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Bürokratischer Autoritarismus - Fallen und Herausforderungen | Russland | bpb.de

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Bürokratischer Autoritarismus - Fallen und Herausforderungen

Lilia Shevtsova

/ 19 Minuten zu lesen

Das Hauptproblem der Demokratie in Russland liegt nicht in der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern in der herrschenden Klasse, die wesentlich archaischer ist als die Gesellschaft.

Einleitung

Die neuere russische Geschichte demonstriert, wie Russlands politische Klasse, unfähig, mit den traditionellen Herrschaftsformen zu brechen, versucht, diese den neuen Realitäten anzupassen und ihnen ein demokratisches Antlitz zu verleihen. Einerseits ist die russische Regierung erstaunlich anpassungsfähig. Andererseits wird ihr Versuch, die russische Hybride, das heißt eine personale Herrschaftsform, die sich durch Wahlen legitimiert, aufrechtzuerhalten, früher oder später zu einer Aufweichung der Gesellschaft führen oder sie komplett destabilisieren. Die Regierungszeit Wladimir Putins hat bereits gezeigt, dass die von Boris Jelzin kreierte hybride Macht nicht von Dauer war. Sie musste sich entweder in Richtung einer liberalen, rechtsstaatlichen Demokratie oder in die eines härteren Autoritarismus entwickeln. In der Gesellschaft unter Jelzin waren beide Möglichkeiten angelegt - Putin hat sich für Letztere entschieden.

Die Schritte, die Putin während seiner Regierungszeit unternommen hat - die Einsetzung von Präsidentenvertretern in den Regionen, die Ruhigstellung der Oligarchen und regionalen Barone, die Liquidierung unabhängiger Massenmedien, der Übergang zu einer Ernennung der Gouverneure, die Gründung einer dem Kreml ergebenen "Partei der Macht" ("Einiges Russland"), die verschärfte Kontrolle der gesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen - all dies wurde zum Fundament des neuen Machtregimes: Die jelzinsche Wahl-Autokratie machte einem bürokratisch-autoritären Regime Platz. Aufs Neue hat der traditionelle Staat seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, sich zu maskieren und als neues Regime zu präsentieren. Unter einem bürokratisch-autoritären Regime verstehe ich eine Regierung, bei der sich die Macht in den Händen eines Führers konzentriert und die Regierung sich auf Bürokratie, Technokraten und Machtstrukturen stützt. Ihre wirtschaftliche Basis ist der staatsbürokratische Kapitalismus.

Wesentliche Stimuli für den Aufbau dieses bürokratischen Autoritarismus waren nicht nur der herannahende Zeitpunkt der Selbstreproduktion der russischen Regierung (die Parlaments- und Präsidentenwahlen 2007/2008), sondern auch die "Blumenrevolutionen" in den neuen unabhängigen Staaten, vor allem in der Ukraine, die die Instabilität des postsowjetischen Staatswesens vor Augen geführt hatten. Welche systembedingten Maßnahmen hat Putin in der Endphase der Entstehung des bürokratischen Autoritarismus unternommen? In erster Linie kehrte er zum Prinzip der Unteilbarkeit zurück - der Zusammenlegung aller Behörden und der Verschmelzung von Macht und Eigentum. Mit der Unabhängigkeit politischer Institutionen und der relativen Autonomie der Wirtschaft, wie sie sich unter Jelzin spontan entwickelt hatten, wurde ein Ende gemacht. In Russland entstand ein historisch-transitorisches Staatswesen. Dieses ist die Überlebensstrategie für Regierung und Gesellschaft in einer Situation, in der sie weder in die Vergangenheit zurück noch sich endgültig von ihr lösen wollen. Das Staatswesen, das zwischen den Epochen schwebt und eine genaue Selbstbestimmung meidet, erfordert Imitation. Hierin ist die russische Regierung perfekt: Es handelt sich um die Imitation eines liberal-demokratischen und rechtsstaatlichen Systems, die das Fehlen entwickelter machtpolitischer und ideologischer Herrschaftsmechanismen sowie die fehlende Bereitschaft der herrschenden Klasse kompensiert, in vollem Umfang Gewalt anzuwenden. Dabei werden die liberal-demokratischen Prinzipien diskreditiert und der Möglichkeit beraubt, zur Alternative zu werden.

Beim Aufbau dieser staatlichen Hybride hat es Putin verstanden, den Westen zu einem Systemfaktor des bürokratischen Autoritarismus zu machen. So betrachtet die russische Elite die Partnerschaft mit dem Westen als Mittel zur finanziellen Unterfütterung des politischem Regimes und zu seiner internationalen Legitimierung. Dennoch nutzt die Elite die antiwestliche Stimmung, um die Gesellschaft durch die Suche nach einem Feind zu mobilisieren. Kurz, die Elite der russischen Obrigkeit ist zwar Europa zugewandt, lehnt dieses aber als Wertmaßstab für die eigene Gesellschaft ab. Ein Beispiel hierfür ist die in Russland um sich greifende "Spionomanie" und der Einsatz von Spionageskandalen, um die Zivilgesellschaft und insbesondere Nichtregierungsorganisationen zu diskreditieren, die vom Westen gefördert werden. Die Einladung des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, für Gasprom zu arbeiten, der Versuch, den ehemaligen amerikanischen Handelsminister Donald Evans als Aufsichtsratsvorsitzenden des Konzerns Rosneft zu gewinnen und die gleichzeitige Ablehnung westlicher Werte für das Land spiegeln eine "Politik von Unvereinbarkeiten" wider. Sie ist unentbehrlich für ein System, das zwischen Vergangenheit und Gegenwart laviert.

Mechanismen der Herrschaft

Es ist der Regierung gelungen, die Billigung des Verfassungsgerichts für das Recht des Präsidenten zu erhalten, die Gouverneure zu ernennen, was den Boden für die Missachtung der Verfassung und die Untergrabung des föderativen Staatsaufbaus bereitet. Somit ist Russland zu einem Regime der politischen Zweckmäßigkeit zurückgekehrt, und ein Handeln "nach Gutdünken" und nicht nach dem Gesetz hat seine formelle Legitimation erhalten. Schließlich hat Russland mit dem Konsens innerhalb der politischen Klasse hinsichtlich der Erhaltung des Status quo das Jahr 2006 begonnen. Dieser Konsens ist bezeichnend für eine Situation, in der keine der Elitegruppen radikale Veränderungen wünscht, denn jede hat innerhalb des bürokratischen Autoritarismus Wege gefunden, ihre Interessen durchzusetzen, indem sie diese als gesellschaftliche Interessen darzustellen sucht.

Der bürokratische Autoritarismus in Russland hat es vermocht, sich nicht nur zu organisieren, sondern auch Überlebensmechanismen zu entwickeln. Im Unterschied zu den bisherigen Inkarnationen will die jetzige Alleinherrschaft auf massenhafte Gewaltanwendung verzichten und knüpft überall auf Protektion basierende und klientelistische Beziehungen. Ein Beispiel für die Institutionalisierung des Loyalismus ist die Bildung der "Gesellschaftskammer der Russischen Föderation" im vergangenen Jahr, ein Gremium, das bei der Elite Untertanengeist als Gegenleistung für die einen oder anderen Vorteile, mitunter einfach für das Gefühl der Nähe zur Macht, stützen soll. Die Einbindung von Liberalen, Apologeten der Großmachtpolitik und Populisten in die Macht blockiert die Bildung einer Opposition auf der rechten wie der linken Seite des politischen Spektrums. Solange liberale Symbolfiguren, von Anatoli Tschubais (Präsident des Strommonopolisten UES) bis German Gref (Wirtschaftsminister), im Machtbereich verbleiben, macht dies die Herausbildung einer liberalen Opposition unmöglich. Solange der Präsident das nationalpatriotische Thema besetzt, verengt sich das Feld für eine national-populistische Opposition. Potenzielle Protestnischen mit politischen Klonen zu besetzen, ist eine weitere Methode, systemfeindliche Bedrohungen zu neutralisieren.

Während Putins Regierungszeit hat in Russland eine Reorganisation stattgefunden, die man als Stärkung des Autoritarismus interpretieren kann. Aber de facto vollzieht sich eine Stärkung der bürokratischen Schicht, und zwar indem diese die Macht des Führers an sich reißt, der selbst damit nicht zurechtkommt. Dadurch wird die Führung zwangsläufig geschwächt. In diesem Kontext verliert die Frage, wer die Entscheidungen trifft und wer mehr Einfluss hat, der Präsident oder seine Entourage, ihren Sinn. Im bürokratischen Autoritarismus hängt der Führer von der bürokratischen Schicht ab, je länger desto mehr; aber nur er ist imstande, ihre Entscheidungen zu legitimieren, die sie ausführen kann - oder auch nicht. Während der Jelzin-Periode waren innerhalb der herrschenden Schicht noch schwache Reformimpulse auszumachen. Jetzt sind sie verstummt. Der liberal-technokratische Teil der herrschenden Schicht strebt ebenso nach Erhalt des Status quo wie die Machtbürokratie.

Die Stärkung der Schutzreflexe bei denen, die sich in verschiedenen Machtpositionen etablieren konnten, ist nichts Singuläres - es ist eine Folge des postrevolutionären Syndroms, das nicht nur im Hang zur Stabilisierung, sondern auch im Streben nach partieller Restauration zum Ausdruck kommt. Dieses Syndrom erfasst auch die Opposition, die insofern zur konservativen Kraft wird, als sie nicht über frühere Politikvorstellungen hinausgehen kann, wobei sie die oppositionelle Nische besetzt und das Auftreten neuer politischer Kräfte erschwert.

Die Stärkung der bürokratischen Schicht ging zwangsläufig mit einer Expansion in die Wirtschaft einher. Während Putins Regierungszeit hat sich eine Schicht von oligarchischen Apparatschiks gebildet, die das Eigentum kontrolliert, ohne es zu besitzen und ohne dafür die Verantwortung zu tragen. Sie hat sich zu einer parasitären Klasse von "Rentiers" entwickelt. Unter der Losung von der "energiepolitischen Supermacht" hat die herrschende Schicht versucht, globale Ambitionen zu produzieren und sie mit der Selbstreproduktion durch die Ausbeutung der Rohstoffressourcen in Einklang zu bringen. Die Evolution des russischen Staates in Richtung eines "Petro-Staats" könnte damit enden, dass Russland zu einem Rohstoffanhängsel der Weltgemeinschaft wird. Aber da es um den einzigartigen Versuch geht, die Charakteristika eines "Petro-Staats" und einer Atommacht zu kombinieren, sind unvorhersehbare Folgen einer derartigen Symbiose nicht auszuschließen. Russlands "Erdgaskrieg" mit der Ukraine und die Konflikte zwischen Russland und Georgien vermitteln eine Vorstellung davon, wie sich ein russischer "Petro-Staat" auf der internationalen Bühne verhalten könnte und wie er Spannungen nutzt, um im Lande einen wahlpolitischen Effekt zu erzielen.

Bis in die jüngste Zeit suchte die russische Elite einen Weg zur Konsolidierung der Gesellschaft zwischen dem neoimperialen Vektor und dem Experimentieren mit dem Nationalismus. Heute wendet sie sich immer intensiver der "Russischen Idee" zu und stimuliert nationalpopulistische und antiwestliche Stimmungen. Gerade die "Russische Idee" scheint die adäquate Begründung für die konservative Schutzfunktion eines transitorischen Staatswesens. Allerdings hofft die Regierung, den Nationalismus unter Kontrolle halten zu können. Im Moment einer Krise jedoch könnte sich die Ideologie der Suche nach einem Feind in Russland als äußerst gefragte Form der Selbstbehauptung erweisen. Sowohl der neoimperiale Vektor als auch der russische Nationalismus fallen indes aus dem modernen zivilisatorischen Rahmen heraus. Die Hoffnungen eines Teils der Elite, das Imperium zu rekonstruieren, haben kaum Chancen. Den Bedarf an Nationalem hat Russland in dem Moment empfunden, in dem die Welt die Krise des nationalstaatlichen Paradigmas erlebte, was die russische Entwicklung nur noch auswegloser erscheinen lässt.

Die innenpolitische Agenda

Führen wir uns vor Augen, was für die russische Regierung in den kommenden Jahren innenpolitisch auf der Tagesordnung steht. Was will der Kreml erreichen? Erstens will er die Stabilität in der Gesellschaft erhalten. Zu diesem Zweck hat die Regierung "nationale Projekte" für Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnraum und Landwirtschaft proklamiert, womit sie Fürsorge für die Staatsangestellten demonstrieren will. Zweitens will sie einen Machtkampf am Ende von Putins Präsidentschaft verhindern. Drittens will sie die Umverteilung der Wirtschaftsressourcen zum Abschluss bringen. Viertens will sie Russland in eine energiepolitische Supermacht verwandeln. Diese Agenda lässt eine Fortsetzung von Reformen nicht zu. Von nun an dienen alle Handlungen der Regierung ihrer Selbstreproduktion, in erster Linie durch die Ausschaltung möglicher Regierungsgegner und die maximale Nutzung der Möglichkeiten einer Potemkin-Politik. Es geht der Regierung darum, den bestehenden Zustand zu erhalten und die Unterstützung der Gesellschaft sowie des Westens für den Status quo zu gewinnen, indem sie diese davon überzeugt, dass der bürokratische Autoritarismus, wenn auch nicht die beste aller Möglichkeiten, so doch zumindest das geringste Übel ist.

Welche Garantien gibt es dafür, dass dem Kreml dies gelingt? Die Regierung hat hinreichend Mittel, um einen Erfolg ihrer Sozialpolitik vorzuspiegeln und diese Imitation bis zum Ende des neuen Wahlzyklus durchzuhalten. Es gibt eine Reihe anderer Faktoren, die den Zustand einer stagnierenden Stabilität in Russland, der sich am Status quo orientiert, fördern. Erstens bleibt der Ölpreis für die Regierung das wichtigste Sicherheitsnetz. Zweitens setzt sich das Wirtschaftswachstum im Lande fort, was bei einem Teil der Gesellschaft eine positive Grundstimmung hervorruft. Drittens ist das Volk der früheren Erschütterungen immer noch müde und nicht bereit, auf die Straße zu gehen. Viertens sind die Menschen von der Opposition enttäuscht und werden ihr nicht zu Hilfe eilen. Fünftens greift das Regime mit Erfolg Ideen der Opposition auf, sowohl der linken als auch der rechten, und diskreditiert auf diese Weise beide. Sechstens ermöglicht die Milde des Regimes auch den Gegnern ein Überleben. Siebtens gelingt es den Polittechnologen, das öffentliche Bewusstsein zu manipulieren und den Eindruck zu erwecken, es gebe zum gegenwärtigen Regime keine Alternative.

Wenn der Kreml offensichtliche Dummheiten vermeidet, kann er seine Ziele durchaus erreichen. Ein Machtkampf nach ukrainischem Szenario ist nur unter verschiedenen Bedingungen möglich, die in Russland bisher nicht vorliegen: Unzufriedenheit von unten, eine Spaltung der politischen Klasse, Aktivierung der Jugend und unabhängiges Fernsehen. Der Kreml hat aus den Krisen des postsowjetischen Systems gelernt und vorbeugende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des "orangenen Virus" getroffen. Die Regierung hat Anlass zur Hoffnung, dass die Expansion des Staates in die Wirtschaft auf keinen Widerstand stößt, sondern vielmehr von der Gesellschaft unterstützt wird. Auch den Westen gewinnt der Kreml für die Unterstützung seines auf dem Oligarchenapparat beruhenden Kapitalismus.

Das wahrscheinlichste Szenario der Selbstreproduktion der Macht ist ihre Übergabe an einen zuvor bestimmten Nachfolger. Wer das letztlich sein wird, ist nicht so wichtig. Viel erheblicher ist, ob der Konsens in der Elite bei der Regelung der Nachfolgefrage und der hierfür vorgesehenen Person von Dauer sein wird. Einstweilen gelingt es, Thronfolgekämpfe zu vermeiden, weil alle verstehen, dass ein derartiger Kampf ein Risiko mit unvorhersehbaren Folgen darstellt. Es ist ferner nicht hundertprozentig auszuschließen, dass die Unfähigkeit der Herrschenden, hinsichtlich des Nachfolgers einen Konsens zu erreichen, Putin zwingt, im Kreml zu bleiben. Dieses Szenario - mit der Gefahr der Delegitimierung der Macht verbunden - würde diese nur umso verwundbarer machen, und darüber ist sich der Kreml im Klaren.

Heißt das, dass man ruhig schlafen kann und dass der Moment der Wahrheit, der auf Russland zukommt - die Selbstreproduktion der Macht 2007 und 2008 - ohne Erschütterungen ablaufen wird? Alle Tendenzen sprechen dafür, dass Russland sich in einer Konsolidierungsphase des bürokratischen Autoritarismus befindet und dass das System mögliche Risiken zu neutralisieren vermag. Aber es ist zu bedenken, dass dem politischen System mindestens drei Konfliktquellen innewohnen, die es zur Explosion bringen können. Da ist erstens der Konflikt zwischen der personalen Macht und der Notwendigkeit, diese zu wählen; diesen versucht die Regierung mit Hilfe einer Wahlmanipulation zu lösen. Zweitens will die Regierung den Status quo erhalten bei gleichzeitiger Umverteilung der Ressourcen, was denjenigen missfallen könnte, die dabei benachteiligt werden. Drittens birgt die Vernichtung des politischen Pluralismus die Gefahr, dass gesellschaftliche Interessen systemfeindlichen Charakter annehmen können.

Die situationsbedingten Faktoren, die heute stabilisierend wirken, können sich morgen in anderer Richtung auswirken. Nehmen wir das Öl als Faktor der Beruhigung. Wer sich mit seiner stabilisierenden Rolle tröstet, verkennt, dass die Ölpreise periodisch einbrechen - mit erheblichen Folgen. Deshalb ist es eine mindestens naive Hoffnung, dass China mit seinem Energiebedarf und der Irak, solange er nicht befriedet ist, Russland auf unbestimmte Zeit Ruhe garantieren. Betrachten wir ferner das Gesetz der unintended consequences (unbeabsichtigten Folgen), demzufolge die Regierungspolitik Ergebnisse zeitigen kann, die den erwarteten genau entgegengesetzt sind. Wo ist die Garantie, dass mit den Kremlbewegungen "Naschi" (die "Unsrigen") und "Molodaja Gwardija" ("Junge Garde") nicht das gleiche geschieht wie mit der "Rodina" (Heimat), die alle Merkmale einer künstlichen Kreation aufwies und sich dann in eine losgerissene Kanone auf einem Schiffsdeck verwandelte? Die Aktivierung nationalistischer Losungen verläuft so "erfolgreich", dass der Kreml sich jetzt anstrengen muss, den Geist zurück in die Flasche zu treiben.

Am häufigsten hat sich das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen in den Beziehungen Russlands zum Nachbarland Ukraine gezeigt. Vor einem Jahr verhalf die ungeschickte Unterstützung Moskaus für Viktor Janukowitsch dem Gegenkandidaten Viktor Juschtschenko zum Sieg. Heute hat das "Gasdiktat" Russlands gegen die Ukraine dort nicht nur antirussischen Stimmungen Auftrieb gegeben, sondern auch Putins Idee, Russland zu einer Energie-Supermacht zu machen, untergraben. Erschreckt durch das russische Ultimatum ist der Westen bereit, nach alternativen Energiequellen zu suchen, einschließlich der Atomenergie, wie Finnland dies schon getan hat.

Was die "nationalen Projekte" betrifft, so schickt sich die Regierung an, den Bedürftigen den Fisch anzubieten und nicht die Angel, mit der sie ihn selbst fangen könnten. Das stärkt nicht nur die Abhängigkeit der Bevölkerung von der Regierung, sondern macht diese Abhängigkeit auch zu einem Protestfaktor, falls die Regierung ihre populistischen Versprechungen nicht einlösen kann. Man kann sicher sein, dass die Regierung über genügend Öldollars verfügt, um Putins ernanntem Nachfolger das Präsidentensprungbrett zu sichern. Aber wie wird Putins Nachfolger nach 2008 mit dem populistischen Erbe umgehen?

Eine Voraussetzung für die Stabilität der Gesellschaft ist eine in das System einbezogene Opposition, denn eine in ein Ghetto abgedrängte Opposition ist unberechenbar. Außerdem befürworten 61 Prozent der Russen eine reale Opposition (nur 25 Prozent lehnen sie ab); 47 Prozent denken, dass in der Gesellschaft derzeit keine Opposition existiert (30 Prozent meinen, es gebe eine). Das Volk wünscht also offenbar das Auftreten einflussreicher Regierungsgegner.

Obwohl der Kreml anscheinend alle Risiken bedacht hat, ist es hinsichtlich der Sicherung der Nachfolge eine undankbare Aufgabe, vorauszusagen, inwieweit es gelingen wird, die Stabilität eines geschlossenenSystems zu erhalten, das begonnen hat, nur noch für seine Selbsterhaltung zu arbeiten.

Stellen wir uns die Häufung folgender Ereignisse vor: eine kommunale Wohnungsreform, Erhöhung der Energiepreise, Verkehrsstaus in den Großstädten, Lohnzahlungsrückstände bei Staatsangestellten in den Regionen, Unzufriedenheit von Studenten, eine technologische Katastrophe wie etwa eine Stromabschaltung in Moskau. In diesem Fall kann ein Funke selbst die geduldigste Gesellschaft in Rage bringen.

Wie kann man von der Stabilität überzeugt sein, wenn nach jüngsten Umfragen nur 38 Prozent der Russen glauben, dass das Land sich in die richtige Richtung bewegt, und 45 Prozent gegenteiliger Auffassung sind; wenn 50 Prozent denken, im Lande herrsche eine gespannte Situation (neun Prozent halten sie sogar für explosiv), und nur 28 Prozent meinen, die Situation sei ruhig; wenn von den 76 Prozent der Befragten, die Putins Präsidentschaft positiv gegenüberstehen, 49 Prozent denken, er habe die Ordnung nicht garantieren können, 57 Prozent, dass er wirtschaftspolitisch keinen Erfolg gehabt habe, und 50 Prozent, er sei in Tschetschenien gescheitert.

Nicht weniger dramatisch ist etwas anderes. Wenn in der Gesellschaft einflussreiche liberaldemokratische Kräfte fehlen, kann eine angespannte Situation nationalpopulistische Kräfte stärken. In diesem Fall haben jene Recht, die warnen, das gegenwärtige Regime sei der Inbegriff der Zivilisation im Vergleich zu dem, was uns im Falle seines Zusammenbruchs blühen könnte. Aber gerade die gegenwärtige Macht hat die Logik der Bewegung in die Vergangenheit erzeugt, eine Logik, die sie andererseits selbst fürchtet und in der Putin als der einzige Europäer erscheint. Je länger sich diese Logik entfaltet, umso mehr Möglichkeiten gibt es, dass eine neue Runde im Machtkampf unter der Losung eines "neuen Isolationismus" beginnt, vor deren Gefahren selbst der Kreml warnt.

Russland in der Welt

Russland reflektiert nicht mehr über eine Integration in die westliche Gemeinschaft. Heute versteht sich Russland zugleich als Partner und als Konkurrent des Westens. Der Kern der Formel "Partner und Verbündeter" besteht in Folgendem: "Wir arbeiten mit euch bei der Lösung internationaler Probleme zusammen, aber bekämpfen euren Einfluss sowohl innerhalb des Landes als auch in dem Raum, den wir als unsere Einflusssphäre ansehen." Es gibt mindestens vier Gründe, die eine Anbindung Russlands als konsequenten Partner des Westens unmöglich machen. Erstens ist die russische politische Klasse nicht bereit, die Hegemonie der USA zu akzeptieren, die Russland nur die Rolle des Juniorpartners überlässt. Zweitens will Russland auf dem postsowjetischen Territorium dominieren, und das ist nur natürlich, wenn man berücksichtigt, dass dieser Einfluss zu seinem Selbstverständnis gehört. Drittens nutzt Moskau immer aktiver antiwestliche Stimmungen zur Stärkung seines politischen Regimes. Viertens betont Russland den Faktor des Territoriums, der Macht und der Souveränität, verwirft das europäische Integrationsprojekt und betrachtet die Bewegung der neuen unabhängigen Staaten in Richtung auf Europa als antirussische Herausforderung.

Derzeit macht sich die russische politische Klasse kaum Gedanken darüber, wie absurd ihre Handlungen mitunter erscheinen. Wenn Moskau eine road map für die Annäherung an Europa ausarbeitet, warum sollte man dann das Streben der Ukraine nach Europa für feindselig halten? Wenn Russland den Vorsitz der G8 übernimmt, mit welchem Recht kann man dem Westen dann vorwerfen, die Integrität Russlands zu untergraben? Wenn die USA Russlands Partner in der Antiterror-Koalition sind, warum muss man dann fordern, dass die Amerikaner aus dem explosiven Mittelasien abziehen? Die Liste solcher Widersprüche ließe sich fortsetzen. Indes bedeutet diese Politik gleichzeitiger Partner- und Gegnerschaft, die für die gegenwärtigen Ziele der russischen Regierung bequem zu sein scheint, nichts anderes als ihre Unfähigkeit, eine Entwicklungsstrategie zu bestimmen. Darüber hinaus ist diese Politik ökonomisch für Russland unvorteilhaft, zumal es so gezwungen ist, seine Ressourcen in den Sicherheitsbereich zwecks Abschreckung des Westens zu investieren, und dabei freiwillig zu dessen Rohstoffanhängsel wird.

Die russische Politik im postsowjetischen Raum (Einmischung in die innenpolitische Auseinandersetzung der Ukraine, Unterstützung des Regimes von Alexander Lukaschenko in Belarus, Wirtschaftsblockade Moldawiens, Bündnis mit dem usbekischen Präsidenten Islam Karimow) zeigt, dass diese Staaten in Moskaus Augen nach wie vor Bereiche seiner Innenpolitik darstellen. Einflussnahme auf die "Post-UdSSR" ist für den Kreml immer noch ein Instrument zur Stärkung des russischen Staates. Und jegliche Beziehungen des Westens zu den neuen unabhängigen Staaten unter Umgehung Russlands werden bei der russischen politischen Klasse die Empfindung einer belagerten Festung auslösen. Die Ironie liegt hier darin, dass Moskau, je deutlicher es instabile Regime oder korrumpierte und unpopuläre Führer stützt, umso aktiver antirussische Stimmungen in den Ländern schürt, die es doch eigentlich in seinem Machtbereich halten will.

Was Russland und Europa betrifft, so haben beide Seiten ein gegenseitiges Einvernehmen in prinzipiellen Dingen erzielt: Einerseits erkennen sie die Tatsache ihrer Verschiedenheit an, sind sich andererseits jedoch einig darin, dass sie eine Partnerschaft imitieren wollen. Das spricht dafür, dass beide Seiten keine irreversible Distanzierung wünschen. Während Moskau Brüssel gegenüber feindselig gesonnen ist, fördert es die bilateralen Beziehungen zu einzelnen europäischen Hauptstädten. Entscheidend für Russland und besonders für seine energiepolitischen Ambitionen bleiben die Beziehungen zu Deutschland, und Angela Merkel hält in ihren Händen den Schlüssel zu einer russisch-europäischen Partnerschaft. Während die EU und Russland sich bemühen, Konflikte zu vermeiden, besteht zwischen dem "neuen Europa" und Russland eine eindeutige Animosität. Die stärkste Allergie in Moskau ruft Polen hervor, das vor allem in der Ukraine und in Belarus die Rolle eines Missionars spielen will. Brüssel zieht hinsichtlich der diplomatischen Manöver Warschaus eine vorsichtige Haltung vor, während Washington das Selbstbewusstsein der Polen unterstützt. Aber wenn Russland wirklich versuchen will, seine Beziehungen zu Europa zu erhalten, dann muss sich der Kreml früher oder später damit abfinden, dass der Weg nach Brüssel nicht mehr nur über Berlin und Paris führt. Auf diesem Wege liegen unbedingt Warschau und die anderen Hauptstädte des ehemaligen Warschauer Pakts.

In den Beziehungen Moskaus zu Washington gilt eine bekannte Triade: internationaler Terrorismus, nukleare Nichtverbreitung, Energiedialog. Ein höfliches Lächeln der Führer soll den fehlenden Fortschritt in all diesen drei Punkten kompensieren. Russland und die USA befinden sich immer noch im Stadium gegenseitigen Misstrauens, was beide Seiten zu kaschieren suchen. Russland macht keinen Hehl aus seinem Bestreben, die USA aus dem Territorium der ehemaligen UdSSR herauszudrängen. In Anlehnung an eine alte amerikanische Erfahrung versucht es, auf postsowjetischem Raum seine Spielart der "Monroe-Doktrin" zu praktizieren. Allerdings könnte sich Moskau, wenn es versucht, die Rolle des Hegemons zu spielen, als Juniorpartner wiederfinden - aber nicht von Washington. Zbigniew Brzezinski warnte nicht ohne Grund, dass ein Wettlauf mit Amerika sinnlos sei, aber ein Bündnis mit China die Unterordnung Russlands bedeuten würde.

Was ist Amerikas Antwort auf das russische Bestreben, zur Großmachtpolitik zurückzukehren? Das Weiße Haus demonstriert gegenüber dem Kreml Wohlwollen, und das ist klug, denn je weniger Komplexe die russische politische Klasse hat, umso leichter lässt sich mit ihr verhandeln. Außerdem zeitigt offener Druck auf die russische Führung meist entgegengesetzte Resultate. Allerdings verstehen die Amerikaner ihre Beziehungen zu Russland als Verhältnis "gegenseitiger Verpflichtungen" und gehen zu offensiver Diplomatie über. Das kann bedeuten: "Ihr wollt WTO-Mitglied werden, ihr erwartet amerikanische Investitionen, ihr seid interessiert an einer Ausweitung des Energiedialogs? Gut, wir helfen euch, aber nur wenn ihr bereit seid, über die folgenden Fragen zu sprechen." In den Rahmen der "Taktik der Gegenseitigkeit" kann ein Paket ökonomischer, außenpolitischer und politischer Themen zur Diskussion eingebracht werden. Man kann davon ausgehen, dass Washington, ohne Putin in die Ecke zu drängen, den Druck auf ihn verstärken wird.

Insgesamt gibt es auf beiden Seiten Illusionen, im Westen wie in Russland. Der Westen, auf eigene Probleme konzentriert, hofft, dass Russland ihm keine Kopfschmerzen bereiten wird. Im Konfliktfall wird Moskau schon nachgeben, wie während der vergangenen 15 Jahre. Westliche Politiker beachten nicht, dass es dem Kreml, der seinen Status wiederherstellen möchte, immer schwerer fallen wird, ohne Gesichtsverlust Konzessionen zu machen. Seinerseits ist in Moskau die Illusion entstanden, dass Russland sich vieles erlauben kann, verfügt es doch über Energieressourcen, auf die die Welt angewiesen ist. Aber der Zeitpunkt wird kommen, an dem die herrschende Klasse in Russland verstehen wird, wie illusorisch eine Macht ist, die allein auf Rohstoffen basiert.

Vor diesem Hintergrund gibt es auch ein positives Moment - die Stimmung in der Öffentlichkeit. So denken 73 Prozent der Russen, dass ihr Land auf gegenseitigem Vorteil beruhende Beziehungen zum Westen unterhalten sollte (nur 16 Prozent plädieren für eine Distanzierung); 63 Prozent stehen positiv zu den USA (negativ: 30 Prozent) und 73 Prozent positiv zur EU (negativ: 13 Prozent). Wenn es der russischen Gesellschaft gelingt, nicht in Neoimperialismus oder Nationalismus zu verfallen, kann Russland aus der historischen Falle herauskommen. Aber hierfür muss die politische Klasse erkennen, wie selbstmörderisch der bürokratische Autoritarismus in Verbindung mit Großmachtstreben ist, und beginnen, andere Wege für eine Erneuerung Russlands zu suchen.

Was will die russische Gesellschaft?

Ist die russische Gesellschaft bereit, sich in die Richtung liberaldemokratischer Werte zu entwickeln? Man sollte nicht zu viel erwarten. Die meisten russischen Bürgerinnen und Bürger haben nie in einer echten Demokratie gelebt. Die russische Demokratie schwankt noch immer, und es ist leicht, sie zu desorientieren. Aber für ein Volk, das über keine Tradition politischer Freiheiten verfügt, haben sich die Russen diese für sie neuen Werte erstaunlich schnell angeeignet. Umfragen zufolge denken zwar 75 Prozent der Befragten, dass Ordnung das Wichtigste sei, selbst wenn man dafür Verletzungen demokratischer Prinzipien in Kauf nehmen muss, und nur 13 Prozent setzen die Demokratie an die erste Stelle. Aber zugleich sind 42 Prozent der Befragten der Auffassung, dass der Wohlstand des Landes von einer Stärkung der bürgerlichen Freiheiten abhängt, und nur 31 Prozent meinen, eine Zentralisierung der Macht sei in dieser Beziehung günstiger. Nur zwölf Prozent stellen die Interessen des Staates über die Menschenrechte; 15 Prozent denken, um der Interessen des Staates willen sei eine Einschränkung der Menschenrechte hinzunehmen, 44 Prozent sind überzeugt, dass die Menschen ein Recht haben, für ihre Rechte zu kämpfen, selbst wenn dies den Interessen des Staates zuwiderläuft; 21 Prozent veranschlagen die Rechte des einzelnen Menschen höher als die Interessen des Staates.

Diese Umfragen bestätigen, dass das Hauptproblem der Demokratie in Russland nicht in der Gesellschaft liegt, sondern in der herrschenden Klasse, die wesentlich archaischer ist als die Gesellschaft. Wenn Russland weiter in den Autoritarismus hineinschlittert, so geschieht das nicht, weil die Mehrheit der Gesellschaft dies will, sondern entgegen ihrem Wunsch und weil niemand dem Volk eine überzeugende liberaldemokratische Alternative angeboten hat oder auch nur hätte anbieten können.

Die politische Realität in Russland ist voller Paradoxien. Einerseits bietet das postkommunistische System ein Bild der Stabilität, andererseits wird das System infolge der in ihm angelegten Konflikte untergraben. Nachdem er sich von den Verpflichtungen gegenüber der vormals herrschenden Schicht gelöst hat, könnte Putin andere, neue Wege gehen. Doch er hat sogar auf jene halbherzigen Modernisierungsschritte verzichtet, die er noch in seiner ersten Regierungszeit unternommen hatte, und sich für die Logik des bürokratischen Autoritarismus entschieden. Äußerlich könnte es den Anschein haben, dass die Präsidenten-"Vertikale" mit ihrer überzogenen Machtkonzentration nicht nur das Überleben der politischen Klasse, sondern auch gesellschaftliche Stabilität garantiert. Aber dieser Eindruck trügt, denn strukturelle Konflikte werden künftig zunehmend an die Oberfläche treten, die das Gleichgewicht des in Russland entstandenen Systems zu sprengen drohen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Übersetzung aus dem Russischen: Vera Ammer, Euskirchen.

  2. Die hier und im Folgenden verwendeten Umfragedaten stammen aus einer empirischen Erhebung über die soziale und politische Situation in Russland vom 12.12. 2005; die Umfrage wurde vom Levada-Center, Moskau, durchgeführt (www.levada.ru).

B.A., M.A., Ph.D.; Senior Associate, Russian Domestic Politics and Political Institutions (Co-Chair) am Carnegie Moscow Center, Carnegie Endowment for International Peace. Tverskaya, 16/2, 125009 Moskau/Russland.
E-Mail: E-Mail Link: lilia@carnegie.ru