Einleitung
Das Jahr 1956 nimmt einen besonderen Platz in der europäischen Zeitgeschichte ein. Der vom 14. bis 25. Februar 1956 tagende XX. Parteitag der KPdSU rüttelte vorsichtig, doch unübersehbar an den ideologischen und politischen Eckpfeilern des osteuropäischen Machtgefüges.
Die Auswirkungen der in der Sowjetunion unter dem Verdikt "Personenkult" vorgenommenen Demontage der Person Stalins brachten auch die Träger des sich seit 1945 in Ostdeutschland etablierenden Partei- und Gesellschaftsmodells in Bedrängnis. Die Abrechnung mit Stalin löste eine Debatte über das Sozialismusbild der herrschenden Partei aus, die auch in der DDR die Hoffnungen auf eine Entstalinisierung der SED und ihrer Herrschaft beförderten. Viele Intellektuelle, die zuvor nicht mit systemkritischen Wortmeldungen aufgefallen waren, sahen die DDR 1956 am Scheideweg.
Eine tief greifende Systemkrise, wie es sie 1952/53 in der DDR gegeben hatte und wie sie nun in mehreren Ländern Osteuropas ausbrach, blieb in der DDR jedoch aus. Denn die Situation unterschied sich in mancherlei Hinsicht von der in Polen und Ungarn. Der Lebensstandard war deutlich höher als in den anderen osteuropäischen Staaten. Der 17. Juni 1953 hatte innerhalb der SED-Führung einen nachhaltigen Schock ausgelöst, der zu Korrekturen in der Herrschaftspraxis führte. Die Herrschaftskrise von 1952/53 zwang zu flexibleren Herrschaftsmethoden, ohne jedoch die Grundstrukturen des Gesellschaftssystems in Frage zu stellen.
Eine extreme "Klassenkampf"-Politik, die 1951 und 1952 zu gravierenden Einschnitten in die Lebensverhältnisse aller sozialen Schichten geführt hatte, gab es danach nicht mehr. Die sozialen Folgen staatlicher Eingriffe in die Gesellschaftsstruktur erhielten im Rahmen des von der SED propagierten Neuen Kurses größeren Stellenwert. Nach 1953 verfolgte die politische Führung eine Politik der dosierten sozialen Zugeständnisse. Davon profitierten auch die Arbeiter, deren materielle Lebensumstände sich zu verbessern begannen.
Ein wesentlicher Unterschied zur Lage in den anderen Ostblockländern bestand in der Möglichkeit, dem von der SED-Führung ausgehenden politischen und wirtschaftlichen Druck durch Abwanderung nach Westdeutschland auszuweichen. Eine solche Option stand der Opposition in Polen und Ungarn nicht in demselben Maße zur Verfügung. Hinzu kam der in der Bevölkerung herrschende und von der politischen Führung beförderte Glaube an eine Wiedervereinigung Deutschlands, welche die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen auch im Osten grundsätzlich verändert hätte.
Gleichwohl hatte sich trotz dieser Unterschiede sowohl innerhalb der SED als auch unter parteifernen Intellektuellen eine reformwillige Strömung herausgebildet, die durch Korrekturen der Herrschaftspraxis einen "menschlichen Sozialismus" etablieren wollte. Im Zentrum des Unwillens stand zunächst die Verhinderung der freien Meinungsäußerung. Denn das Recht auf ungehinderten Meinungsstreit konnte unter den von der SED diktierten politischen Rahmenbedingungen nicht einmal in Wissenschaft, Kunst und Kultur wahrgenommen werden.
Der Beginn der intellektuellen Debatten
Der Rede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 fehlte jegliche Systemkritik. Es war jedoch zu erwarten, dass die mit ihr ausgelösten Erschütterungen eine Debatte über das Sozialismusbild der herrschenden Partei auslösen würden. Das politische Tauwetter, das sich in der Sowjetunion nach den Enthüllungen über die Verbrechen Stalins ausbreitete, bot auch in der DDR unangepassten Intellektuellen - etwa Manfred Bieler, Gerhard Zwerenz, Erich Loest - die Möglichkeit kritischer Stellungnahmen. Der Schock, der weite Teile der SED nach der Demontage Stalins erfasste, ging insbesondere bei marxistisch und sozialistisch orientierten Intellektuellen, die vor 1945 politisch sozialisiert worden waren, in die Erwartung einer Reformdiskussion innerhalb der SED über.
Die Debatte ging insbesondere von jüngeren Parteiintellektuellen aus, die im Herbst 1956 im Rahmen verschiedener Fachzeitschriften, im Aufbau-Verlag sowie in der kulturpolitischen Wochenzeitung "Sonntag" eine intensive Reformdiskussion initiierten.
Walter Ulbricht blockierte zunächst jede Diskussion über gesellschaftspolitische Kursänderungen oder taktische Umorientierungen in der Folge des XX. Parteitages der KPdSU. Innenpolitische Konsolidierung angesichts der anhaltenden Abwanderung in Richtung Bundesrepublik und wirtschaftliche Modernisierung im Zeichen der "wissenschaftlich-technischen Revolution" genossen Priorität und sollten weder durch öffentliche noch durch interne Debatten gestört werden. Gleichwohl regte sich innerhalb der SED, wie bereits 1953, Unmut über den Führungsstil Ulbrichts als Parteichef. So prangerte das SED-Führungsmitglied Fred Oelßner Anfang Juli 1956 im Politbüro in ungewöhnlich polemischer Weise "das persönliche Regime" Ulbrichts an, doch blieben personelle Konsequenzen in der Führung der Partei aus.
Im Sommer 1956 hatten auch andere Führungsmitglieder für Korrekturen auf verschiedenen Politikfeldern plädiert, so das Politbüromitglied Karl Schirdewan, der Chef der Staatssicherheit Ernst Wollweber, der stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates Fritz Selbmann sowie das Mitglied des Sekretariats des ZK Gerhart Ziller.
Die Verweigerung der Führung, sich mit der etablierten Herrschaftspraxis auseinander zu setzen, und das Abblocken innerparteilicher Reformdebatten steigerten die Unzufriedenheit an der Parteibasis, insbesondere eines Teils der Intellektuellen in der SED. Unter dem Einfluss der Stalinismuskritik polnischer und ungarischer Marxisten wurden die Chancen für eine Parteireform und eine Liberalisierung der DDR erörtert. Zu Auslösern für ein intensiveres Nachdenken über gesellschaftspolitische Alternativen hatten sich bereits vor dem XX. Parteitag der KPdSU direkte persönliche Kontakte entwickelt. So besuchte beispielsweise Georg Lukács den IV. Deutschen Schriftstellerkongress im Januar 1956 in Ost-Berlin. Am Rande des Kongresses wurde auch über die Reformbedürftigkeit des sowjetischen Sozialismusmodells diskutiert, so mit den späteren Initiatoren der Reformdebatten Walter Janka, Gustav Just und Wolfgang Harich.
Doch im Unterschied zu Polen und Ungarn, wo die Stalin-Kritik fast alle Gesellschaftsschichten erfasste und die Notwendigkeit grundlegender Reformen unter Arbeitern und Intellektuellen offen diskutiert wurde, blieb die intellektuelle Debatte in der DDR ein vergleichsweise internes und isoliertes Phänomen und konzentrierte sich im Wesentlichen auf den Abbau der bürokratisch-autoritären Züge der Machtausübung durch die SED. Ökonomen, Literaturhistoriker, Philosophen, Rechtswissenschaftler und Historiker, die bis dahin nicht durch oppositionelles Verhalten aufgefallen waren, artikulierten nun politische Bedenken an der Politik der SED-Führung. Die Arbeiter indes nahmen von diesen Debatten kaum Notiz. Die Erinnerungen an den Juni 1953 wirkten nach. Die Arbeiter hatten damals die Erfahrung machen müssen, dass der Versuch einer gewaltsamen Veränderung des politischen Systems unter den bestehenden Machtverhältnissen und im Hinblick auf die Anwesenheit sowjetischer Truppen keine Aussicht auf Erfolg hatte. Desillusionierung und Verbitterung führten nicht selten zur Suche nach unpolitischen Nischen bzw. zur Abwanderung in den Westen.
Im Zeichen der im Sommer 1956 aufbrechenden Diskussionsbereitschaft unter den Intellektuellen prangerte der Chemiker Robert Havemann, zu jener Zeit Ordentlicher Professor an der Berliner Humboldt-Universität, den "Dogmatismus" in der herrschenden Politik der DDR an. Er setzte sich für Meinungsstreit in den Gesellschaftswissenschaften ein und konzentrierte seine Kritik insbesondere auf die von der SED zur allein gültigen Weltanschauung erklärte marxistisch-leninistische Philosophie. In einem Artikel des "Sonntag" vom 28. Oktober 1956, der den bezeichnenden Titel "Rückantworten an die Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten" trug, wünschte er sich eine Philosophie, die nicht "ewige Wahrheiten" verkünde, sondern "eine unbürokratische, eine lebendige, eine ewig junge, wandelbare und bildsame Philosophie".
Im internen Zirkel von Wissenschaftlern der Humboldt-Universität dachte Havemann auch laut über Meinungsfreiheit im Allgemeinen nach. Während einer Parteigruppenversammlung am 24. Oktober 1956 forderte er dazu auf, "den Kampf für die freie Meinungsäußerung" unbeirrt weiterzuführen. Darüber hinaus sah er in einer politischen Liberalisierung den einzigen Weg, die angestauten gesellschaftlichen Konflikte zu entschärfen. "Was lehren die Ereignisse in Polen und Ungarn? Die Volksmassen drängen nach Demokratisierung. Wenn die Partei diesen Prozess zu bremsen versucht, gerät sie in den Nachtrab und wird von den Massen getrieben. Aber über diese Bremser wird die Geschichte hinweggehen. Damit wir nicht in eine solche Lage geraten, muss man alle Kanäle öffnen. Wenn wir sie nicht öffnen, wird es zum Stau kommen und dann wird man möglicherweise wieder sagen, das waren Agenten, wie man am 17. Juni gesagt hat."
Reformdebatten wurden an nahezu allen Universitäten und Hochschulen der DDR sowie unter Künstlern, in Redaktionsstuben und in Verlagen geführt. Im Mittelpunkt standen die Notwendigkeit einer Wirtschaftsreform und die Entbürokratisierung des Staates, die die Frage nach der Legitimationsbasis der Parteiherrschaft sowie das herrschende Staats- und Parteiverständnis berührte. An den Universitäten formierten sich Anfänge einer oppositionellen Studentenbewegung - insbesondere an den naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten. Die Studentengruppen diskutierten nicht nur über die nötigen Korrekturen in der Hochschulpolitik der SED, sondern forderten politische Diskussionen über die bestehenden Machtverhältnisse und das von der SED beanspruchte Machtmonopol. Darüber hinaus kam es zu politisch motivierten Massenprotesten von Studenten in Dresden im Mai und in Berlin im November 1956.
Die in wirtschaftspolitischer Hinsicht weitreichendste Kritik in diesem Diskurs vom Sommer/Herbst 1956 stammte von den Politökonomen Fritz Behrens, stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, und Arne Benary, beide ab 1957 im Institut für Wirtschaftswissenschaften an der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW) tätig. In wissenschaftlichen Aufsätzen setzten sie sich mit der bürokratisch-zentralistischen Reglementierung der Produktion durch den Staat in der DDR auseinander.
Die Wirtschaftsfachleute hatten erkannt, dass der staatliche Dirigismus, wie er in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre praktiziert worden war, zur permanenten Handlungsüberlastung der Politik führen musste. In diesem Kontext trat der Ökonom Gunther Kohlmey, Direktor des Instituts für Wirtschaftswissenschaften der DAW, für ein gewisses Maß an ökonomischer "Selbstregulierung" ein. Anknüpfend an Diskussionen um das Wertgesetz in Polen und Jugoslawien wurde vorgeschlagen, die administrative Leitung der Volkswirtschaft durch eine ökonomische Steuerung zu ersetzen, die Wertformen und -kategorien wie Preis, Geld, Investitionsfonds und Kredit bewusst nutzt. Tatsächlich kam es vor dem Hintergrund dieser Diskussionen über die Defekte im wirtschaftlichen Planungssystem in den Jahren 1956 und 1957 unter der Losung "Vereinfachung der Planung" zu einer Dezentralisierung wirtschaftspolitischer Entscheidungsbefugnisse bei der Planaufstellung.
In eine ähnliche Richtung wiesen die Auffassungen des Direktors des Instituts für Agrarökonomie an der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften, Kurt Vieweg, der den staatlichen Zwang bei der Gründung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) kritisierte. Er sprach sich für die Auflösung unrentabel arbeitender Genossenschaften und den Erhalt bäuerlicher Familienbetriebe aus. Unter dem Eindruck der Misserfolge in der Landwirtschaft sowie des durch den XX. Parteitag der KPdSU ausgelösten politischen Tauwetters forderte er eine weit reichende Reprivatisierung des landwirtschaftlich genutzten Bodens. Seine Alternative zur Landwirtschaftspolitik der SED wurde später als "konterrevolutionäre Konzeption" bewertet.
Um Wolfgang Harich, Chefredakteur der "Deutschen Zeitschrift für Philosophie", formierte sich ein Kreis von Philosophen, Ökonomen und Journalisten, die an einem alternativen politischen Programm arbeiteten.
Charakteristisch für die Debatten der Schriftsteller, Künstler, Ökonomen, Philosophen und auch der Historiker war der Versuch, Interpretationsspielräume und Freiräume für unorthodoxe Erklärungen zu schaffen. Dies schien ihnen einen Weg aus der ideologischen Umklammerung durch die SED-Kultur- und Wissenschaftspolitik zu weisen, deren Ausmaß seit Anfang der fünfziger Jahre dramatisch zugenommen hatte.
Die Bestrafung der Kritiker
Bereits um die Jahreswende 1956/57 deutete sich das Ende des intellektuellen "Tauwetters" an. Mit dem Verweis auf die "konterrevolutionären" Ereignisse in Polen und Ungarn eröffnete die Parteiführung den Angriff auf jene Intellektuellen, die die Aufforderung zum Meinungsstreit ernst genommen und größere Diskussionsfreiräume gefordert hatten. Die politische Führung initiierte im Verlauf des Jahres 1957 auf breiter Front eine Kampagne gegen den "Revisionismus". In den Reihen der SED-Führungskader kursierte das Argument, dass sich in Ungarn gezeigt habe, auf welche Weise sich die Debattierzirkel der Budapester Intellektuellen - die Petofi-Clubs - sowie die Anfänge einer hochschulpolitischen Opposition zum Ausgangspunkt für "staatsgefährdende Aktionen" entwickelt hätten. So gerieten alle, die seit dem XX. Parteitag der KPdSU mit kritischen Beiträgen publizistisch hervorgetreten waren, in den Sog der Revisionismuskampagne.
Wiederum trat die politische Strafjustiz als Herrschaftsinstrument in Erscheinung.
Die im März und Juli 1957 abgehaltenen Prozesse vor dem Obersten Gericht der DDR bildeten den Auftakt zu einer Serie von Partei- und Gerichtsverfahren gegen jene, die seit dem Sommer 1956 für Veränderungen in Partei und Gesellschaft eingetreten waren. Der erneute Rückgriff auf die schon am Anfang der fünfziger Jahre angewandten Verschwörungstheorien ließ sich zur Disziplinierung von der SED nahestehenden Intellektuellen nutzen, die der von Ulbricht ursprünglich selbst verbreiteten Aufforderung zum Meinungsstreit gefolgt waren. Jedweder gesellschaftskritische Ansatz wurde als "Staatsverrat" kriminalisiert. Aus der Sicht des Politbüros als Auftraggeber der politischen Verurteilungen hatte sich der "moderne Revisionismus", wie der kritische Ansatz der Parteiintellektuellen offiziell hieß, als "Wegbereiter der Konterrevolution" im Herbst 1956 erwiesen. Mit der seit Jahresbeginn 1957 einsetzenden Revisionismuskampagne, die sich insbesondere in der Kultur- und Hochschulpolitik verheerend auswirkte, endeten die mit dem XX. Parteitag der KPdSU verbundenen Hoffungen auf eine Entstalinisierung der DDR und der SED.
In den Sog der Abrechnung gerieten nahezu alle Vertreter unorthodoxer Anschauungen. In direkter Folge der Revisionismuskampagne wurde auch Ernst Bloch, der politisch loyale, wenn auch theoretisch eigenständige Leipziger Philosoph mit dem Revisionismusvorwurf belegt.
Die meisten Protagonisten der Reformdebatten nahmen unter dem Eindruck der offenen Drohungen der Partei- und Staatsführung ihre Kritik zurück. Der Vorwurf, sich als "kleinbürgerlicher, individualistischer Intellektueller" zu verhalten, traf insbesondere jene, die 1956 als Sprecher der Liberalisierungsdebatten in Erscheinung getreten waren. Havemann und andere kritische Wissenschaftler bekannten auf der III. Hochschulkonferenz im Frühjahr 1958 in eingeübtem stalinistischem Ritual von Kritik und Selbstkritik, mit der Frontstellung gegen Personenkult und Dogmatismus sowie ihrem Plädoyer für den öffentlichen und freien Meinungsstreit das Wesen des XX. Parteitages missverstanden zu haben. Auch der Präsidialrat des Kulturbundes, der noch im Herbst 1956 die Reformkonzepte befürwortet hatte, sah sich im Dezember 1957 veranlasst, gegen die "konterrevolutionäre Tätigkeit" Harichs und Jankas Stellung zu nehmen. Kulturminister Becher, der im Oktober 1956 mit Janka und den Mitarbeitern des Aufbau-Verlages die Abschaffung der Zensur in der DDR diskutiert hatte, schrieb im September 1957 einen Ergebenheitsbrief an das ZK der SED. Darin warf er sich selbst vor, nicht erkannt zu haben, welche gefährlichen Tendenzen sich im Aufbau-Verlag anbahnten.
Auch Bloch distanzierte sich von Harich, Janka und Lukács sowie vom "menschlichen Sozialismus" und äußerte sich zustimmend zum bewaffneten Eingreifen sowjetischer Truppen in Ungarn.
Die Verschwörungstheorien waren geeignet, die Ulbricht-Kritiker innerhalb der SED-Führung endgültig auszuschalten. Nach dem Muster von 1953 wurden "Beweise" für eine "Fraktionstätigkeit" der Kritiker des Ulbricht-Kurses gesucht und nach einiger Zeit auch gefunden. Auf der 35. ZK-Tagung im Februar 1958 wurde behauptet, dass die Politbüromitglieder Karl Schirdewan und Fred Oelßner, der ZK-Sekretär für Wirtschaft Gerhart Ziller, der stellvertretende Ministerpräsident Fritz Selbmann, der Chef der Staatssicherheit Ernst Wollweber und die stellvertretende Vorsitzende der Staatlichen Plankommission Margarete Wittkowski, seit zwei Jahren als "Fraktion" organisiert, planmäßig gegen die Führungsbeschlüsse gearbeitet hätten. Tatsächlich hatten die Genannten Reformbedarf in der DDR konstatiert und Kritik am Führungsstil Ulbrichts geübt. Die Unterstellung "fraktioneller Tätigkeit" hatte in jedem Fall den Ausschluss der Betroffenen aus den Führungsgremien zur Folge. Schirdewan und Oelßner verloren ihre Parteiämter, Selbmann und Wittkowski wurden in ihrer Staatsfunktion zurückgestuft, Wollweber ging in Pension. Ziller hatte sich bereits im Dezember 1957 das Leben genommen.
Ulbricht hatte mit der justiziellen und innerparteilichen Abstrafung seiner Kritiker seinen ungebrochenen Machtwillen demonstriert und die Unumkehrbarkeit der seit 1945durchschrittenen gesellschaftspolitischen Entwicklung dokumentiert. Innerhalb des SED-Machtgefüges konnte er seine Position nun uneingeschränkt gegen innerparteiliche Widersacher behaupten.
Die Bedeutung der Reformdebatten
Die kurze Phase des "Tauwetters" nach dem XX. Parteitag der KPdSU hatte Chancen eröffnet, auch in der DDR den Bruch mit dem Konzept des stalinistischen Sozialismus sowjetischer Prägung zumindest auf der theoretisch-abstrakten Ebene einzuleiten. Im Hinblick auf die Eigendynamik derartiger Prozesse hätten sich daraus möglicherweise praktische Reformschritte entwickelt. Die Gelegenheit wurde vertan, weil im Zentrum der Politik der SED-Führung der bedingungslose Machterhalt stand. Die Politbüromehrheit hatte mit polizeilichen und juristischen Instrumentarien zu verstehen gegeben, dass es in der DDR eine Vernachlässigung der "Machtfrage" wie im Herbst 1956 in Ungarn nicht geben werde. Der Lernschock von 1953 wurde durch das Beispiel Ungarn bestätigt, als sich aufs Neue gezeigt hatte, dass selbst vorsichtige Kursänderungen die Herrschaftsverhältnisse ins Schlingern bringen konnten. Insofern ist es zutreffend, dass das Jahr 1956 im Hinblick auf die Gesellschaftspolitik in der DDR keinen großen Wandel brachte.
Die in den Jahren 1956 und 1957 vor allem von Intellektuellen im Umfeld der SED ausgehenden Reformdebatten können jedoch als Versuch gewertet werden, die seit 1945 etablierte Herrschaftspraxis zu modifizieren, das Gesellschaftssystem effizienter zu gestalten und die SED zu reformieren. Hinter den Reformansätzen stand keineswegs ein grundsätzlicher Veränderungswille in Staat und Gesellschaft oder etwa die Bereitschaft zur umfassenden Demokratisierung. Am weitgehendsten waren Überlegungen zu einem "dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Sozialismus, der den Allgemeinen Menschenrechten zur Anerkennung verhelfen sollte. Aber selbst die von SED-Mitgliedern artikulierten, eher systemstabilisierenden Vorstellungen erhielten in den fünfziger Jahren keine Wirkungsmacht. Für die Frage der inneren Stabilität der DDR bildete das Jahr 1956 demnach keine Zäsur.
Weitaus folgenreicher für die Stabilität des Herrschaftssystems in der DDR erwies sich jedoch die seit dem XX. Parteitag der KPdSU vertretene These, nach der sich die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus in einer höheren wirtschaftlichen Produktivität niederschlagen werde. Die sowjetische Führungsspitze ging davon aus, dass sich durch einen Modernisierungsschub die kapitalistisch hoch entwickelten Gesellschaften ökonomisch, kulturell und politisch überflügeln ließen. Die Sowjetunion hatte mit der Ankündigung, die westlichen Industrieländer in der Produktion je Kopf der Bevölkerung in kürzester Frist einzuholen bzw. zu überholen, einen Wettbewerb der Systeme eröffnet. Die Ulbricht-Führung folgte seit 1956 bereitwillig diesem Ansatz und stellte den Systemwettbewerb in den Mittelpunkt ihrer Politik, ohne über die ausreichende sozialökonomische Basis für die Realisierung der hoch gesteckten Ziele zu verfügen. So entwickelte sich dieser Wettbewerb zum Totengräber des Systems.
Die vor diesem Hintergrund in den sechziger Jahren praktizierten Reformversuche in Wirtschaft und Wissenschaft scheiterten an den Unzulänglichkeiten der Reformansätze und vor allem am Beharrungsvermögen des ab 1945 etablierten bürokratischen Apparates. Dieses Scheitern hatte Folgen für die innere Stabilität des Herrschaftssystems in der DDR. In den siebziger und achtziger Jahren waren bedeutsame Reformen des Gesellschaftssystems in der DDR unter Vermeidung eines Systemwechsels chancenlos. Fortan konnten grundsätzliche Reformen nur noch gegen die Herrschaft der SED und gegen das System durchgesetzt werden.