Einleitung
Der Herbst 1956 war reich an einschneidenden politischen Ereignissen auf internationaler Ebene. Bundeskanzler Konrad Adenauer sprach in seiner Regierungserklärung vom 8. November zum einen von Entwicklungen, die Gegensätze überwinden halfen, um zu einem "gesunden Gleichgewicht" zu gelangen.
Zu ihnen zählte er insbesondere den Luxemburger Vertrag vom 27. Oktober 1956, in dem Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland die Rückgliederung des Saarlandes als Bundesland ab dem 1. Januar 1957 vereinbarten und damit einen "Zankapfel" aus dem Weg räumten, der die bilateralen Beziehungen immer wieder belastet hatte. Zum anderen sah er Spannungen und Konflikte, die in Teilen derWelt "in willkürlicher und unverantwortlicher Weise" die "Unordnung" gefördert hätten. Explizit nannte er die Volksaufstände in Polen und Ungarn, die er wie den 17. Juni 1953 in der DDR als "elementare Kundgebungen des Freiheitswillens der unterdrückten Völker gegen eine unerbittliche, unmenschliche und auf ausländische Machtmittel gestützte Diktatur" wertete.
Zurückhaltender war sein Urteil zu den Ereignissen während der Suezkrise, in die nicht nur die Verbündeten Frankreich und Großbritannien involviert waren, sondern zugleich auch Israel und Ägypten.
Die Suezkrise von 1956 hat Jost Dülffer als "Initiative zu einer für die westliche Staatenwelt nach dem Zweiten Weltkrieg einzigartigen Verschwörung zum Krieg" bezeichnet.
Die strategische Bedeutung des Suezkanals
Die große strategische Bedeutung einer künstlichen Wasserstraße zwischen dem Mittelmeer und dem Roten Meer hatte bereits der französische Diplomat und Ingenieur Ferdinand de Lesseps im 19. Jahrhundert entdeckt, ersparte er der Seefahrt doch auf dem Weg von Europa nach Asien die Umschiffung des Kaps der Guten Hoffnung an der Südspitze Afrikas. Unter der Leitung der französischen Suez-Kanal-Gesellschaft wurde der Bau des 163 Kilometer langen Kanals in Angriff genommen. Der künstliche Wasserweg wurde am 16. November 1869 für die Schifffahrt freigegeben.
Anfang der fünfziger Jahre begannen Diskussionen um seine Zukunft nach Ablauf der Konzession. Die Gesellschaft strebte nach einer nicht-ägyptischen Lösung, hielt sie das Land doch für unfähig, ein solches Geschäft in eigener Regie zu führen. Hinter dieser spätimperialistischen Haltung verbarg sich die Sorge, weiter an Einfluss in der Welt zu verlieren. Immer deutlicher hatte sich nach 1945 abgezeichnet, dass Großbritannien nicht über ausreichend Ressourcen verfügte, um das Empire zu konsolidieren.
Als die ägyptische Regierung unter König Faruk am 23. Juli 1952 durch einen Putsch von Offizieren abgelöst wurde, verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Ägypten und Großbritannien weiter. Nachdem die bisherige Führung kooperative Beziehungen mit den europäischen Mächten unterhalten hatte, verfolgte die neue Regierung einen eher nationalistischen, panarabischen und antiisraelischen Kurs, mit dem sie sich dem Ostblock annäherte. Dieser Richtungswechsel verschärfte zum einen die regionalen Konflikte im Nahen Osten, sah sich Israel doch nicht zuletzt durch einen von Nasser unterzeichneten Waffenlieferungsvertrag mit der Tschechoslowakei herausgefordert, der im Westen wiederum als Beginn der kommunistischen Unterwanderung Ägyptens interpretiert wurde. Ferner drohte ein Konflikt mit Großbritannien und Frankreich, die an der Kontrolle über den Suezkanal festhielten und Nassers Forderung nach einer nationalen Lösung für die Wasserstraße ablehnten, was Georges-Henri Soutou nicht alleine mit wirtschaftlichen und strategischen Interessen erklärt: "Neben den ökonomischen Interessen war der Kanal ein Symbol für die franko-britische Präsenz im Nahen Osten und für das ganze imperiale Zeitalter."
Der Weg in die Krise
Überraschend verkündete Nasser am 26. Juli 1956 die Verstaatlichung des Suezkanals, um so den Bau eines Staudamms bei Assuan zu finanzieren, nachdem die Amerikaner ihr Kreditangebot zurückgezogen hatten. Mit seiner Entscheidung hatte er internationales Recht gebrochen, denn sie stellte das in den Statuten der Internationalen Kanal-Gesellschaft verankerte freie Durchfahrtsrecht in Frage. Obwohl er Garantien für die freie Fahrt durch den Kanal abgab und sich bereit erklärte, die Anteilseigner an der Gesellschaft zu entschädigen, an der Frankreich die Mehrheit hielt und britische Banken bzw. Unternehmen zu 45 Prozent beteiligt waren,
Die Kolonialmächte sahen sich herausgefordert, umso mehr, als Frankreich seit 1954 gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung Krieg führte und sich gezwungen gesehen hatte, nach Marokko auch Tunesien unter der Führung von Habib Bourguiba in die Unabhängigkeit zu entlassen. Zwar billigten die USA auf drei internationalen Konferenzen die Nationalisierung des Kanals, doch weder Großbritannien noch Frankreich waren bereit, sich damit abzufinden. Zudem spitzte sich der arabisch-israelische Konflikt erneut zu, denn zum einen hatte Nasser, Symbolfigur des neuen arabischen Nationalismus, seit seinem Machtantritt nie einen Hehl aus seiner Feindschaft gegen Israel gemacht,
Auch die französische Politik zielte nun auf Krieg. Paris unterstellte Nasser, die algerische Unabhängigkeitsbewegung zu unterstützen. Anders als in Frankreich war die öffentliche Meinung in Großbritannien einem solchen Abenteuer jedoch nicht gewogen. Premierminister Anthony Eden wollte als Gegner der Appeasement-Politik Chamberlains in der Zwischenkriegszeit seine Landsleute durch die Erinnerung an die Münchener Konferenz von 1938 umstimmen und verglich Nasser mit Hitler und Mussolini. Während Nasser heute als charismatischer Führer erscheint, "der durch außenpolitische Erfolge sein armes Land zum Fortschritt westlicher Prägung führen wollte",
Am Geheimplan zu einer Militäraktion waren zunächst nur Frankreich und Großbritannien beteiligt.
Von den Geheimplanungen war sowohl auf französischer als auch auf britischer Seite nur ein enger Kreis unterrichtet. Ebenso wenig wurde der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower in Kenntnis gesetzt, der sich in der heißen Phase des Präsidentschaftswahlkampfes befand. Briten und Franzosen wussten um dessen ablehnende Haltung, denn Eisenhower wollte seine Wiederwahl nicht durch einen Krieg gefährden und keine neuen Spannungen mit Moskau heraufbeschwören. Doch während Briten und Franzosen die Bedeutung des Kanals für Europa in den Vordergrund ihrer Überlegungen stellten,
Auf dem Höhepunkt der Krise
Die "Operation Musketier" begann am 29. Oktober 1956 mit dem Einmarsch israelischer Truppen in den Gazastreifen und auf die Sinai-Halbinsel. Rasch stießen die Israelis zum Kanal vor. Großbritannien und Frankreich forderten den Rückzug beider Seiten und drohten mit einer Intervention, um das Gebiet als Pufferzone zu besetzen und einen Waffenstillstand zu erzwingen. Nach Plan verlief auch die Ablehnung des Ultimatums durch Nasser, der sich bei dieser Entscheidung auf die Unterstützung seines Volkes stützen konnte, das die Verstaatlichung des Kanals bejubelt hatte. Daraufhin begannen Großbritannien und Frankreich am 31. Oktober mit der Bombardierung der Kanalzone und ägyptischer Flughäfen. Am 5. November landeten Fallschirmeinheiten am Flughafen Gamil. Einheiten der Royal Marines landeten am folgenden Tag an der ägyptischen Küste. Port Said wurde durch Brände fast vollständig zerstört. Briten und Franzosen waren dem militärischen Sieg nahe, doch hatten sie nicht mit dem Widerstand Eisenhowers gerechnet, der sich außenpolitisch trotz des Wahlkampfs handlungsfähiger zeigte als vermutet. Er warf Briten und Franzosen vor, durch ihre eigenmächtige Aktion einen Propagandafeldzug gegen das sowjetische Vorgehen in Ungarn verhindert zu haben.
Am 2. November, vier Tage vor der Präsidentschaftswahl, legten die USA dem UN-Sicherheitsrat eine Entschließung vor, die die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen verlangte. In den folgenden Tagen geriet die britische Währung an der New Yorker Börse in gefährliche Kursschwankungen, und Washington erhöhte den Druck auf Premierminister Eden. Dieser hatte nicht nur ignoriert, dass Großbritannien als Folge des Zweiten Weltkriegs von den USA finanziell abhängig war, sondern auch die amerikanische Haltung zur Entkolonialisierung falsch eingeschätzt. Die Amerikaner waren im Kontext der Rivalität mit der Sowjetunion an guten Beziehungen zu den Staaten der "Dritten Welt" interessiert, und außerdem standen Wirtschaftsinteressen auf dem Spiel. Das sich abzeichnende Fiasko ruinierte Edens Ruf, sodass er Ende 1956 von Harold Macmillan zum Rücktritt gedrängt wurde.
Unterschätzt hatten Briten und Franzosen auch die Rolle der Sowjetunion, die nach dem Ende der Unruhen in Polen nun gegen die ungarische Revolution vorging. Das hinderte sie nicht daran, am 6. November, zwei Tage nach dem Einmarsch sowjetischer Panzertruppen in Budapest, ein Ultimatum an Paris und London zu richten, in dem sie für den Fall, dass die Kämpfe am Suezkanal nicht eingestellt würden, "mit der Gefahr schrecklicher Verwüstungen" drohte.
Die Folgen waren weitreichend. Die Durchfahrt des Kanals blieb infolge der von Ägypten versenkten Schiffe noch bis 1957 versperrt. Die USA und die Sowjetunion nahmen im Nahen Osten den Platz der ehemaligen Kolonialmächte ein. Eisenhower sagte jenen Ländern finanzielle und materielle Unterstützung zu, die sich gegen das sozialistische Gesellschaftsmodell entschieden. Moskau unterzeichnete ein Abkommen mit Nasser, in dem es finanzielle Unterstützung für den Bau des Assuanstaudamms zusagte. Mit dieser Übereinkunft avancierte Ägypten für mehr als 20 Jahre zum sowjetischen Hauptverbündeten in der arabischen Welt.
Für Großbritannien und Frankreich endete das militärische Engagement am Suezkanal mit einer diplomatischen Demütigung. Beiden Ländern war schmerzhaft vor Augen geführt worden, dass sie keine Weltmächte mehr waren.
Was waren die französischen Motive, das Suez-Abenteuer zu wagen? Die Regierung unter Guy Mollet war fest davon überzeugt gewesen, dass die Aufstände in Algerien unmittelbar von Ägypten gesteuert wurden, sodass einem Triumph über Nasser der Sieg über die algerische Unabhängigkeitsbewegung folgen würde. Zudem war das "München-Syndrom" virulent. Am 5. September 1956 hatte Mollet im Parteivorstand der französischen Sozialisten davor gewarnt, einem Diktator freie Hand zu lassen: "Natürlich ist Nasser nicht Hitler, aber er wendet seine Methoden an. Wir dürfen ihm daher keinen ersten Erfolg erlauben, denn dieser könnte bei ihm neue Machtgelüste auslösen." Kurz nach dem Beginn der Militärintervention erklärte er öffentlich: "Unsere Väter (...) haben uns als Vermächtnis die Lehre mitgegeben, dass es mehr wert ist, zu sterben, als die Knechtschaft und die Demütigung zu akzeptieren."
Beide Kolonialmächte hatten sich in die Defensive manövriert. Aus dieser gedachte Charles de Gaulle mit einer auf nationale Unabhängigkeit ausgerichteten Außenpolitik nach 1958 ("Vom Atlantik bis zum Ural") herauszukommen, die ihn auf Distanz zu den USA brachte. Wer den französischen Antiamerikanismus der V. Republik und die von Frankreich zu verantwortenden Auflockerungserscheinungen im westlichen Bündnis während der sechziger Jahre verstehen will, wird die Ursprünge auch in der Suezkrise zu suchen haben.
Kalter Krieg und europäische Integration
Die USA und die Sowjetunion waren seit Beginn des Kalten Krieges darum bemüht gewesen, den eigenen Einflussbereich zu konsolidieren.
Angesichts des nuklearen Waffenpotenzials und der sich daraus ergebenden atomaren Gefahr für den Erdball nahm in Moskau wie in Washington die Einsicht zu, sich um den Abbau der Spannungen zu bemühen. Zwar konnten bei den Gipfelgesprächen und der Außenministerkonferenz in Genf im Oktober und November 1955 keine Abrüstungsvereinbarungen erzielt werden, doch die Beteuerungen zur Kooperationsbereitschaft ließen Beobachter vom "Geist von Genf" sprechen.
Dieser Wille zur Entspannung erklärt, warum die Amerikaner auf die ungarische Revolution am 23. Oktober zurückhaltend reagierten und sich selbst nach deren blutiger Niederschlagung durch die sowjetischen Truppen auf Protestresolutionen der UN-Vollversammlung beschränkten. Ähnliche Motive sind auch hinter dem amerikanischen Druck auf Großbritannien und Frankreich zu entdecken. Als diese am Kanal eingriffen, war es konsequent, dass die USA über UN-Voten sowie währungs- und handelspolitische Sanktionen einen Waffenstillstand durchsetzen konnten. Die amerikanischen Pressionen auf die Verbündeten fanden im Kreml Unterstützung, der Briten und Franzosen zumindest indirekt mit dem Einsatz von Nuklearwaffen drohte, wenn sie die Kampfhandlungen gegen Ägypten nicht einstellten. Dabei spielte es eine untergeordnete Rolle, dass die sowjetischen Atomwaffen für einen solchen Schlag gar nicht einsatzbereit waren. Das Pokerspiel funktionierte und bestärkte Chruschtschow in der Überzeugung, auch in Zukunft mit nuklearem Bluff internationale Politik machen zu können. Die Suezkrise stellt in diesem Sinne einen elementaren Bestandteil in der Vorgeschichte der Berlin- und Kubakrise dar.
Während die französische Regierung am 6.November über das Ultimatum beriet, traf Bundeskanzler Konrad Adenauer in Paris ein. Die Reise war bereits im September vereinbart worden, doch gab es in Bonn Stimmen, die dem Kanzler angesichts der Suezkrise nahe legten, den Termin für das Zusammentreffen mit Guy Mollet zu verschieben. Auch das Auswärtige Amt riet dem Bundeskanzler ab und plädierte für einen neutralen Kurs, um das "bislang so erfolgreiche Navigieren zwischen den Klippen von westlichem Mißtrauen in die Zuverlässigkeit des neuen Deutschlands und der Flucht der arabischen Welt in die nur zu aufnahmebereiten Arme der DDR"
Die französische Öffentlichkeit hatte es dem Bundeskanzler hoch angerechnet, dass er der in die diplomatische Defensive geratenen französischen Regierung seine demonstrative Solidarität erklärt und sich als Alliierter gezeigt hatte. Mollet wie Adenauer zeigten sich in ihren Gesprächen erschüttert über die "Ohnmacht Europas" und gelobten, "die Einigung der Sechser-Gemeinschaft dans un esprit de totale confiance voranzubringen".
Noch spektakulärer erscheint die hinter dem Rücken der Briten und der Amerikaner vollzogene Einigung zwischen Frankreich, der Bundesrepublik und Italien, ein gemeinsames europäisches Atomwaffenpotenzial aufzubauen, das nicht nur als Druckmittel gegen die USA gedacht war, sondern für viele Politiker in den drei Ländern auch einen Selbstzweck besaß.