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Kritische Bürgerinnen und Bürger - eine Gefahr für Demokratien?

Brigitte Geißel

/ 14 Minuten zu lesen

Untersuchungsergebnisse zeigen, dass kritikbereite Bürger politisch informierter, partizipationsfreudiger und stärker mit der Demokratie identifiziert als nicht kritikbereite sind.

Einleitung

Politische Unterstützung gilt in der Regel als eine wichtige Ressource für die Stabilität von Demokratien. Nur wenn die Bürgerinnen und Bürger ein demokratisches System ausreichend unterstützten, würden sie Regeln und Normen einhalten, und das System könne gut funktionieren.



Ein über Wahlperioden hinweg andauernder Verlust an politischer Unterstützung würde demokratische Institutionen schwächen, den Glauben an die Demokratie untergraben und schließlich unweigerlich zu ernsthaften Krisen oder sogar Zusammenbrüchen führen. Unterstützung galt deshalb als unentbehrliche staatsbürgerliche Tugend und stand - mit einigen wenigen Ausnahmen - bis in die achtziger Jahre im Zentrum der Forschung.

Seit den neunziger Jahren setzte sich die Vorstellung von Kritik als Ressource für (die Weiterentwicklung von) Demokratien immer stärker durch. Kritik wird heute seltener als Krisenindikator und Bedrohung von Demokratie, sondern als Antriebskraft und Stimulus für politische Reformen interpretiert. Demokratische Systeme entwickelten sich weiter, wenn kritische Bürgerinnen und Bürger die Umsetzung demokratischer Ideale einforderten und für institutionelle Reformen kämpften.

Entsprechende Forderungen hätten beispielsweise zur Ausweitung des Wahlrechts in allen Demokratien geführt sowie zur Beschränkung der Macht von Eliten (beispielsweise des House of Lords in Großbritannien). Ohne kritische Bürger würden sich Korruption, Selbstbereicherung und andere Formen der Misswirtschaft unter dem politischen Führungspersonal ausbreiten. Die gegenwärtige politische Kritik sei ein historischer Schritt für die nächsten Verbesserungen demokratischer Institutionen und Prozesse.

Dimensionen politischer Kritik

Was aber ist unter politischer Kritik zu verstehen? Der Begriff "Kritik" ist facettenreich und wird in der Literatur keineswegs einheitlich angewandt. Die meisten Studien definieren Kritik als Unzufriedenheit. Menschen, die mit dem Führungspersonal oder dem Funktionieren der Demokratie unzufrieden sind, werden als kritisch bezeichnet. Aus dieser Unzufriedenheit werden euphorische, weit reichende Schlüsse gezogen: Unzufriedene Bürger gelten als Hoffnungsträger. Sie seien ein Indikator für die politische Qualität und politische Wachsamkeit der Bürgerschaft.

Doch sind unzufriedene Bürger per se politisch wachsame und aufmerksame Demokraten? Ist Unzufriedenheit nicht auch als Reaktion auf einen unbefriedigenden politischen Prozess zu interpretieren? Eine große Anzahl an unzufriedenen Bürgerinnen und Bürgern wäre dieser Sichtweise zufolge eher ein Beleg für ein schlecht funktionierendes demokratisches System, diente aber kaum als Nachweis für eine besonders wachsame, kritikbereite, demokratische Bürgerschaft.

Die Vermischung der normativen wachsamen Kritikbereitschaft mit der tatsächlichen Unzufriedenheit erschwerte bislang die Analyse des komplexen Konstrukts "politische Kritik". Erst die Trennung der tatsächlichen Bewertung (Unzufriedenheit bzw. Zufriedenheit) von der normativen Verhaltensdisposition (Kritik- bzw. Nichtkritikbereitschaft) ermöglicht es, politische Kritik differenzierter zu verstehen.

Offen bleibt die Frage, ob kritikbereite Personen tatsächlich eine Gefahr für die Demokratie darstellen oder ob sie eine Ressource sind. Wie kann diese These empirisch überprüft werden? In dem vorliegenden Beitrag wird analysiert, ob kritikbereite oder nicht kritikbereite Bürger besonders demokratieförderliche Profile aufweisen. Wenn sich beispielsweise herausstellen würde, dass kritikbereite Bürger häufig politisch entfremdet oder uninformiert sind, so wären sie als demokratische Gefahr zu bezeichnen.

Politische Kritikbereitschaft:

Unter Kritikbereitschaft verstehe ich die normative Disposition, sich mit politischen Sachverhalten auseinander zu setzen. Ein kritikbereiter Bürger postuliert somit politische Wachsamkeit als integralen Bestandteil seines Staatsbürgerkonzeptes. Es wäre natürlich möglich, dass die Bürgerinnen und Bürger andere Gründe haben für das aufmerksame Beobachten von Politik, beispielsweise verfolgen manche das politische Geschehen vielleicht nur, weil sie sich explizit für ein bestimmtes Gesetz interessieren. Kritikbereitschaft wäre für diesen Personenkreis jedoch nicht Teil ihres normativen Staatsbürgerkonzeptes, sondern ein eher zufälliges, situatives Verhalten. Im Rahmen meiner Studie interessieren diese Gründe jedoch nicht, sondern die normative Disposition.

Dabei kann eine Person kritikbereit, aber aktuell mit allen politischen Objekten zufrieden sein. Vice versa setzt die tatsächliche politische Unzufriedenheit keine normative Disposition der Kritikbereitschaft voraus. Auch eine Person, die Folge- und Unterstützungsbereitschaft als wesentliche staatsbürgerliche Tugenden betrachtet, kann mit der realen Situation unzufrieden sein. Sie könnte sich beispielsweise eine Demokratie mit "guten Eliten" und "guten Institutionen" wünschen, in welcher eine wachsame, kritikbereite Bürgerschaft unnötig wäre. Ihr Staatsbürgerverständnis schließt normative Kritikbereitschaft nicht ein.

Unzufriedenheit und normative Kritikbereitschaft, also Realitätsurteil und Verhaltensdisposition, können somit sowohl aneinander gekoppelt sein als auch unabhängig voneinander existieren. Da vermutlich nur jene Bürgerinnen und Bürger eine demokratische Ressource darstellen, welche ein demokratisches System bevorzugen, werden weiterhin die Regimepräferenzen berücksichtigt. So ergeben sich insgesamt drei Typen: neben den Personen mit undemokratischer Systempräferenz zwei Typen mit demokratischer Präferenz - die Kritikbereiten und die Nichtkritikbereiten.

Die zentrale Frage dieses Beitrages lautet, ob kritikbereite Bürger bezüglich ihrer Profile eine demokratische Ressource oder eher eine Gefahr darstellen. Um diese Frage beantworten zu können, muss zunächst diskutiert werden, welche Einstellungen als demokratische Ressource betrachtet werden können.

Ideale Merkmale demokratischer Bürgerinnen und Bürger

Debatten über die idealen Merkmale eines "guten" Bürgers und einer "guten" Bürgerin sind so alt wie die Diskussion um die Demokratie. Viele politische Philosophen, Sozialwissenschaftler und nicht zuletzt Bildungsexperten versuchten seit über zwei Jahrtausenden, Merkmale eines "homo democraticus" und einer "femina democratica" normativ zu setzen, empirisch zu erfassen oder didaktisch umzusetzen. In der Literatur werden unterschiedliche "gute" Eigenschaften genannt, beispielsweise Patriotismus, ausgewogene psychische Struktur, Gesetzestreue, Rücksichtnahme, Gemeinwohlorientierung oder Sozialkompetenz. Viele dieser Merkmale sind jedoch nicht unbedingt als demokratische Ressourcen zu betrachten, sondern entsprechen den idealen Bürgermerkmalen auch in nichtdemokratischen Systemen. Beispielsweise kann Patriotismus durchaus undemokratische Züge annehmen. Auch Eigenschaften wie Gemeinwohlorientierung dürften die Funktionstüchtigkeit der meisten politischen Systeme stärken und können nur bedingt als speziell förderlich für Demokratien bezeichnet werden. In demokratischen Systemen müssten spezifische Merkmale eine Rolle spielen, die nur dort notwendig und funktional sind.

Über diese idealen demokratieförderlichen Merkmale eines Bürgers besteht nur partielle Einigkeit. Denn unterschiedliche Demokratieideale bedingen Differenzen bei den Vorstellungen vom Idealbürger. Die folgende Diskussion bezieht sich aus heuristischen Zwecken auf zwei zentrale Theorietraditionen: die repräsentations- und die partizipationsorientierte.

Theorien, die vor allem die repräsentativen Elemente von Demokratie betonen, fokussieren die idealen Charakteristika und Aufgaben des politischen Führungspersonals. Sie stellen gleichwohl klare Anforderungen an ideale demokratische Bürgerinnen und Bürger. Joseph A. Schumpeter, einer der bekanntesten Vertreter dieser Richtung, beschreibt als eine der Bedingungen für den Erfolg der "demokratischen Methode", dass die Wählerschaft auf "hohem intellektuellem und moralischen Niveau" sein müsse, um "gegen Angebote von Schwindlern und Querulanten gefeit zu sein". Wähler sollen zumindest so gut informiert sein, dass sie eine sinnvolle Auswahl des politischen Führungspersonals treffen können. Gute demokratische Bürgerinnen und Bürger vollziehen weiterhin den Wahlakt, kümmern sich aber dann bis zur nächsten Wahl nicht mehr um Politik. Als demokratieförderlich gelten somit ein Mindestmaß an politischer Informiertheit, eine hinreichende Identifikation mit der "demokratischen Methode" sowie ausreichendes politisches Kompetenzbewusstsein für den Gang zur Wahlurne.

Vertreter partizipatorischer Demokratietheorien betonen demgegenüber die Bedeutung einer aktiven, involvierten und informierten Bürgerschaft mit hohem politischem Kompetenzgefühl, die eine starke Identifikation mit dem demokratischen Prozess aufweisen. Als demokratieförderliche Merkmale gelten jene, die geeignet sind, die Anpassungsprozesse des politischen Systems an neue Anforderungen durch eine starke Beteiligung der Bürger zu forcieren. Partizipation, Identifikation mit Demokratie und Politik, Informiertheit und Kompetenzbewusstsein entsprechen diesem Anspruch.

Ähnliche ideale Merkmale von Bürgern in Demokratien lassen sich auch bei den "Vätern" der politischen Kulturforschung Gabriel Almond und Sidney Verba finden. Die Autoren betonen, dass "the informed, involved, rational, and active citizen" häufiger in gut funktionierenden Demokratien zu finden ist als in weniger erfolgreichen: "The passive citizen, the nonvoter, the poorly informed or apathetic citizen - all indicate a weak democracy."

Demokratieförderliche Merkmale: Auswahl der Studie

In allen Theorien wird davon ausgegangen, dass Demokratien der Partizipation bedürfen, zumindest der Teilnahme an Wahlen. Über den Sinn einer weitergehenden Beteiligung herrscht zwar Dissens, aber eine Demokratie, die nur aus politisch passiven Bürgern besteht, wird in keiner Theorie angestrebt. Partizipation erscheint somit als ein Merkmal, das - unter Einschränkungen der demokratischen Zielrichtung - als demokratieförderlich betrachtet werden kann. Als zweites Merkmal ist politische Informiertheit zu nennen. Die Frage, wie viel politisches Wissen Bürgerinnen und Bürger haben, haben können oder sollen, wird zwar kontrovers diskutiert, aber ein Mindestmaß wird von allen Ansätzen als notwendig für ein demokratisches System erachtet. Ein drittes, in der Literatur weitgehend einheitlich als demokratieförderlich betrachtetes Merkmal, ist eine gewisse Identifikation mit demokratischen Prinzipien und "der Politik". Demokratietheorien aller Couleur erachten - in anderen Worten - die Entfremdung der Bevölkerung von Politik und Demokratie als demokratiegefährdend. Viertens ist das politische Kompetenzbewusstsein zu berücksichtigen. Eine Bevölkerung mit extrem niedrigem Kompetenzgefühl dürfte Schwierigkeiten haben, sich als Demokratie zu etablieren.

So werden Partizipation, politische Informiertheit, demokratische und politische Identifikation bzw. Nicht-Entfremdung und Kompetenzbewusstsein als demokratieförderliche Einstellungen betrachtet. Die Bereitschaft zur Verteidigung der Demokratie wird diesem Kanon hinzugefügt, da sie in der politischen Bildung immer häufiger als Zielvorgabe genannt wird.

Berechnung und Verteilung der Typen

Die Systempräferenz wird anhand der Einstellungen gegenüber zwei undemokratischen Regierungsformen gemessen. Die Daten stammen aus Befragungen in sechs Städten, wobei 2 000 Bürger interviewt wurden. Nach dieser Berechnung haben 17 Prozent der Befragten eine Präferenz für ein undemokratisches System.

Die normative Kritikbereitschaft wird ermittelt anhand der Bereitschaft zur Wachsamkeit gegenüber Politikern und der Bereitschaft zum Protest gegen ungerechte Vorhaben der lokalen politischen Institutionen. Die normative Kritikbereitschaft der Befragten liegt insgesamt auf einem recht hohen Niveau; in allen untersuchten Städten und Kreisen überwiegen die kritikbereiten Bevölkerungsgruppen. Unter den Befragten mit einer demokratischen Systempräferenz ist der kritikbereite Typus mit 51,3 Prozent in der Mehrzahl, 22,7 Prozent sind nicht kritikbereit.

Die normative Kritikbereitschaft ist bei den Befragten, welche ein demokratisches System bevorzugen, und jenen, die für ein nichtdemokratisches System plädieren, in ähnlicher Weise vertreten. Sie ist in der Befragungsgruppe nicht an die Präferenz für ein demokratisches System gebunden.

Profile und Merkmale der Typen

Unterscheiden sich die Profile der untersuchten Typen? Welche Typen weisen in besonders starkem Maß jene Merkmale auf, welche als demokratieförderlich erachtet werden? Die Tabelle gibt einen Überblick über die signifikanten Zusammenhänge zwischen Typen und den demokratiefreundlichen Ausprägungen der ausgewählten Merkmale.

Systematische Unterschiede zwischen den Typen sind in der Tabelle der PDF-Version deutlich zu erkennen. Unter den Kritikbereiten sind die ausgewählten demokratieförderlichen Merkmale überdurchschnittlich häufig vertreten, wobei die Unterschiede zwischen den nicht kritikbereiten und den kritikbereiten Demokraten zwischen einem und 14 Prozentpunkten betragen. Partizipation, hier definiert als politisches Engagement über den Wahlakt hinaus, ist bei den kritikbereiten Demokratenam deutlichsten ausgeprägt; 91 Prozent von ihnen sind politisch engagiert. Damit sind sie aktiver als die Nichtkritikbereiten und die Personen mit undemokratischer Systempräferenz. Die Kritikbereiten sind auch am häufigsten bereit, die Demokratie zu verteidigen. Und sie weisen den höchsten Prozentsatz an kenntnisreichen Personen auf. Dasselbe gilt für die demokratische und politische Identifikation. Die Kritikbereiten haben ebenfalls ein höheres politisches Kompetenzgefühl als die anderen Gruppen, wenngleich der Unterschied zu den nichtkritikbereiten Demokraten vernachlässigbar ist. Demokratieförderliche Merkmale sind also beim kritikbereiten Typus insgesamt häufiger zu finden als bei den Nichtkritikbereiten sowie bei Personen mit undemokratischer Systempräferenz.

Die Differenzen zwischen den kritikbereiten und den nicht kritikbereiten Demokraten unterscheiden sich dabei sowohl in den neuen als auch den alten Bundesländern kaum. In beiden Teilen Deutschlands weisen die kritikbereiten und nicht kritikbereiten Demokraten jeweils ähnliche Profilunterschiede auf.

Erstaunlich ist auf den ersten Blick, dass auch die Befürworter eines undemokratischen Regierungssystems in hohem Ausmaß zur Verteidigung von Demokratie bereit sind. Möglicherweise haben auch jene Bürger, die ein Einparteiensystem oder eine Diktatur in Krisenzeiten befürworten, ein - wenn auch nicht im wissenschaftlichen Sinn konsistentes - Demokratieverständnis. Eine Verteidigungsbereitschaft bei geringer Informiertheit oder überdurchschnittlicher Entfremdung wird sich jedoch kaum positiv auf die Konsolidierung und Stabilität einer Demokratie auswirken. Allerdings zeigt diese Besonderheit auch, dass die Befragten mit undemokratischer Systempräferenz gesondert und detaillierter ausgewertet werden müssen, als es im Rahmen dieses Beitrags möglich ist.

Typen, Merkmaleund soziodemografische Faktoren

Bleiben die Beziehungen zwischen normativer Kritikbereitschaft und den ausgewählten demokratieförderlichen Einstellungen bestehen, wenn soziodemografische Hintergrundvariablen in eine (multivariate) Analyse einbezogen werden? Es ist durchaus denkbar, dass sowohl die normative Kritikbereitschaft als auch Partizipation, Informiertheit usw. auf dieselben Hintergrundvariablen zurückzuführen sind. Vielleicht sind beispielsweise Personen mit hohem Bildungsniveau sowohl kritikbereit als auch politisch informiert, während Personen mit niedrigem Bildungsniveau generell nicht kritikbereit und politisch wenig informiert sind. Zunächst fällt auf, dass das formale Bildungsniveau der demokratischen Kritikbereiten das höchste unter den drei untersuchten Gruppen ist, und Ähnliches gilt für ihren sozioökonomischen Status.

Dennoch: Die in der bivariaten Analyse festgestellten Zusammenhänge zwischen normativer Kritikbereitschaft und demokratiefreundlichen Einstellungen verschwinden nicht, wenn soziodemografische Faktoren berücksichtigt werden. Beteiligung, Informiertheit usw. sind also unter den Kritikbereiten mit unterschiedlichen soziodemografischen Merkmalen in ähnlicher Weise verteilt. Gleichgültig, welches Bildungsniveau oder welchen sozioökonomischen Status die kritikbereiten Demokraten aufweisen: Sie sind überdurchschnittlich partizipationsfreudig, informiert, fühlen sich kompetent und wollen die Demokratie verteidigen. Bei den in der Tabelle vorgestellten Beziehungen zwischen Typen und Profilen handelt es sich also nicht um "Scheinkorrelationen", die Beziehungen bleiben vielmehr bei einer Kontrolle mit soziodemographischen Daten erhalten.

Diskussion und Ausblick

Ausgangspunkt des Beitrages war die Frage, ob kritische Bürgerinnen und Bürger eine Gefahr für die Demokratie darstellen oder ob sie als eine demokratische Ressource gelten können. Während politische Kritik bislang weitgehend mit Unzufriedenheit gleich gesetzt wurde, konzentrierte ich mich auf die normative Kritikbereitschaft, das heißt die als Staatsbürgerideal internalisierte grundlegende Disposition, politischen Sachverhalten wachsam gegenüberzustehen - unabhängig von der tatsächlichen Zufriedenheit. Unter Berücksichtigung der Systempräferenz wurden drei Typen konstruiert: Personen mit undemokratischer Systempräferenz, kritikbereite und nicht kritikbereite Demokraten. Analysiert wurde der Zusammenhang zwischen diesen Typen und folgenden Merkmalen, die in ausgewählten Demokratietheorien als Voraussetzung für eine gut funktionierende Demokratie betrachtet werden: politische Informiertheit, politische Partizipation, demokratische und politische Identifikation, Kompetenzbewusstsein sowie die Bereitschaft zur Demokratieverteidigung.

Die ausgewählten Merkmale variieren deutlich zwischen den kritikbereiten und den nicht kritikbereiten Demokraten. Vor allem die Kritikbereiten weisen demokratieförderliche Profile auf. Im Vergleich mit den nicht kritikbereiten sind die kritikbereiten Demokraten besser informiert, sie partizipieren häufiger, identifizieren sich stärker mit der Politik sowie mit dem demokratischen System und erachten Demokratieverteidigung häufiger als Bürgerpflicht. Die Unterschiede bei den Merkmalsprofilen zwischen den kritikbereiten und den nicht kritikbereiten Demokraten lassen sich sowohl in der etablierten Demokratie Westdeutschlands als auch in der jungen Demokratie Ostdeutschlands feststellen. Diese Merkmalsdifferenzen dürften somit weder eine Besonderheit etablierter noch junger Demokratien sein.

Die Profilunterschiede zwischen kritikbereiten und nicht kritikbereiten Demokraten verschwinden auch bei der Einbeziehung soziodemografischer Faktoren als Kontrollvariablen nicht. So sind kritikbereite Demokraten aller sozioökonomischen Statusgruppen überdurchschnittlich partizipationsfreudig und zur Demokratieverteidigung bereit.

Eine Gefahr scheint vom kritikbereiten Typus kaum auszugehen. Es gibt keinerlei Hinweise, dass Kritikbereitschaft zu einer ernsthaften Krise oder gar einem Zusammenbruch der Demokratie führen würde. Auf die Gefahrlosigkeit der demokratischen Kritikbereiten verweisen nicht nur deren Merkmalsprofile, sondern dafür spricht auch die Sozialstrukturanalyse. Kritikbereite entstammen nicht den Randgruppen der Gesellschaft, sondern sind - im Gegenteil - besonders häufig in den gut gebildeten und gut situierten Bevölkerungsgruppen zu finden. Revolutionäre Umbrüche sind von ihnen kaum zu erwarten. Es scheint sich eher um eine Gruppe zu handeln, welche hinsichtlich ihrer Statuszugehörigkeit eine relativ sichere Position in der Gesellschaft inne hat, Politik überdurchschnittlich "ernst nimmt" und sich bereitwillig sowie kenntnisreich für die Demokratie einsetzt.

Was bedeuten diese Ergebnisse nun für die Forschung und die Praxis? Sofern sich die Ergebnisse auch in repräsentativen Studien als robust erweisen, sollte die grundlegende Disposition der Kritikbereitschaft als Ressource für die Konsolidierung, Stabilität und Weiterentwicklung eines demokratischen Systems verstärkt wissenschaftliche und bildungspolitische Aufmerksamkeit erhalten. Nicht nur Unterstützung und Zufriedenheit im Sinne älterer Ansätze oder Unzufriedenheit - wie die neuere Forschung vermutet - wären als Indikatoren für demokratische Gesundheit zu bewerten, sondern auch die grundlegende normative Kritikbereitschaft - sofern sie mit demokratischer Systempräferenz einhergeht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. David Easton, A Systems Analysis of Political Life, New York u.a. 1965.

  2. Vgl. z.B. Russell J. Dalton, Democratic Challenges, Democratic Choices. The Erosion of Political Support in Advanced Industrial Democracies, Oxford 2004, S. 159.

  3. Vgl. Paul M. Sniderman, A Question of Loyalty, Berkeley u.a. 1981; Geraint Parry, Trust, Distrust, and Consensus, in: British Journal of Political Science, (1976) 6, S. 129 - 142; s. auch Bettina Westle, Politische Folge- und Kritikbereitschaft der Deutschen, in: ZUMA-Nachrichten, 21 (1997) 41, S. 100 - 126; Pippa Norris, Critical Citizens: Global Support for Democratic Governance, Oxford 1999.

  4. Vgl. P. Norris (ebd.).

  5. In politischen Debatten der Bundesrepublik hatte der Terminus "kritischer Bürger" seinen Zenit bereits in den achtziger Jahren überschritten. Vor allem in linksorientierten, bildungspolitisch interessierten Gruppen war der "kritische Bürger" in den sechziger und siebziger Jahren eine wichtige Zielorientierung. In der internationalen Forschung wurden "critical citizens" erst in den neunziger Jahren prominent und empirisch untersucht.

  6. Vgl. Russell J. Dalton, Citizen Politics: Public Opinion and Political Parties in Advanced Industrial Democracies, New York u.a. 2002, S. 253.

  7. Vgl. Richard I. Hofferbert/Hans-Dieter Klingemann, Democracy and Its Discontents in Post-Wall Germany, Berlin, Discussion Paper FS III 00 - 207, Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), Berlin 2000; Oskar Niedermayer, Bürger und Politik. Politische Orientierungen und Verhaltensweisen der Deutschen. Eine Einführung, Wiesbaden 2001, S. 91.

  8. Beispielsweise wird vermutet, dass Unzufriedenheit "may indicate nothing more than the reasonable, healthy wariness of attentive democratic citizens"; R.Hofferbert/H.-D. Klingemann (Anm. 7), S. 11.

  9. Vgl. ähnlich B. Westle (Anm. 3).

  10. Vgl. z.B. Joel Westheimer/Joseph Kahne, Educating the "Good" Citizen: Political Choices and Pedagogical Goals, in: Political Science and Politics, 37 (2004) 2, S. 241 - 246.

  11. Vgl. Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1950, S. 467.

  12. Vgl. Gabriel Almond/Sidney Verba, The Civic Culture: Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Newbury Park, CA 1963, S. 339.

  13. Diese Identifikation wird häufig als identisch mit politischer Unterstützung erachtet und entsprechend mithilfe von Fragen zur politischen Zufriedenheit gemessen. Diese Definition ist mit dem theoretischen Ansatz meiner Studie nicht kompatibel. Ich gehe nicht davon aus, dass politische Zufriedenheit als Zeichen von demokratischer bzw. politischer Identifikation oder vice versa Unzufriedenheit als Zeichen von demokratischer Entfremdung zu werten sind. Vielmehr kann eine vollständige politische Zufriedenheit auf eine Entfremdung von demokratischen Prinzipien hindeuten; vgl. Mitchell A. Seligson/Julio F. Carrion, Political Support, Political Skepticism, And Political Stability in New Democracies. An Empirical Examination of Mass Support for Coup d'Etat in Peru, in: Comparative Political Studies, 35 (2002) 1, S. 58 - 82.

  14. Vgl. z.B. Joachim Detjen, Die Demokratiekompetenz der Bürger, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (2000) 25, S. 11 - 20.

  15. Sie wurden im Rahmen des Projekts "Lokale Eliten" des SFB 580 "Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung" an der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg erhoben und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Der entsprechende Index wurde gebildet aus den Fragen: "In Krisenzeiten sollten alle Entscheidungen ausschließlich durch eine Person getroffen werden und nicht durch die Abstimmung vieler" und "Weil das Mehrparteiensystem nur Chaos verursacht, sollten Entscheidungen ausschließlich von einer Partei getroffen werden". Jene Befragten mit mindestens einer "Stimme zu"-Antwort wurden als "Personen mit undemokratischer Systempräferenz" kategorisiert.

  16. Ähnlich z.B. Liane von Billerbeck, Feine Risse im Fundament. In Thüringen wächst die Demokratie-Verdrossenheit. Jeder Fünfte hätte nichts gegen eine Diktatur, in: Die Zeit vom 27.11. 2003.

  17. Der Index wurde gebildet aus den Fragen: "Auch in einer Demokratie hat der Bürger Verpflichtungen gegenüber seiner Stadt/seinem Kreis und den Mitbürgern. Sagen Sie mir bitte, ob Sie die folgenden Aspekte für eine Pflicht der Bürger halten oder nicht. 1.) Gegenüber den lokalen Politikern wachsam sein. 2.) Gegen Vorhaben des Stadtrats/Kreistags, die man für schlecht hält, öffentlich zu protestieren"(vgl. B. Westle, Anm. 3). Jene Befragten, die beide Fragen mit "Ist eine Bürgerpflicht" beantworteten, wurden als kritikbereit kategorisiert.

  18. Knapp zehn Prozent der Befragten konnten aufgrund von Missings nicht ausgewertet werden.

  19. Politische Kritik - Gefahr oder Chance, WZB-Discussionpaper, Berlin 2006. Vgl. Brigitte Geißel, Kritische Bürger - eine demokratische Ressource?, Manuskript, Berlin 2005.

Dr. phil., Dipl.-Pol., geb. 1962; Wissenschaftliche Angestellte am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), WS 04/05 Vertretungsprofessur an der Universität Münster.
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