Agenda der russischen Geschichtspolitik vergebens. Die moralische Dimension dessen, was in westlichen Demokratien unter "politisch-korrekt" verstanden wird, ist im öffentlichen russischen Diskurs nicht bekannt. Hier bezieht sich "politisch-korrekt" stets auf das, was dem Interesse des Staates dient.
Für den Findungsprozess der postsowjetischen Identität ist bezeichnend, dass in der russischen Gesellschaft keine Schlachten um ihre historische Erinnerung geschlagen werden wie derzeit etwa in Frankreich um die Erinnerung an Kolonialismus, Sklaverei und Immigration oder in Deutschland um die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. In Russland geht alles seinen ruhigen Gang. Gelassen werden "von oben" verordnete Entscheidungen zur öffentlichen Erinnerung zur Kenntnis genommen und ebenso gelassen bisweilen auch ignoriert. Die Kontinuität einer jahrzehntelang von Staat oder Partei vorgegebenen Geschichtspolitik wirkt noch immer nach. Die Zivilgesellschaft ist an der Konstruktion einer Erinnerungskultur und den mit ihr verbundenen Wertvorstellungen kaum beteiligt, von Ausnahmen wie der mutigen Tätigkeit der Menschenrechtsorganisation Memorial abgesehen.
Der im vergangenen Jahr dekretierte "Tag der nationalen Einheit" (Den' narodnogo edinstva), der die nicht mehr zeitgemäße Erinnerung an die Oktoberrevolution ablösen soll, ist ein schlagendes Beispiel für den politischen Gebrauch von Geschichte zu Zwecken nationaler Kohäsion. Worum ging es bei der Wahl des neuen nationalen Feiertags? Was stand auf dem Spiel?
"Tag der nationalen Einheit"
Wie man sich erinnert, hatte bereits die historische Publizistik der Perestrojka die Oktoberrevolution zum Staatsstreich herabgewürdigt. Doch der nationale Feiertag am 7.November wurde auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende 1991 beibehalten. Zwar hatte Boris Jelzin 1997 die Erinnerung an die "Große Sozialistische Oktoberrevolution" zum "Tag der Eintracht und Versöhnung" umfunktioniert, doch der Durchschnittsrusse, der die so genannte "kollektive Erinnerung" verkörpert, wusste hiermit nicht viel anzufangen. Das von Jelzin für den neuen-alten Feiertag versprochene Mahnmal für die Opfer der Revolution ist bisher nicht errichtet worden. Dagegen blieb der Erinnerungsort an den einbalsamierten Führer der Revolution und Gründer des Sowjetstaates im Mausoleum auf dem Roten Platz trotz gelegentlicher Einwände von Öffentlichkeit und Kirche bis heute erhalten.
Wladimir Putin führte 2001 die alte sowjetische Nationalhymne wieder ein, die Jelzin 1990 durch eine Melodie aus Glinkas "Ein Leben für den Zaren" ersetzt hatte. Putin gab auch der Armee das rote Sowjetbanner mit dem Sowjetstern zurück, das Jelzin eingezogen hatte.
Am 4. November 2005 war das russische Volk erstmals aufgerufen, sich an ein Ereignis zu erinnern, das nach Meinung der Staatsduma am selben Tag im Jahre 1612 stattgefunden hat: Damals hatte eine von Nizhnij Nowgorod ausgehende Volkswehr unter dem Kommando des Bürgers Kozma Minin und des Fürsten Dmitrij Pozharskij den Moskauer Kreml von der polnischen Besatzung befreit. Aus der Sicht der Duma bedeutete dies das Ende der politischen "Wirren" (smuta), wie die Zeitgenossen die jahrzehntelange dynastische, soziale und nationale Krise schon damals nannten. Der erste Romanow kam auf den russischen Thron (1613) und mit ihm neue Wertvorstellungen über die russische Staatsmacht, wie Putins Hofhistoriker Andrej Sakharow in der "Literaturnaja gazeta" in Erinnerung rief.
Die Analogie zu der von Putin seit Beginn seiner Herrschaft unablässig wiederholten Forderung nach dem starken russischen Zentralstaat und dem einheitlichen Volk aller Russländer ist offensichtlich. Die neue Wertvorstellung von der "Wiedergeburt Russlands" auf der Grundlage der nationalen Einheit und der "gelenkten Demokratie" soll die "Wirren" der neunziger Jahre endgültig beenden. Dass das Datum des 4. November keineswegs historisch belegt ist und die "Wirren" des 17. Jahrhunderts auch nicht an einem einzigen Tag, ja nicht einmal im Laufe eines Jahres beigelegt waren, braucht den Politiker Putin nicht weiter zu irritieren. Schwerer wiegt allerdings, dass das russische Volk von dem neuen-alten Erinnerungsort wenig überzeugt ist. Nicht mehr als acht Prozent der Bevölkerung konnten sich laut Umfragen an das von Putin beschworene historische Datum erinnern, das sich übrigens in keinem Geschichtsbuch findet. Nicht mehr als ein Prozent der Bevölkerung nahm an den landesweit organisierten Feierlichkeiten teil.
Nicht zuletzt deshalb ließ sich der Revolutionsfeiertag nicht gänzlich dem Vergessen überantworten. Er findet sich jetzt gleichberechtigt neben anderen offiziellen Gedenktagen wie dem 1. Mai, dem Tag der Frauen, dem Tag der Verteidiger der Heimat, die aus der Sowjetära übernommen wurden, und den neuen, vom postkommunistischen Russland eingeführten Gedenktagen, zu denen auch kirchliche Feiertage gehören. Zudem wird ab diesem Jahr am 20. Dezember der sowjetische "Tag der Mitarbeiter der Sicherheitsorgane" wieder begangen.
"Tag des Sieges"
Der wichtigste aus der sowjetischen Vergangenheit verbliebene Gedenktag, der auch in der postsowjetischen Erinnerungskultur den bedeutendsten Platz einnimmt, ist der "Tag des Sieges" (Den' pobedy), der 9. Mai. Er erinnert weiterhin daran, dass der Sieg über den Nationalsozialismus die Sowjetunion zur Weltmacht und den Vereinigten Staaten ebenbürtig machte, und trifft damit nach wie vor den Konsens aller Schichten der russischen Gesellschaft. Emotional und moralisch bedient die Erinnerung an den Sieg im Zweiten Weltkrieg den Stolz auf eine ruhmreiche Vergangenheit, die in die als weniger glorreich empfundene Gegenwart hineinreicht. Die staatliche Veranstaltung des Kriegsgedenkens kehrt in alter wie in neuer Stärke den unbesiegbaren russischen Staat hervor, dessen Kontinuität Putin zu konsolidieren sucht. So wie die Russische Föderation nach dem Zerfall der Sowjetunion ihr Erbe antrat, hat sie sich auch uneingeschränkt als Siegermacht an die Stelle der ehemaligen Sowjetunion gestellt.
Im Hinblick auf den Krieg als das "zentralste" Ereignis der kollektiven Erinnerung klaffen öffentliches und privates Gedächtnis noch immer nicht weit auseinander.
Dass vor allem jüngere Historiker beginnen, diesen Mythos in Frage zu stellen, und Themen erörtern, die bisher tabu waren (wie die Kollaboration in der Ukraine und Weißrussland, die Deportationen nichtrussischer Volksgruppen wie der Wolgadeutschen, Krimtataren, Tschetschenen, Inguschen oder das Verhalten der Roten Armee gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung), hat auf den öffentlichen Umgang mit diesem Teil der sowjetischen Vergangenheit bisher keinen Einfluss. Der offizielle Diskurs ist allein an der für die "Realpolitik" sinnstiftenden Darstellung Russlands als Großmacht orientiert. Deshalb hatte Putin 2001 auf einer Begegnung mit Historikern gefordert, die Verdienste des siegreichen Russland, vor allem die Rolle seiner Generäle, stärker hervorzuheben.
Der Erinnerungskult an den siegreichen Krieg ist ein Beweis dafür, dass die sowjetische Vergangenheit ungeachtet der Schreckensherrschaft Stalins nicht als belastet gilt und deswegen auch nicht "bewältigt" werden muss.
Russisch-sowjetische Mischidentität
Nach der aufklärerischen Phase der Perestroika ist in Jelzins und Putins Russland ein Patchwork nationaler Mythenarsenale politisch funktionalisiert worden, das quer durch die russische und zu einem geringeren Anteil auch durch die sowjetische Vergangenheit geht. Isabelle de Keghel spricht zu Recht von einer "russisch-sowjetischen Mischidentität", die sich das postkommunistische Russland konstruiert.
Nach der Auflösung der Sowjetunion ist die russisch-orthodoxe Kirche ein Hauptfaktor der nationalen und kulturellen "Identitätspolitik" geworden. Als einzige Institution, die ihre Wurzeln im vorrevolutionären Russland hat, ist sie in der "Erinnerung" vieler Russen mit der Vorstellung einer "heilen Vergangenheit" verbunden. Weihnachten und Ostern wurden wieder arbeitsfreie Feiertage. An den Festgottesdiensten, die landesweit vom staatlichen Fernsehen ausgestrahlt werden, nimmt das Staatsoberhaupt sowie die neue Nomenklatura teil. Auch andere kirchliche Feste wie Pfingsten, Mariä Himmelfahrt sowie die Gedenktage nationaler Heiliger wie Sergej von Radonezh und Serafim von Sarow werden wieder wahrgenommen und dank der Medien einem größeren Publikum bekannt gemacht.
Gewiss sieht die Verfassung (Artikel 14) die Trennung von Staat und Kirche vor, doch die historische Rolle der Orthodoxie als Staatskirche in vorrevolutionärer Zeit ist allgegenwärtig und wird besonders von kirchlichen Würdenträgern erinnert. Für manche Stimme aus dem höheren Klerus ist orthodox wieder identisch mit russisch und russisch mit orthodox, wie einst im Reiche der Zaren. Die von Jelzin wie von Putin geforderte "geistige und moralische Wiedergeburt Russlands" auf der Grundlage der Orthodoxie wird von allen politischen Lagern - Kommunisten, Nationalisten und westlichen Liberalen - geltend gemacht. Die Kirche gilt als Träger der Tradition eines starken Staates und soll das fehlende Band zwischen Staat und Gesellschaft knüpfen. Der Wiederaufbau der einst von Stalin gesprengten Moskauer Christus-Erlöser-Kirche wurde vom Patriarchen Alexis II. und Jelzin gemeinsam unternommen als "Symbol der Größe der Macht Russlands". Die orthodoxe Kirche bzw. die Orthodoxie steht auch immer dann für Russlands "Eigenständigkeit" (samobytnost'), wenn es darum geht, westliche Einflüsse als schädlich zu verwerfen und Russlands "eigene Werte" von dem "Anderen", das heißt dem Westen abzugrenzen. Nicht zuletzt war die Kirche auch für die Wahl des 4. November als "Tag der nationalen Einheit" mitverantwortlich, steht doch im Kirchenkalender schon seit dem 4. November 1649 das Datum der Befreiung Russlands von den "katholischen Polen" als Tag der wundertätigen Ikone der Kazaner Gottesmutter verzeichnet in Erinnerung an die Mannschaft aus Kazan, die für die Befreiung Moskaus ihre eigene Ikone mitgebracht hatten.
Die "russische Idee"
In einer Zeit der Hochkonjunktur von Erinnerungskultur und Vergangenheitspolitik liefert Russlands Identitätssuche ein exemplarisches, wenn nicht fantastisches Anschauungsmaterial. Mit Erinnerungsarbeit im westlichen Verständnis hat der öffentliche Umgang mit Geschichte in Russland nichts gemein. Das soll er wohl auch nicht, geht es doch allein darum, die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion angeschlagene Selbstdarstellung als Großmacht zu rekonstruieren. Für diesen Erinnerungsmythos ist jedes Bild und Abbild von Geschichte und Vergangenheit, das an Nationalgefühl, Patriotismus und imperiale Vorstellungen appelliert, von Nutzen. Für das Nationalbewusstsein, den russischen Sonderweg (samobytnost') und die Berufung des russischen Volkes wird die "russische Idee" (russkaja ideja) mobilisiert, die in Putins Worten für alle, ob Tataren, Baschkiren oder Tschetschenen gleichermaßen gilt: "Ohne Idee kann es keinen großen Staat geben."
In einem gewissen Sinne ist die "russische Idee" an die Stelle der verloren gegangenen "kommunistischen Idee" getreten.
Die Erinnerung an den demokratischen Aufbruch der Perestroika, die vor zwanzig Jahren begann, ist wie vom Winde verweht. Als ihr geistiger Urheber, Alexander Jakowlew, im vergangenen Oktober starb, sprachen die Medien zwar von einer historischen Figur, doch von seiner Leistung für die Glasnost war keine Rede. Am Staatsbegräbnis nahm weder Putin und nicht einmal Michail Gorbatschow teil.
Angesichts einer politischen Konstellation, die bisher keine artikulierte Distanzierung von kommunistischer Herrschaftspraxis erkennen lässt und die Putin noch immer im Zusammenbruch der Sowjetunion die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" sehen lässt,