Im ausgehenden 19. Jahrhundert erlebte die Welt ein Wettrennen europäischer Mächte um Kolonialbesitz, den viel zitierten "Scramble for Africa". In diesem Hochimperialismus genannten Zeitalter ging es um Weltmachtansprüche, wirtschaftspolitisches Dominanzstreben, nationales Prestige, billige Rohstoffe und Absatzmärkte für industrielle Produkte. Auf der Berliner Afrika-Konferenz (oder Kongo-Konferenz), die zur Jahreswende 1884/85 in Berlin stattfand, beschlossen die Vertreter von zwölf europäischen Staaten, der USA und des Osmanischen Reichs die Modalitäten für die Aufteilung Afrikas sowie den freien Zugang für den Handel und Missionstätigkeiten auf dem Kontinent. Obgleich sich die Aufteilung Afrikas unter den Kolonialmächten keineswegs allein auf die Berliner Afrika-Konferenz zurückführen lässt, gilt sie heute unter Afrikanern als Menetekel für die Fremdbestimmung und Ausbeutung ihres Kontinents.
Kamerun wurde offiziell am 12. Juli 1884 zum deutschen "Schutzgebiet" erklärt, nachdem kurz zuvor einige Verträge mit den Herrschern am Kamerunfluss unterzeichnet worden waren.
Geschichtsbewusstsein und Medien des kollektiven Gedächtnisses
Das Konzept des kollektiven Gedächtnisses geht auf den französischen Soziologen Maurice Halbwachs zurück, der die Erinnerung als kollektives Phänomen im Gegensatz zu den bis dahin vertretenen Ansätzen von Henri Bergson und Sigmund Freud definiert. Für Letztere gilt die Erinnerung als rein individueller, psychologischer Prozess. Dagegen argumentiert Halbwachs, dass der Mensch sich stets in einem sozialen Rahmen erinnert und Gruppen wie Freundeskreise, Familien und Arbeitskollegen unsere Erinnerungen mitprägen.
Die Funktionalisierung des Gedächtnisses formt neben vielem anderen auch das Geschichtsbewusstsein einer Gemeinschaft, das aber kein "bloßes Wissen oder reines Interesse an der Geschichte (…), [sondern zugleich] Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive" ist.
Deutsche Kolonialherrschaft im Spiegel der Architektur
Betrachtet werden im Folgenden Bauwerke aus der deutschen Kolonialzeit, die heute noch ihre Bedeutung im kollektiven Gedächtnis der Kameruner haben, darunter das Schloss des Kolonialgouverneurs von Kamerun, Jesko von Puttkamer, in Buea, der Sitz der deutschen Seemannsmission in Douala, die deutschen Friedhöfe, der Leuchtturm in Kribi oder die Brücke über den Sanaga-Fluss in Edea. Dabei wird der Fokus nicht nur auf die Bauwerke und Monumente selbst, sondern auch auf die sich damit verbindenden Erinnerungsnarrative gerichtet – und zwar aus kamerunischer wie deutscher Perspektive.
Das Schloss von Jesko von Puttkamer wurde am Fuß des Kamerunbergs in Buea erbaut. Bis zur Verlegung der Hauptstadt der Kolonie nach Yaoundé im Jahr 1909 fungierte es als Wohnhaus der deutschen Gouverneure. Die Geschichte des Schlosses ist insofern aufschlussreich, als es die Beziehungen zwischen Kamerun und Deutschland sogar in der nachkolonialen Zeit prägte und Eingang in die Literatur-
Etwas anders gelagert ist der Fall des Seemannsheims in Douala. Die Idee für den Bau von Seemannsheimen stammte aus Großbritannien und wurde 1848 vom Pastor der Evangelischen Mission in Deutschland, Johann Heinrich Wichern, aufgegriffen. Seemannsheime boten deutschen und ausländischen Seeleuten Unterstützung gegen die Allmacht der Reeder wie auch Gemeinschaft in der Fremde. Schon 1854 wurde das erste Seemannsheim durch das Handelshaus Friedrich M. Vitor in Bremen eingeweiht. Seemannsmissionen in Kiel und Bremerhaven folgten, und am 15. Juni 1891 wurde die Seemannsmission in Hamburg als Komitee für Deutsche Seemannsmission gegründet. Die deutsche Seemannsmission in Douala weihte 1966 Bundespräsident Heinrich Lübke ein. Die Baukosten trug das deutsche Auswärtige Amt.
Dass auch in Douala eine Seemannsmission gegründet wurde, ist an sich nichts Ungewöhnliches. Doch die Tatsache der Eröffnung so kurz nach der Unabhängigkeitserklärung Kameruns lässt darauf schließen, dass die deutsche Bundesregierung so schnell wie möglich in der ehemaligen deutschen Kolonie Fuß fassen wollte. Auch die Wahl des Grundstücks war kein Zufall. Der Gebäudekomplex wurde an dem Ort errichtet, an dem auch die erste deutsche Kolonialregierung und die Mission 1884/85 in Douala gebaut hatten. Ein Schild im Hof des Heims informiert darüber, dass es sich bei dem Gelände um einen Erinnerungsort der deutschen Kolonialherrschaft handelt. So stellt das Seemannsheim, das heute auch vom Goethe-Institut genutzt wird und als Wohnraum für (wohl meist deutsche) Touristen in Kamerun dient, eine enge Verbindung zu der deutschen Kolonialzeit her, wenn nicht in seiner Architektur, so doch in der Geschichte seiner Topografie.
Ein weiterer Erinnerungsort deutsch-kamerunischer Geschichte ist die Sanaga-Brücke in Edea, die 1911 fertiggestellt wurde. Als 2011 das 50-jährige Jubiläum des Goethe-Instituts in Kamerun – nach Angabe der Organisatoren "im Zeichen der Reflexion des Brückenschlags zwischen den Kulturen Kameruns und Deutschlands"
Die Brücke, obgleich ein Bau der Kolonialarchitektur, wird unter Kamerunern auch als Ausdruck des technischen Knowhows der Deutschen bewundert. Vom Goethe-Institut in ein neues Erinnerungsnarrativ eingeschrieben, erhält die Brücke in Edea nun ihre neue Bedeutung als deutsch-kamerunisches Freundschaftssymbol. Die Opfer, die der Bau der Brücke damals forderte, treten in den Hintergrund zugunsten eines interkulturellen Dialogs. In diesem Sinne wurden an der Brücke acht auf Säulen stehende Figuren errichtet. Sie stammen von dem renommierten Kameruner Künstler Pascale Marthine Tayou. Die Kombination von historischem Bauwerk und künstlerischer Arbeit interpretierten die Organisatoren des Projekts "Kulturbrücke" folgendermaßen: "Diese künstlerischen Aktivitäten sollen weitere kreative Dialogformen und ‚Brücken‘ schaffen zwischen den vielfältigen und reichen Kulturen des Landes und ihrem jeweiligen Kulturerbe, zwischen den Sprachen und Literaturen Kameruns und Deutschlands, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsentwurf."
Ein – auf deutscher Seite – nach wie vor relevanter Aspekt postkolonialer Erinnerungskultur ist das, was man die "Ahnenforschung" nennen könnte. Sie will die Spuren jener Deutschen erkunden, die während der "Erschließung" Kameruns ihr Leben gelassen haben. Es waren Soldaten oder Zivilisten, die im Dienste der "Schutztruppe" oder der Kolonialverwaltung standen. Mit der Spurensuche verbunden ist die Restaurierung von deutschen Friedhöfen. Im November 2012 veröffentlichte die deutsche Botschaft in Kamerun eine Liste von insgesamt 254 gefallenen Deutschen, deren Gräber sich im Land befinden.
Wie sieht es mit der Erinnerungskultur aufseiten der Kameruner aus? Mit dem Leuchtturm in Kribi – 1906 zu einer Zeit errichtet, als sich die Stadt zum Hauptausfuhrhafen von Kautschuk und Elfenbein entwickelte – ist heute für die Batanga (Banaho, Bapuku, Nyassa) die Geschichte der "Deportation" verbunden. Involviert waren vor allem die Banoho und die Bapuku, die im Ersten Weltkrieg durch die deutschen Truppen viele Opfer zu beklagen hatten. Kurz zuvor hatten die Spannungen zwischen deutscher Kolonialmacht und verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Kamerun ihren Höhepunkt erreicht. Einige lokale Herrscher wurden in der Folge von den Deutschen verhaftet und bei Ausbruch des Krieges hingerichtet.
Literarischer Erinnerungstopos
Die deutsch-kamerunische Erinnerungskultur wird jedoch nicht nur von den topografischen Orten geformt, auch mentale Orte, die eher fiktional oder diskursiv sind, nehmen Einfluss, konkret: die Literatur und Rückgabeforderungen von Kunst- und Kulturgütern.
In der nachkolonialen Zeit entwickelte sich die Literatur zu einem wichtigen Bestandteil der Erinnerung an die "geteilte" Geschichte Kameruns und Deutschlands. Im Folgenden soll besonders auf die Figurenkonstellation als Ankerpunkt der Erinnerungsarbeit in der kamerunischen postkolonialen Literatur eingegangen werden. Für die Literaturwissenschaftler Matías Martínez und Michael Scheffel sind die Figuren Bewohner einer fiktiven Welt, die Autoren in ihren fiktionalen Erzählungen kreieren. Diese Figuren sind von Personen der realen Welt zu unterscheiden, ähneln ihnen aber zugleich, da auch sie Herkunft, Merkmale, sozialen Stand, Geschlecht und dergleichen besitzen. Diese Eigenschaften haben einen tief greifenden Einfluss auf die Handlung in den Werken.
Viele der literarischen Figuren sind samt Namen und Eigenschaften der Geschichte entnommen, anderen werden fiktive Namen gegeben, aufgrund ihrer Rolle jedoch bleiben sie erkennbar. Dies gilt zum Beispiel für den Kolonialoffizier Hans Dominik in dem Roman "Der weiße Zauberer von Zangali" von René Philombe, einem bekannten Kameruner Schriftsteller. Dieser erscheint dort als "Mayor Dzomnigi". Dominik war seinerzeit berüchtigt für seine brutalen "Befriedungsfeldzüge", und bis heute assoziieren viele Kameruner mit dessen brutalem Regime eine Epoche reiner Terrorherrschaft. Philombe schreibt, dass "Major Dzomnigi" ein Mann war, "dessen Name allein schon Alpträume auslöst".
In den Theaterstücken "Ach Kamerun! Unsere alte deutsche Kolonie" von Alexandre Kum’a Ndumbe III. von 1970 und "Ngum a Jemea ou la foi inébranlable de Rudolf Dualla Manga Bell" von David Mbanga Eyombwan aus dem Jahr 2007 sind alle Charaktere der deutsch-kamerunischen Geschichte entnommen. Auf kamerunischer Seite sind dies historische Persönlichkeiten, die den Deutsch-Duala-Vertrag von 1884 verhandelten und unterschrieben, wie King Bell und King Akwa, aber auch Figuren, die später der deutschen Kolonialmacht die Stirn boten und heute im Land als Identifikationsfiguren gefeiert werden, allen voran Dualla Manga Bell, Ngoso Din und Madola. Auf deutscher Seite finden sich Charaktere, die Kamerun eroberten und den deutschen Handel mit Feuer und Schwert erschließen wollten und nun als Täter literarisch verarbeitet werden. Kameruner und Deutsche werden zunächst in einer klaren Opfer-Täter-Dichotomie zueinander in Beziehung gesetzt, um die Realitäten der deutschen Kolonialherrschaft zum Ausdruck zu bringen, dann aber werden die Grenzen zwischen beiden Seiten mehrfach durchlässig, und Deutsche treten als Befürworter der Kolonisierten und Kolonisierte als Kollaborateure der Kolonialmacht auf.
Eine weitere Erblast der deutschen Kolonisation sind die entwendeten Kunst- und Kulturgüter aus Kamerun, die heute Gegenstand juristischer und politischer Rückgabeforderungen sind. Die bekanntesten Fälle sind der Tangué von Lock Priso aus Douala und der Thron des König Njoya aus Foumban, die sich in deutschen Museen befinden. Alexandre Kum’a Ndumbe III., Enkel von Lock Priso, fordert den Tangué, den er als koloniales Raubgut betrachtet, seit Jahren von Deutschland beziehungsweise vom Bundesland Bayern zurück, bisher ohne Erfolg. Derweil moniert er, dass die Deutschen zwar ein Gebäckstück Namens "Kameruner" kennen, aber nur wenige um die koloniale Vergangenheit der Deutschen in diesem Lande wissen.
Schluss
Die deutsch-kamerunische Geschichte, die vor 140 Jahren begann, hat Brüche erfahren. Den Anfang markiert eine Kolonialgeschichte, der der Erste Weltkrieg ein Ende setzte, die aber in der Erinnerungskultur fortlebt und auf unterschiedliche Weise wachgehalten und kritisch reflektiert wird. Dazu gehören Aneignungs- wie Umdeutungsversuche auf beiden Seiten. Auf kamerunischer Seite stellt sich die Erinnerungsarbeit manchmal überaus ambivalent dar. So stoßen etwa einige Kolonialbauten aus der deutschen Kolonialzeit auf Bewunderung,
Dieser Text erschien erstmals in: Marianne Bechhaus-Gerst/Joachim Zeller (Hrsg.), Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit, Berlin 2018.