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Entstalinisierung und die Krisen im Ostblock | Krisenjahr 1956 | bpb.de

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Entstalinisierung und die Krisen im Ostblock

Mark Kramer

/ 23 Minuten zu lesen

Chruschtschows Kampagne zur Entstalinisierung hatte Aufstände im gesamten Ostblock zur Folge. Die Folgen der "Geheimrede" hätten das kommunistische Machtgefüge beinahe zum Einsturz gebracht.

Einleitung

Im Februar 1956 hielt der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), Nikita S. Chruschtschow, eine "Geheimrede" auf dem XX. Parteitag der KPdSU, in der er Exzesse und Verbrechen seines drei Jahre zuvor verstorbenen Amtsvorgängers Josef Stalin anprangerte. Die Auswirkungen dieser Rede sollten schnell weit über die Sowjetunion hinausreichen.

In den meisten osteuropäischen Staaten, insbesondere in Polen und Ungarn, entwickelten sich Unruhen und Instabilität. Bis zum Herbst sah sich die Sowjetunion in beiden Ländern vor ernsten politischen Krisen, die in Polen mit friedlichen Mitteln, in Ungarn durch den Einsatz sowjetischer Truppen gelöst wurden. Im Folgenden soll die Entstehungsgeschichte der Krisen des Jahres 1956 diskutiert werden, vor allem die entscheidende Bedeutung der sowjetischen Entstalinisierungskampagne für den gesamten Ostblock. Ihre Folgen hätten das kommunistische Machtgefüge im Herbst 1956 beinahe zum Einsturz gebracht.

Inoffiziell hatte die Entstalinisierung schon bald nach Stalins Tod im März 1953 eingesetzt. Die offizielle Kampagne aber begann erst mit jener Rede Chruschtschows am Abend des 25. Februar 1956 auf einer eilig einberufenen, geschlossenen Sitzung zum Abschluss des XX. Parteitages der KPdSU in Moskau. Chruschtschows vehemente Verurteilung des Stalinismus (so selektiv sie auch war) betraf auch all jene osteuropäischen Führer, die unter Stalins Patronat an die Macht gekommen waren und treu an stalinistischen Grundsätzen festgehalten hatten.

Zu den belasteten Führern gehörte auch der Erste Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), Boleslaw Bierut, ein Hardliner, der die zum XX. Parteitag entsandte polnische Delegation anführte und den Text der Rede bereits vorab erhalten hatte. Seine Mitstreiter sagten später, Bierut sei angesichts Chruschtschows Aussagen "fassungslos" und "am Boden zerstört" gewesen. Weil die polnische Reaktion auf die Geheimrede so bedeutsam war und sich derart schnell massive Unruhen im Land entwickelten (schneller noch als in Ungarn), ist es gerechtfertigt, den polnischen "Sonderfall" hier genauer zu untersuchen. Die aufgezeigten Entwicklungen waren - wenn auch weniger deutlich - 1956 in allen anderen Staaten des Ostblocks erkennbar, auch in der DDR und in der Sowjetunion selbst.

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Susanne Laux, Königswinter.

Die Geheimrede und die Unruhen in Osteuropa

Nach dem XX. Parteitag der KPdSU überstürzten sich die Ereignisse in Polen. Bereits am 28. Februar 1956 erstatteten vier hochrangige Funktionäre, die Bierut nach Moskau begleitet hatten - Jerzy Morawski, Jakub Berman, Józef Cyrankiewicz und Aleksander Zawadzki -, dem Politbüro der PVAP Bericht über die Geheimrede Chruschtschows. Danach beschloss das Politbüro, wichtige Parteiaktivisten vom 3. bis 4. März nach Warschau einzuberufen, um auch sie über die Rede zu informieren. Zum Auftakt jenes Treffens sprach Morawski ausführlich über die Verurteilung Stalins durch Chruschtschow. Er und seine Kollegen im Politbüro mussten sich bohrende Fragen aus dem Plenum gefallen lassen und die Politik der Regierung, so gut sie konnten, verteidigen.

Drei Tage nach diesem ersten Treffen kam eine größere Gruppe von Parteikadern in Warschau zusammen, die harsche Kritik an der seit acht Jahren mit harter Hand führenden Regierung Bierut und der weiteren Zugehörigkeit von Stalinisten zum Politbüro äußerten. Der vollständige Text der Chruschtschow-Rede war in der PVAP offiziell noch nicht in Umlauf, doch war bereits so viel von ihrem Inhalt durchgesickert, dass sie einen regelrechten Sturzbach Bierut-kritischer Kommentare auslöste. Bierut war während des KPdSU-Parteitages schwer erkrankt und zur Erholung in Moskau geblieben. Telefonisch hielt er engen Kontakt mit Warschau und wusste deshalb auch um den rapiden Schwund seiner Autorität in Polen, doch konnte er aus der Ferne nicht darauf reagieren. Sein plötzlicher Tod am 12. März - er starb offenbar an Herzversagen und einer Lungenentzündung - verlieh der Entstalinisierung in Polen einen enormen Schub.

Weil die große Mehrheit der Polen vor der offiziellen Verkündung von Bieruts Tod am 13. März weder von seiner Krankheit noch von seinem verlängerten Aufenthalt in Moskau gewusst hatte, sorgte die überraschende Meldung in der polnischen Gesellschaft für heftige Bewegung. Innerhalb von ein, zwei Tagen berichteten die Sicherheitskräfte in nahezu allen Landesteilen von großen Mengen "antikommunistischer und antisowjetischer" Flugblätter, in denen Bierut oft in extrem verletzender Weise an den Pranger gestellt wurde, Freude über seinen Tod geäußert und die polnische Führung als "russisch-beherrschte Regierung" geschmäht wurde. Graffiti tauchten auf Hauswänden in Warschau (vor allem in der Universität) und in anderen Städten des Landes auf. Schnell machten Gerüchte die Runde, Bierut sei "von der sowjetischen Geheimpolizei auf Geheiß der KPdSU-Führung vergiftet" worden. Einige Parteifunktionäre behaupteten öffentlich, dass "Genosse Bierut auf Befehl der KPdSU nach dem XX. Parteitag ermordet wurde, weil es unangenehm wurde, dass er noch länger anwesend war". Für diese Gerüchte gab es keinen Beweis, doch zeigt die Tatsache, dass viele Polen Bierut einerseits verurteilten, diesen Anschuldigungen andererseits aber bereitwillig Glauben schenkten, wie dramatisch sich das politische Klima in Polen gewandelt hatte.

Bieruts Nachfolger im Amt des Parteichefs, Edward Ochab, vertrat eine sehr viel moderatere Linie - er suchte die politische Unterdrückung und die strenge Kontrolle der Partei über die Presse zu lockern. Ochab erklärte sich mit dem Vorschlag Stefan Staszewskis, des reformorientierten Ersten Sekretärs der Partei in Warschau, einverstanden, die Parteiführung solle allen Parteimitgliedern das Studium der Geheimrede erlauben und diese sogar dazu ermutigen. Am 21. März, einen Tag nach der offiziellen Amtsübernahme Ochabs, billigte das Parteisekretariat (dem er vorstand) Ochabs Vorschlag, sowohl den russischen Text der Geheimrede als auch eine polnische Übersetzung zu verbreiten.

Zunächst gab die PVAP nur eine geringe Anzahl von Kopien der beiden Dokumente an regionale und lokale Parteiorganisationen aus - mit der Maßgabe, den übersetzten Text vor Versammlungen ausgewählter Parteimitglieder zu verlesen. Die lebhaften Debatten, die sich daran entzündeten, steigerten das Interesse noch, und Spekulationen blühten. So billigte das Sekretariat der PVAP am 27.März auf Geheiß Ochabs eine größere Verbreitung und wies die regionalen und lokalen Parteiorganisationen an, "sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten öffentliche Versammlungen" durchzuführen, um "sicherzustellen, dass die Teilnehmer vollständig über den Bericht [Chruschtschows] über den ,Personenkult und seine Konsequenzen` in Kenntnis gesetzt werden".

Diese Entscheidung war zum Teil auf Umstände zurückzuführen, die außerhalb der Kontrolle der PVAP lagen. Seit Mitte März konnten die Polen eine detaillierte Zusammenfassung der Rede über den polnischen Dienst des amerikanischen Radiosenders Voice of America (VOA) sowie andere westliche Kurzwellensender verfolgen. Diese "verbotenen" Sendungen erwiesen sich als höchst populär. In der zweiten Märzhälfte hatten lokale und regionale Parteifunktionäre ihrer tiefen Besorgnis über "eine große Zahl von Arbeitern" Ausdruck verliehen, die "bourgeoise Radiosender einschalten, um die wiederholten Ausstrahlungen von Chruschtschows Rede ebenso zu hören wie übel wollende Kommentare". Der Erste Sekretär der PVAP in Stettin, Józef Kisielewski, berichtete Ende März, dass "Arbeiter in Stettin in den vergangenen drei bis vier Wochen bei vielen Anlässen zu Massenversammlungen zusammenkamen, um [die Berichterstattung über Chruschtschows Rede über] bourgeoise Radiosender zu verfolgen und sich anschließend in bedenklicher, offen feindseliger Form und mit eindeutig antisowjetischen Untertönen über die Rede auszutauschen". Der Leiter der für die Massenmedien zuständigen Parteiabteilung, Tadeusz Golin'ski, räumte ein, dass "die Menschen überall in Polen Voice of America hören. Den Empfang verhindern zu wollen ist zwecklos, da die Polen immer wieder einen Weg finden, den Sender einzuschalten." Golin'ski, Kisielewski und andere hochrangige Funktionäre argumentierten, die Partei könne diesen Übertragungen nur begegnen, indem sie die Rede selbst verbreite: "Wenn wir den Menschen diese Informationen nicht selbst geben, wird der Feind dies gern für uns tun (...). Überall im Land werden die Menschen - auch jene, die keine Feinde [der PVAP] sind - Voice of America hören, wenn wir ihnen nicht die Wahrheit sagen oder dies hinauszögern." Geschehe dies nicht "so bald wie möglich", so Kisielewski weiter, werde sich die "virulente antisowjetische" und "antisozialistische" Stimmung noch verschärfen, die sich in den vorangegangenen Monaten "mit alarmierender Schnelligkeit" in Stettin entwickelt habe.

Die Appelle brachten das Sekretariat der PVAP dazu, am 27. März in einer Resolution für eine größere Verbreitung von Chruschtschows Rede einzutreten - ein Schritt, mit dem die Führung hoffte, den Einfluss und die Popularität der VOA zumindest schwächen zu können. Offiziell wurden mehr als 3 000 zusätzliche Exemplare der Geheimrede in Warschau gedruckt, "inoffiziell" und auf Initiative Staszewskis wurden weitere 15 000 bis 20 000 Exemplare hergestellt. Viele der inoffiziellen (und sogar einige der offiziellen) Broschüren wurden außerhalb der Partei verteilt, aber auch an Parteimitglieder gegeben. Anfang April tauchten einige Exemplare sogar auf dem Warschauer Rózycki-Markt auf, wo sie schnell ausverkauft waren.

Mit der wachsenden Zahl der Parteimitglieder und der "Normalbürger", die vom Inhalt der Rede wussten, nahm Ende März, Anfang April die politische Unruhe im Lande zu; einige Funktionäre äußerten die Befürchtung, die Situation könne bald außer Kontrolle geraten. Mitte April versuchte das Sekretariat der PVAP, die offizielle Verbreitung der Rede wieder zu drosseln, doch war dieser Versuch viel zu begrenzt und kam zu spät, um die Welle des Aufruhrs noch eindämmen zu können. Selbst wenn die Verbreitung der Rede über offizielle Kanäle umgehend hätte gestoppt werden können - ein solcher Schritt hätte lediglich kosmetischer Natur sein können, solange die Behörden nicht auch in der Lage gewesen wären, die vielen Tausend unerlaubten Kopien sicherzustellen und die Sendungen der VOA zu stören.

Antisowjetische Ressentiments

Eine der unvorhergesehen - und aus Sicht des Regimes höchst unerwünschten - Folgen der Entstalinisierungskampagne in Polen war die rapide Zunahme der Feindseligkeit gegenüber der Sowjetunion in der Bevölkerung. Bei Versammlungen von Partei- und Staatsorganisationen, bei denen im März und Anfang April über Chruschtschows Rede gesprochen werden sollte, äußerten sich viele der Teilnehmer in scharfer Form über die sowjetisch-polnischen Beziehungen - ein Thema, das zuvor tabu gewesen war. Zunächst wurde diese Kritik noch in Verurteilungen Stalins und dessen harter Unterdrückung der militärischen und politischen Eliten Polens gekleidet, schnell aber wuchs sich die Unzufriedenheit zu dem aus, was regionale Führer der PVAP als "ins Mark treffende antisowjetische Erklärungen und Angriffe" bezeichneten.

Als das Risiko von Repressalien immer geringer wurde, waren immer mehr Menschen bereit, ihrem Ärger über die "militärische Besetzung Polens durch die Sowjetunion" freien Lauf zu lassen und den Abzug aller sowjetischen Truppen zu fordern. Selbst innerhalb der PVAP waren nun viele früher scheinbar loyale Aktivisten geneigt, Chruschtschows Rede als "billigen politischen Trick" abzutun und die "Führer der KPdSU" zu beschuldigen, "sich jeder Verantwortung für Verbrechen zu entziehen, die sie Stalin zu begehen halfen. Jetzt, wo er bequemerweise tot ist, geben sie ihm die Schuld für alles."

Die öffentliche Feindseligkeit gegenüber der Sowjetunion wurde während der nächsten Phase der Entstalinisierung in Polen unübersehbar, und zwar in nahezu allen Teilen der Gesellschaft. Regionale Parteiführer berichteten, dass eine "enorme Zahl" von Arbeitern, Studenten und Intellektuellen "Verachtung für die UdSSR äußerten", und behaupteten, dass "die zehn Jahre, in denen Polen unter dem ,Protektorat` der Sowjetunion gestanden habe, für das Land eine völlig verschwendete Zeit" gewesen seien. In Polen stationierte sowjetische Funktionäre übermittelten düstere Memoranden nach Moskau über die "einem Angriff ähnelnden Ausbrüche gegen die UdSSR, die Kaskade antisowjetischer Äußerungen und Witze, die Verunglimpfungen, mit denen die sowjetische Politik überzogen wird". Diese "bestürzenden Erscheinungen", so ihre Argumentation, "hätten sich nicht derart verbreiten können, wenn die regionalen und lokalen Organisationen der PVAP eine entschiedenere und geschlossenere Haltung gegen die Aktivitäten feindlicher Elemente eingenommen hätten".

Der Prozess der Entstalinisierung wurde in Polen noch verstärkt durch die Lockerung der Pressezensur. Im Frühjahr 1956 erschien scharfe Kritik nicht nur am stalinistischen System des Landes, sondern auch am bestehenden Gemeinwesen und den polnisch-sowjetischen Beziehungen. Die wachsende Kühnheit der Presse rief in der PVAP die Befürchtung hervor, dass Artikel veröffentlicht werden könnten, "die in fundamentalem Gegensatz zu den Positionen der Partei stehen". Hochrangige Funktionäre beklagten sich, dass das Parteiorgan "Trybuna Ludu" "nicht einmal mehr versuche, eine Offensive zugunsten der zentralen Parteiorgane zu starten", eine Offensive gegen "ruchlose Elemente, die schroff zurückgewiesen werden sollten". Die Behörden unternahmen Ende April, Anfang Mai vorsichtige Schritte, um die kritische Presse zu zügeln, etwa, indem sie die Mai-Ausgabe der "Nowa Kultura" konfiszierten, die einen in ihren Augen "offen antisozialistischen" Artikel veröffentlicht hatte. Diese Maßnahmen hatten allerdings nur geringe Wirkung; die Auslieferung des Heftes an die Abonnenten war zu einem erheblichen Teil bereits erfolgt.

Die lebendigen und nicht der Parteilinie entsprechenden Kommentare polnischer Journalisten verstörten auch die sowjetische Führung, bei der wiederholt Telegramme von sowjetischen Diplomaten in Polen eingingen, in denen von der "verderblichen Rolle der polnischen Presse" bei der "Verbreitung antisowjetischer Stimmungen" die Rede war, indem "die Diskussionsfreiheit missbraucht wird, um Ansichten zu fördern, die eine Antithese zum Marxismus-Leninismus darstellen" und "den Kampf der KPdSU gegen den Personenkult grob verzerren". Während eines Treffens sowjetischer und osteuropäischer Funktionäre Anfang Mai fand Chruschtschow zornige Worte für die "antisozialistischen Elemente in Polen, denen unter Ochab freie Hand [in der Presse] gelassen wird", um "Polen gewaltsam aus der brüderlichen sozialistischen Gemeinschaft herauszulösen". Wenig später, nachdem es den polnischen Machthabern nicht gelungen war, die Kritik zu unterbinden, äußerten Chruschtschow und seine Kollegen die Befürchtung, dass "die [polnischen] Presseorgane der Kontrolle [der PVAP] unwiderruflich entglitten sind" und "in den verderblichen Einfluss unserer Feinde geraten sind, [die] auf Geheiß reaktionärster Kräfte [handeln]".

Doch trotz wachsender Bedenken sowohl in Warschau als auch in Moskau verlor die Entstalinisierung in Polen nicht an Tempo. Die Hardliner in der PVAP, die sich zunächst im Hintergrund gehalten hatten, hofften nun, die wachsenden sozialen Unruhen eindämmen und wieder strenge politische Kontrolle ausüben zu können. Ihr Handlungsspielraum aber wurde durch eine immer stärkere Zersplitterung auf allen Ebenen der Partei zunehmend eingeschränkt. Die Machtkämpfe innerhalb der PVAP erschwerten alle Versuche, mit Härte durchzugreifen. Ein hoher Funktionär, der mit einigen der beschlossenen Reformen unzufrieden war, fasste die Lage so zusammen: "Anders als in anderen Volksrepubliken ist in unserem Land ein anhaltender Prozess so genannter 'großer Diskussionen' in Gang gekommen. Diesem Prozess sind keine Grenzen gezogen und keine festen Leitlinien vorangestellt worden, er war voll von unverblümter und bisweilen böswilliger Kritik. Die 'Diskussion' ist ausgeufert, und niemand hat versucht, sie zu kontrollieren. Die Menschen sagen, was immer sie möchten, und sie tun dies, wann immer sie möchten. Das Zentralkomitee der PVAP hat zugeschaut. Man kann sich nur wundern, wie weit die Dinge gediehen sind."

Politisch war Polen allen anderen osteuropäischen Staaten weit voraus, ökonomisch gesehen aber war die Lage bedeutend ungünstiger. Die Wirtschaft war in den ersten Jahren nach Stalins Tod kaum gewachsen. Obwohl sich der Spielraum für ökonomische Reformen nach Bieruts Tod beträchtlich erweitert hatte, nahmen Ochab und seine Mitstreiter nur zögerlich weit reichende wirtschaftliche Maßnahmen zur Linderung der Notlage in Angriff, die auf Polens Crashkurs zur Industrialisierung und auf die erzwungene Kollektivierung der Landwirtschaft zurückzuführen war. Dies zusammen mit der allgemein gelockerten politischen Kontrolle ließ ein hoch entzündliches Gemisch entstehen.

Im Frühjahr 1956 riefen Arbeiter in einigen Städten zu kurzen, aber folgenschweren Streiks auf. Es waren Arbeiter in großen Industrieanlagen, die für den Großteil der Proteste verantwortlich waren, aber auch andere Berufsgruppen (etwa Taxifahrer und Lehrer) unterstützten die Arbeitsniederlegungen. In Krakau traten Anfang April die städtischen Taxifahrer in den Streik und brachten das öffentliche Leben in der Stadt für zwei Tage beinahe zum Erliegen, bis die Lokalregierung sich bereit erklärte, eine Erhöhung der Einkommensteuer zurückzunehmen. Die Behörden versuchten, der Vorfälle ohne Gewaltanwendung Herr zu werden, doch erwiesen sich ihre Bemühungen zur friedlichen Beilegung der Arbeiterproteste als vergeblich. Am 28. Juni 1956 brach in Posen, der großen Industriestadt 270 Kilometer westlich von Warschau, ein allgemeiner Arbeiteraufstand los.

Vom Posener Aufstand zur Oktober-Krise

Der Arbeiteraufstand von Posen war die bis dahin deutlichste Manifestation der Unzufriedenheit. Einer Demonstration der Arbeiter der größten Betriebe der Stadt für bessere Lebensbedingungen schlossen sich Beschäftigte kleinerer Unternehmen und Teile der Bevölkerung an. Die angespannte Situation eskalierte, als aus dem Gebäude der Staatssicherheit auf die Demonstranten geschossen wurde. Erst mit Hilfe von Panzern gelang es, den Aufstand niederzuschlagen. Im Verlauf der heftigen, an einigen Punkten der Stadt zwei Tage anhaltenden Kämpfe starben mindestens 75 Menschen; mehr als 700 wurden zum Teil schwer verletzt. Der Aufstand sorgte im gesamten Ostblock für große Nervosität. Das Muster der Ereignisse sollte sich in späteren Zeiten wiederholen.

Die osteuropäischen Führer - die meisten von ihnen Überbleibsel aus der Stalin-Zeit - fürchteten, die Gewalt in Polen könne auf ihre Länder übergreifen. Besonders groß erschien diese Gefahr in Ungarn und der Tschechoslowakei. Letztere hatte eine lange gemeinsame Grenze mit Polen. In Ungarn hatte sich die politische Unruhe nach dem XX. Parteitag der KPdSU vor allem unter Schriftstellern, Studenten und Intellektuellen rapide verstärkt. Ab Jahresmitte bezogen die ungarischen winds of change zusätzliche Kraft aus der Krise in Posen. Auch Fabrik- und Kolchosearbeiter waren nun bereit, dem kommunistischen Regime zu trotzen. Ein Signal dieses Wandels war der 12. Juli: Tausende Arbeiter der großen Mátyás-Rákosi-Stahlwerke auf der Csépel-Insel, dem 21. Bezirk von Budapest, organisierten einen Protestzug, in dem sie die "unverständlichen Kürzungen [ihrer] Löhne" anprangerten und forderten, die "Löhne nach einem geregelten System festzulegen".

In der Tschechoslowakei hatte bereits im Januar eine Welle von Studentenprotesten eingesetzt, als Tausende in Prag und Bratislava gegen einen Beschluss des Regimes, nach dem alle männlichen Studenten im Anschluss an ihre Ausbildung ein Jahr Militärdienst zu leisten hatten, demonstrierten. In einem Akt des Aufbegehrens, der zu Stalins Zeiten unvorstellbar gewesen wäre, organisierten die Studentenführer in Bratislava eine Straßendemonstration. Als im April 1956 der Tschechoslowakische Schriftstellerverband seinen zweiten Kongress abhielt und eine Gruppe reformorientierter Schriftsteller das Treffen als öffentliches Forum für den Ruf nach umfassenden politischen Veränderungen nutzte, wies die Regierung die Forderungen entschieden zurück und maßregelte jene Schriftsteller, die sich offen geäußert hatten. Die politischen Unruhen erreichten im Mai mit Studentenprotesten bei den traditionellen Majáles-Feiern, die beinahe außer Kontrolle gerieten, einen Höhepunkt.

Sowohl in Ungarn als auch in der Tschechoslowakei grenzten die offiziellen Reaktionen auf den Posener Aufstand an Panik. Mátyás Rákosi, Generalsekretär der Partei der Ungarischen Werktätigen (MDP), reagierte alarmiert auf den Posener Aufstand, denn dieser brach nur einen Tag nach einem in den Medien viel beachteten Treffen des Petofi-Kreises in Budapest los, einer Gruppe reformorientierter Intellektueller innerhalb der MDP, die immer heftiger gegen Rákosi und die Partei aufbegehrten. Mehr als 6 000 Menschen verfolgten die Debatten, in denen umfassende Kritik an der Politik Rákosis insbesondere wegen seiner Rolle bei der stalinistischen Unterdrückung der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre laut und erneut die "völlige Freiheit der Presse" gefordert wurde.

Über die Vorgänge nach dem Treffen des Petofi-Kreises wurde in der ungarischen Presse ausführlich berichtet - genau zu jenem Zeitpunkt, als die Gewalt in Polen losbrach. Auch ohne den Posener Aufstand hätte Rákosi zweifellos eine heftige Kampagne gegen den Pet?fi-Kreis gestartet. Als er am 30. Juni eine außerordentliche Sitzung des ZK der MDP einberief, bei der diskutiert werden sollte, wie mit dem Petofi-Kreis und der Presse zu verfahren sei, wurden diese Überlegungen vom Posener Aufstand überschattet. Rákosi berief sich bei der Rechtfertigung seiner Vorschläge, den Petofi-Kreis zu ächten und die Zügel der Zensur wieder anzuziehen, wiederholt auf die "antisozialistischen Auswüchse in Posen". Seiner Auffassung nach waren "diese plötzlichen und unerwarteten Ereignisse" - der Posener Aufstand und das Treffen des Petofi-Kreises - "zwei Seiten ein und derselben Medaille"; führende Mitglieder des Petofi-Kreises hätten "ideologische Vorbereitungen" für eine gewaltsame Erhebung in Ungarn getroffen.

Die Befürworter einer harten Linie im ZK der MDP teilten Rákosis Auffassung bezüglich des Posener Aufstandes. "Nach der Lektüre der Morgenzeitungen über die Ereignisse in Posen", erklärte Handelsminister János Tausz, er sehe, dass "wir in den vergangenen Monaten zu nachgiebig gegenüber jenen Elementen auf dem rechten Flügel waren, die vorgeben, offen und ehrlich Kritik zu üben. (...) Im Licht der jüngsten Ereignisse in der Tschechoslowakei und in Polen müssen wir entschieden [gegen die rechten Kräfte] vorgehen, um sicherzustellen, dass die Arbeiter die Linie der Partei richtig verstehen." Zustimmend fügte Premierminister András Hegedüs hinzu, dass "die Ereignisse in Polen ernste Auswirkungen auf die internationale Arbeiterbewegung haben. Können wir uns vorstellen, wie ernst diese wären, wenn Ereignisse wie die in Polen in der Sowjetunion oder in anderen Volksrepubliken geschähen? Dem menschlichen Fortschritt und der Sache des Sozialismus würde irreparabler Schaden zugefügt." Das ZK billigte Rákosis Vorschlag einer "entschiedenen Verurteilung" des Petofi-Kreises, denn dieser habe sich mit einer "heimtückischen, gegen die Partei gerichteten Bewegung" verschworen, um "gegen die Partei gerichtete Ansichten zu verbreiten, die öffentliche Meinung (vor allem jüngere Menschen) in die Irre zu führen und Anhänger bei den in ihrer Überzeugung wankenden Elementen" der Arbeiterklasse "zu rekrutieren". "Die Provokation in Posen", so die ZK-Erklärung, "ist eine Warnung für jeden ungarischen Arbeiter und jeden ehrlichen Patrioten, Versuchen zur Unruhestiftung entgegenzutreten und (...) sich unter der Führung der [kommunistischen] Partei und auf der Seite der Regierung zu vereinigen."

Unruhen unter den Stahlarbeitern am 12. Juli schienen Rákosis Warnungen über die Gefahr eines "ungarischen Posen" zu bestätigen. Doch sein politisches Schicksal war bereits besiegelt. Rákosi erhoffte sich die Unterstützung der sowjetischen Führung, indem er die mit der Krise in Posen verbundenen Gefahren hervorhob. Ihm war nur zu bewusst, dass Chruschtschow, der stellvertretende Ministerpräsident Anastas Mikojan und andere wichtige Funktionäre in Moskau nach dem Posener Aufstand "besorgt über das Schicksal Ungarns" waren. Mikojans Memorandum an das Präsidium der KPdSU, in dem er "die Diskussionen des Petofi-Kreises [am 27. Juni] als ideologisches Posen, nur ohne Gewehrschüsse" bezeichnet hatte, schienen Rákosis Einschätzung widerzuspiegeln. Mikojan betonte, das "wir [in Moskau] nach den Lehren von Posen nicht etwas Ähnliches in Ungarn erleben möchten". Doch bedeutete das nicht, dass die sowjetische Führung Rákosi als Garanten für Stabilität in Ungarn sah. Im Gegenteil: Ihrer Ansicht nach lag "eine ungarische Version von Posen" im Bereich des Möglichen, solange Rákosi an der Macht blieb. Daher reiste Mikojan am 13. Juli, einen Tag nach dem Streik der Stahlarbeiter in Budapest, nach Ungarn und erklärte Rákosi, er müsse zurücktreten. Rákosi blieb nichts anderes übrig, als sich diesem "Rat" zu beugen.

Erno Gero, lange Zeit treuer Gefolgsmann Rákosis, wurde auf Betreiben Mikojans am 18. Juli vom ZK zum Generalsekretär der MDP ernannt. Bei seiner Amtsübernahme versicherte Gero dem ZK, in Ungarn werde es "kein zweites Posen" geben. Gleich einem Echo der Moskauer Position hob er die Rolle ausländischer Mächte hervor, die "versuchen, die Einheit des sozialistischen Lagers zu zerstören: Der amerikanische Imperialismus und andere imperialistische Kreise sind bestrebt, die gegenwärtige Situation auszunutzen - eine Situation, in der die Ausmerzung von Stalins Personenkult und die Entwicklung einer sozialistischen proletarischen Demokratie jene Elemente, die sich unter den alten, gegen die Bevölkerung gerichteten Regimen entfalten konnten, in die Lage versetzt, auch in den Volksdemokratien wieder an die Oberfläche zu gelangen." Gero warnte seine Genossen davor, dass "sich der imperialistische Feind noch immer offen darum bemüht, auf ein 'ungarisches Posen' hinzuarbeiten". Ungarn könne "sich glücklich schätzen, dass sich unter Rákosi kein Posen ereignet" habe, und Gero betonte, es "wäre ein großer Fehler, keine Lehren aus der Provokation von Posen zu ziehen", vor allem hinsichtlich des Petofi-Kreises und anderer, denen unterstellt wurde, "jene Form von Blutvergießen auslösen" zu wollen, "die wir in Posen erlebt haben". Obwohl der Petofi-Kreis zu Beginn "ein lohnenswertes Gebilde" gewesen sei, dem "viele aufrichtige Menschen" angehört hätten, so Gero, hätten sich "feindliche Kräfte" der Gruppe bemächtigt, um "ein alternatives politisches Machtzentrum zu schaffen, das die einzig legitime politische Autorität des Landes, das Zentralkomitee der MDP, stürzen könnte".

In der Tschechoslowakei waren die offiziellen Reaktionen auf den Posener Aufstand ähnlich. Am 30. Juni wies das Präsidium derTschechoslowakischen Kommunistischen Partei (KPC) alle großen Zeitungen an, am folgenden Tag einen Leitartikel zu veröffentlichen, in dem zu einer "Verstärkung der revolutionären Wachsamkeit" und einem "heftigeren Kampf gegen Feinde der volksdemokratischen Ordnung, Spione und Saboteure" aufgerufen werden sollte - jene angeblich zwielichtigen Elemente der Gesellschaft, die bereits während der stalinistischen Repressionen im Visier der tschechoslowakischen Staatssicherheit Státni bezpecnost (StB) gewesen waren. Der Artikel bekräftigte, dass "der Feind innerhalb des Landes operiert" und "einer der jüngsten Beweise für seine Aktivitäten die Tumulte während der studentischen Majáles-Feiern waren", die "feindliche Agenten ausnutzen wollten, um die Studenten gegen die Partei und das System aufzubringen".

In ihrem Bestreben, den Posener Aufstand zu diskreditieren und zu verurteilen, sahen sich die tschechoslowakischen Führer dennoch vor einer schwierigen Aufgabe. Berichte der StB sowie regionaler und lokaler Parteiorganisationen enthüllten "eine große Welle der Aktivität verschiedener feindlicher Elemente in der Tschechoslowakei nach den Ereignissen in Posen". Besondere Besorgnis erregte ein StB-Memorandum von Anfang Juli, in dem von einem "beträchtlichen Prozentsatz" von Arbeitern in den tschechischen Gebieten die Rede war, die "die von imperialistischen Agenten in Posen begangenen Provokationen von ganzem Herzen begrüßen". Diese Einschätzung wurde von lokalen Parteifunktionären bestätigt, die das KPC-Präsidium informierten, dass in fast allen Teilen des Landes "widerwärtige Stimmungen aufgekommen sind". In Liberec (Reichenberg) etwa hätten Arbeiter der größten Produktionswerkstatt, der Staatlichen Flugzeugwerke, den Posener Aufstand als "Ausdruck der wahren Meinung gewöhnlicher Menschen" betrachtetet. Sie seien überzeugt, dass "sich ein großer Teil unseres Volkes daran beteiligen würde, wenn etwas Ähnliches in der Tschechoslowakei geschähe".

Noch größere Nervosität riefen Informationen hervor, wonach "die Ereignisse in Posen großes Aufsehen bei der polnischen Minderheit in der Region um Ostrava [Ostrau] erregten", dem tschechoslowakischen Grenzgebiet zu Polen. Anfang Juli behauptete die StB, Flugblätter gefunden zu haben, "die von einem 'Zentrum für den inneren Widerstand' bei der polnischen Minderheitsgemeinschaft in Umlauf gebracht worden" seien, einer Gruppe, die "bestrebt ist, einen noch größeren Aufruhr [als in Posen] zu provozieren, und zwar in einer ganzen Reihe verschiedener Städte, um die Erfolgsaussichten zu erhöhen". Angeblich riefen diese Flugblätter "die Angehörigen der polnischen Minderheit dazu auf, nationale Gruppierungen zu bilden und 'auf ein Signal zum Aufstand'" gegen das Regime zu warten. Später informierte die StB das Präsidium der KPC darüber, dass "am 4. Juli mehr als 700 Pakete mit Flugblättern aus Briefkästen in Prag beschlagnahmt" worden seien - gerade rechtzeitig, bevor sie an "feindliche Elemente" in der Region um Ostrava verschickt werden konnten.

Auch in anderen tschechischen Gebieten warfen Parteifunktionäre "reaktionären Elementen" vor allem "unter den Eisenbahnarbeitern" vor, "den Geschehnissen in Posen nacheifern zu wollen, indem sie Arbeiter verschiedener Unternehmen aufrufen, Protestaktionen zu organisieren und höhere Löhne zu fordern". Diesbezügliche Befürchtungen der Regierung hingen vor allem damit zusammen, dass am 30. Juni - zeitgleich mit dem Posener Aufstand - eine lange geplante Erhöhung der Arbeitsnormen in Kraft getreten war. Die Erhöhung veranlasste 120 Arbeiter in einer Fabrik im Prager Vorort Stredokluky, die Arbeit niederzulegen und eine Rücknahme der Maßnahme zu fordern.

Arbeiter anderer Fabriken in der Region organisierten Bummelstreiks, und die Mitarbeiter eines dieser Unternehmen entsandten eine Delegation von zehn Beschäftigten ins Ministerium für Schwerindustrie in Prag, um ihrer Forderung nach einer Rücknahme der höheren Normen Nachdruck zu verleihen. In Pilsen stellten Parteifunktionäre fest, dass Arbeiter in den Transportfabriken "diskutierten, ob dies 'der richtige Zeitpunkt ist, unseren Führern' das Gleiche zu zeigen" wie die Posener Arbeiter. Umgehend sagten die Aufseher in diesen Fabriken Lohnerhöhungen zu, um einen Streik zu vermeiden. Die KPC wies ihre Funktionäre an, "in Unternehmen, wo keine hinreichenden politischen Vorbereitungen getroffen wurden, vorübergehend von höheren Arbeitsnormen abzusehen". In den unruhigsten Landesteilen wurden zudem Verbilligungen von Konsumgütern angeordnet sowie Lohnerhöhungen für die Arbeiter in Schlüsselunternehmen in Pilsen, Prag und anderen Städten.

Echos des Posener Aufstandes waren auch in China zu spüren. Eine Delegation chinesischer Funktionäre befand sich Ende Juni 1956 in Posen, um an der Internationalen Handelsmesse teilzunehmen und einen 41 Millionen Rubel umfassenden Handelsvertrag mit der polnischen Regierung zu unterzeichnen. Die Delegation wurde Augenzeuge des Aufstandes und sandte anschauliche Berichte nach Peking, in denen Ausmaß und Intensität der Gewalt beschrieben wurden. Diese Berichte und spätere Besprechungen trafen die kommunistischen Machthaber in China völlig unerwartet und entzündeten "eine heiße Debatte in breiten Teilen der chinesischen Bevölkerung über die Gründe" des Aufstandes.

Der sowjetische Botschafter in Peking, Pawel Judin, berichtete, dass im Gefolge des Posener Aufstandes chinesische "Fabrikarbeiter, Büroangestellte und Intellektuelle sehr viel eher geneigt" waren, "ihre Unzufriedenheit mit dem langsamen Wachstum der Einkommen und des Lebensstandards, dem Warenmangel in den Geschäften und dem anhaltenden Wohnungsmangel zu äußern". Später räumte die chinesische Führung ein, dass es im Sommer 1956 zu Dutzenden von Arbeitsniederlegungen und Protesten gekommen war. An diesen Unruhen, die häufig gewaltsam niedergeschlagen wurden, beteiligten sich zehntausende Arbeiter - unter ihnen auch solche, die sich ausdrücklich auf den Aufstand in Posen beriefen.

Die Proteste chinesischer Arbeiter und Intellektueller 1956 waren weniger dramatisch als das Blutvergießen in Posen, doch hatte es spontane politische Diskussionen und Arbeiterunruhen in China seit der kommunistischen Machtergreifung 1949 praktisch nicht mehr gegeben. Arbeiter, Studenten und Intellektuelle waren plötzlich bereit, "die unterschiedlichsten und oft verworrensten Ansichten" über die "ernsten Probleme" in ihrer Gesellschaft zu äußern. In einer Rede vor hohen Parteifunktionären sprach Mao Zedong im Januar 1957 von der "heimtückischen Wirkung" des Posener Aufstandes auf die soziopolitische Lage in China: "Sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kommunistischen Partei priesen bestimmte Leute die Ereignisse in Polen. Jedes Mal, wenn sie den Mund öffneten, sprachen sie voller Begeisterung über Posen (...). Dabei enthüllten sie für jeden erkennbar ihr wahres Gesicht. Diese Ameisen kamen aus ihren Löchern gekrochen, und die Schildkröten und anderer Abschaum der Menschheit kamen aus ihren Verstecken und wurden ans Licht gelockt."

Der Nachhall des Posener Aufstandes in China, Osteuropa und der Sowjetunion unterstrich die besondere Bedeutung der polnischen Arbeiterbewegung. Auch in Polen hatte die Erhebung weit reichende Konsequenzen. Die Möglichkeit erneuter Unruhen wurde durch die in der Bevölkerung vorhandenen Ressentiments gegen die Sowjetunion erhöht. Berichte der Staatssicherheit und hoher Parteifunktionäre belegten, dass die antisowjetische Stimmung, die sich vor und während des Posener Aufstandes als so explosiv erwiesen hatte, stärker war als je zuvor. Auch wenn der Aufstand ohne militärische Intervention der UdSSR niedergeschlagen wurde, so hatte die prominente Rolle sowjetischer Generäle bei der Operation doch das Ausmaß der sowjetischen Kontrolle über die polnischen Streitkräfte offenbart. Gerüchte machten die Runde, dass "verkleidete sowjetische Soldaten als erste das Feuer eröffnet" hätten. Andere Gerüchte besagten, dass sowjetische und polnische Truppen "mehr als 1 000 Menschen in Posen getötet" hätten.

Ein Funktionär der PVAP sagte gegenüber sowjetischen Diplomaten, "noch nie habe er in der Volksrepublik Polen derart viele sarkastische antisowjetische Bemerkungen und Witze gehört wie zurzeit". Ein anderer warnte Moskau, dass "die Ereignisse von Posen nicht nur Polen und der UdSSR, sondern dem gesamten sozialistischen Lager großen politischen Schaden zugefügt haben, indem sie den Aufbau von Kontakten zwischen den [osteuropäischen kommunistischen] Parteien" und der KPdSU behindert hätten. Lokale Parteiorganisationen machten geltend, Arbeiter in zahlreichen Fabriken sähen in der Lancierung "antisowjetischer Slogans und dem Ausdruck antisowjetischer Ressentiments" den besten Weg, "Solidarität mit den Provokateuren von Posen" zu zeigen.

Eben jene Welle der Feindseligkeit gegen die UdSSR sollte im Oktober 1956 maßgeblich dazu beitragen, eine erneute sowjetisch-polnische Krise auszulösen. Wladyslaw Gomulka löste Ochab als Generalsekretär der PVAP ab, nachdem eine militärische Eskalation mit den sowjetischen Truppen im letzten Moment verhindert werden konnte. In Ungarn hingegen kam es zur Revolution. Die richtungweisende Entscheidung Chruschtschows vom Februar 1956, eine offizielle Kampagne zur Entstalinisierung zu führen, hatte Aufstände und Unruhen im gesamten Ostblock zur Folge. Eine Wiederholung der Vorgänge von Posen schien jederzeit möglich.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Zitate stammen aus freigegebenen Dokumenten folgender Archive: Archiwum Akt Nowych/Central Archives of Modern Records (Warschau); Rossiiskii Gosudarstvennyi Arkhiv Noveishei Istorii/Russian State Archive of Recent History; Arkhiv Vneshnei Politiki Rossiiskoi Federatsii/Foreign Policy Archive of the Russian Federation; Arkhiv Prezidenta Rossiiskoi Federatsii/Presidential Archive (alle in Moskau); Magyar Országos Levéltár/Hungarian National Archives (Budapest); Státní Ústrední Archiv/Central State Archive (Prag).

Professor, geb. 1962; Director of Cold War Studies at Harvard University und Senior Fellow am Davis Center for Russian and Eurasian Studies. Cold War Studies Center, Harvard University, 1730 Cambridge, MA 02138, USA.
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