Am 28. Juni 1919 unterzeichnete Deutschland den Versailler Friedensvertrag und erklärte dadurch wider Willen den Verzicht auf sein überseeisches Kolonialreich. Militärisch hatte Deutschland die Kolonien bereits während des Ersten Weltkrieges an die Alliierten verloren. Der Friedensvertrag schrieb die Abtretung der Kolonien völkerrechtsgültig fest und begründete dies ethisch mit "Deutschlands Versagen auf dem Gebiete der kolonialen Zivilisation".
Das Ende der deutschen Kolonialverwaltungen rief auf den Pariser Friedenskonferenzen, in Deutschland sowie in den ehemaligen Kolonien gegensätzliche Reaktionen hervor. Durch deren Analyse lassen sich global geführte Debatten über Kolonialismus rekonstruieren, die gleichzeitig die Anfänge der heterogenen Erinnerungen an das deutsche Kolonialreich widerspiegeln. In der europäischen Debatte wurden Stimmen aus den Kolonien instrumentalisiert, um die eigenen Narrative zu untermauern. Eliten in den ehemaligen Kolonien wiederum verwendeten Erinnerungen an die deutsche Kolonialzeit, um die neuen Mandatsverwaltungen zu kritisieren. So produzierten viele Akteure – als Strategie in ihrem jeweiligen Kontext – Erinnerungen an die Zeit des deutschen Kolonialreichs, die teilweise bis heute prägend sind.
In der deutschen Geschichtsschreibung wurden Reaktionen auf das Ende des Kolonialreichs meist als nationale Debatten und Fantasien untersucht.
Im Folgenden werde ich die Reaktionen auf das Ende des deutschen Kolonialreichs aus den Perspektiven verschiedener Akteure beleuchten, die sich in Deutschland, in den Gebieten der ehemaligen deutschen Kolonien sowie auf der internationalen Ebene damit auseinandersetzten.
Mandatsystem des Völkerbunds
Das Ende des deutschen Kolonialreichs bedeutete zunächst kein Ende der Fremdherrschaft auf den Gebieten der ehemaligen deutschen Kolonien. Zwar hatte der damalige US-Präsident, Woodrow Wilson, in einer vielbeachteten Rede im Januar 1918 das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" als Voraussetzung für eine dauerhafte Weltfriedensordnung gesetzt und damit das Recht, Gebiete zu kolonisieren, grundsätzlich infrage gestellt. Künftig bezogen sich politische Vertreter*innen auf der ganzen Welt auf dieses Selbstbestimmungsrecht.
Weimar zwischen internationaler Rehabilitierung und Kolonialrevisionismus
Die kolonialen Bestimmungen des Versailler Vertrags riefen in Deutschland große Entrüstung hervor. Besonders schwer wog für viele der Vorwurf, Deutschland habe "auf dem Gebiete der kolonialen Zivilisation" versagt,
Die Rückgewinnung der Kolonien war in der Weimarer Republik als Teil der Revisionsbestrebungen offizielle Regierungspolitik und institutionell verankert: zunächst in der Kolonial-Zentralabteilung im Reichsministerium für Wiederaufbau und ab 1924 wieder als kolonialpolitische Abteilung im Auswärtigen Amt. Beide beschäftigten Beamte des früheren Reichskolonialamtes und sorgten so für eine personelle Kontinuität der deutschen Kolonialpolitik. Die kolonialpolitische Abteilung unterhielt enge Beziehungen zu den kolonialen Vereinigungen und Unternehmen und förderte deren kolonialrevisionistische Propaganda, insbesondere unter Gustav Stresemann als Außenminister.
Im Unterschied zu radikalen Revisionist*innen zielte Stresemann außenpolitisch nicht auf die Rückgabe der ehemaligen Kolonien, sondern auf eine Beteiligung am Mandatsystem. Sein übergeordnetes Ziel war die internationale Rehabilitierung Deutschlands in der westlichen Staatengemeinschaft. Der Wiedereintritt in den Kreis der Imperialmächte war dabei ein Baustein. Etappenziele dieser Strategie waren Deutschlands Eintritt in den Völkerbund 1926 und die Entsendung eines deutschen Vertreters in die Mandatskommission des Völkerbunds 1927 – in jene Kommission, die die Mandatsverwaltungen beaufsichtigen sollte. Über den Verhandlungsweg erreichte Stresemann Mitte der 1920er Jahre weitere Schritte auf dem Weg zu mehr Einfluss in den ehemaligen Kolonien: Anlege- und Niederlassungsrechte für deutsche Unternehmen und Staatsbürger*innen ermöglichten etwa, dass deutsche Unternehmen und Siedler*innen in alle Mandatsgebiete zurückkehren konnten.
Kolonialrevisionismus in Zivilgesellschaft und Populärkultur
Kolonialismus spielte sich nicht nur in "Übersee" ab, sondern bezeichnet auch eine wirkmächtige Denkstruktur der Ungleichheit, die Menschen in dichotome Kategorien einteilt und hierarchisiert, wobei den Kolonisator*innen stets die höherwertige Position zugeordnet wird.
Die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) war nach wie vor der mitgliederstärkste Verein der sogenannten Kolonialbewegung und betrieb intensiv Propaganda, um den Gedanken aufrechtzuerhalten, dass Deutschland ein Recht auf Kolonien habe. Die DKG organisierte deutschlandweit öffentliche Vorträge, Lichtbildvorführungen, Kolonialkundgebungen, -tagungen und -ausstellungen und gab Zeitschriften heraus. Auf ihr Betreiben wurden in mehreren Städten Kolonialdenkmäler errichtet. Zudem verbreiteten ehemalige Kolonialbeamte, Plantagenmanager und -offiziere durch die Veröffentlichung von Kriegsmemoiren, Reiseerzählungen und Abenteuerromanen die Idee eines rechtmäßigen deutschen Anspruchs auf Kolonien.
In diesen Erzählungen kristallisierten sich Narrative heraus, die Deutschlands koloniale Vergangenheit rehabilitieren und die "koloniale Schuldlüge" widerlegen sollten. Eine zentrale Figur wurde der "treue Askari". "Askari" war die Bezeichnung für Kolonialsoldaten in Deutsch-Ostafrika, die nach 1919 aber allgemein für alle Schwarzen
Revisionistische Forderungen und Narrative hielten Einzug in die Populärkultur und prägten Weltvorstellungen. Völkerschauen und exotisierte Unterhaltungsshows fanden ab Mitte der 1920er Jahre wieder regelmäßig statt. Manche erhielten finanzielle Unterstützung aus dem Propagandafonds der Kolonialabteilung. Neue Medien, wie die Kolonialfilme, vermochten ein noch größeres Publikum zu erreichen. Zwei Genres prägten die Weimarer Zeit: Filme mit dokumentarischem Charakter, die an Produktionen von vor dem Krieg anschlossen, und der sich neu entwickelnde koloniale Spielfilm. Beide inszenierten Räume im globalen Süden als "unzivilisiert", "wild" und "barbarisch" und prägten exotistische, klischeebeladene Bilder von Afrika und Asien. Insbesondere die Spielfilme spielten mit der Spannung und Ambivalenz von "Eigenem" und "Anderem".
Kolonialkritische Stimmen
Revisionistische Forderungen und exotisierte Populärkultur blieben in der Weimarer Republik aber nicht unwidersprochen. Schwarze Aktivist*innen, Pazifist*innen und Kommunist*innen wandten sich öffentlich gegen einen Wiedererwerb der Kolonien.Ihre Aktivitäten und Forderungen standen im Zusammenhang mit ihrer transnationalen Vernetzung mit panafrikanischen Akteuren sowie antiimperialistischen Befreiungskämpfen und bezogen sich auf die in Woodrow Wilsons 14 Punkten artikulierte Forderung nach einem "Selbstbestimmungsrecht der Völker".
Die zahlreichen Migrant*innen aus den Kolonien und ihre Nachkommen intensivierten in dieser Situation ihre Vernetzung. Einige gründeten Vereine wie den "Afrikanischen Hilfsverein" und die deutsche Sektion der "Liga zur Verteidigung der N*rasse". Die Mitglieder standen in regelmäßigem Austausch mit ihren Herkunftsregionen und sahen sich als deren Sprachrohr in Deutschland.
Enttäuscht von der halbherzigen Umsetzung von Wilsons 14 Punkten im Völkerbund, vernetzten sich antikoloniale Bewegungen verstärkt untereinander und wandten sich der Kommunistischen Internationalen (Komintern) zu.
Dennoch erlangte die Kolonialbewegung einen weitaus größeren politischen und medialen Einfluss als die kolonialkritischen Vereinigungen, denn viele ihrer Mitglieder waren ehemalige Kolonialbeamte oder Unternehmer und verfügten über entsprechendes Ansehen und Netzwerke.
Reaktionen in den ehemaligen Kolonien
Auch die Menschen in den ehemaligen deutschen Kolonien verfolgten die Versailler Friedensverhandlungen. Die Debatte um das Recht auf Selbstbestimmung bestärkte insbesondere die antikolonialen Positionen der urbanen Eliten. Jedoch wurde die Hoffnung enttäuscht, mit der Vertreibung der Deutschen das Land von der Fremdherrschaft befreit zu haben. In der Folge forderten viele politische Autoritäten Einfluss auf die Wahl der künftigen Mandatsverwaltung.
Die Duala-Eliten aus Kamerun sandten sicher den umfangreichsten Forderungskatalog an die Pariser Friedenskonferenzen.
Die Reaktionen auf das Ende der deutschen Kolonialherrschaft und die Einführung des Mandatsystems sind aber vielschichtiger, als es die politische Debatte vermuten lässt. Durch das Mandatsystem und den Kolonialrevisionismus verkomplizierten sich die Situationen vor Ort. Am Fall Kamerun lassen sich insbesondere die Folgen der Vervielfältigung von Akteuren gut beobachten.
Der Fall Kamerun
Im Februar 1916 besiegten die Alliierten endgültig die deutschen Truppen in Kamerun. Die Reaktionen der kamerunischen Bevölkerung auf das nun offensichtliche Ende der formalen deutschen Kolonialherrschaft fielen je nach Region und sozialer Position unterschiedlich aus und haben teilweise erinnerungspolitische Folgen, die bis in die Gegenwart reichen und die Beziehungen zu den ehemaligen Imperialstaaten prägen.
Viele Regionen, Städte und Dörfer, die zuvor unter der kolonialen Gewalt und der willkürlichen Rekrutierung von Zwangsarbeiter*innen gelitten hatten, waren erleichtert und feierten Großbritannien und Frankreich als Befreier. Andere, die von der deutschen Kolonialverwaltung profitiert hatten, hofften auf die Rückkehr derselben. Einige wiederum demonstrierten strategisch Loyalität zur deutschen Kolonialverwaltung, um Distanz zu den neuen Verwaltern auszudrücken.
Die Hafenstadt Duala war bereits im September 1914 an Großbritannien gefallen, ab 1916 verwaltete eine britisch-französische Militärverwaltung kommissarisch die ehemalige Kolonie. Als klar wurde, dass die "Befreier" nicht vorhatten, der Kolonie die Unabhängigkeit zu gewähren, sondern sich selbst als Verwalter einrichteten, versuchten die politischen Autoritäten in Kamerun, ihren verbleibenden Handlungsspielraum maximal zu nutzen. Viele erachteten eine britische Verwaltung als das kleinere Übel, weil sie die Verwaltungspraktiken in den benachbarten britischen und französischen Kolonien verglichen. Als sich London und Paris Ende März 1916 über die territoriale Aufteilung einigten, versuchten einige politische Autoritäten ihre Zuteilung zum französischen Gebiet abzuwenden. König Njoya etwa, ein einflussreicher Regent aus dem Grasland, der unter der deutschen Verwaltung seine Macht vergrößert hatte, adressierte direkt den britischen König mit dem Wunsch, sein Reich unter britisches Protektorat zu stellen.
Es gab aber auch Gruppen und Personen, die eine erfolgreiche Revanche und Rückkehr der Deutschen erhofften oder für wahrscheinlich hielten und deshalb im Krieg nicht die Seiten gewechselt hatten. Diese verband eine strategische Allianz mit der deutschen Kolonialverwaltung, denn sie hatten mit ihr kooperiert, waren zum Teil als Soldaten Teil des Kolonialsystems geworden und hatten von diesem profitiert. Sie flohen im Februar 1916 mit den verbleibenden Teilen der deutschen Truppen nach Spanisch-Guinea auf die Insel Fernando Po, um von dort gemeinsam mit den Weißen deutschen Offizieren die Rückeroberung abzuwarten. Diese etwa 20.000 Schwarzen deutschen Kolonialsoldaten und Zivilist*innen, darunter Angehörige der Soldaten und viele Ewondo unter dem Oberhaupt Karl Atangana,
Deutsche Plantagenunternehmen ersteigerten 1924 auf einer britischen Auktion mit finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amtes nahezu alle früheren deutschen Plantagen, die sich zwischen Kamerunberg und Küste befanden. Bereits im September zählte die deutsche Community etwa hundert Personen und überstieg damit die britische, die im gesamten Mandatsgebiet nur aus einem Dutzend Verwaltern und einigen Unternehmern bestand. Damit befanden sich im Land Vertreter*innen der drei größten europäischen Imperialstaaten, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, die die Bevölkerung in beiden Mandatsgebieten fortan miteinander verglich, kritisierte und gegeneinander ausspielte.
In beiden Mandatsgebieten wurden die neuen Verwaltungen für die ökonomisch schwierige Nachkriegssituation verantwortlich gemacht. Die Zeit der deutschen Kolonialverwaltung schien daher in der Rückschau eine Zeit der wirtschaftlichen Blüte. Dieses Bild der ökonomisch erfolgreicheren Kolonialmacht bestätigten die deutschen Plantagenunternehmen ab 1925 unfreiwillig. Der Völkerbund hatte für die Mandatsgebiete ein partielles Zwangsarbeitsverbot erlassen, das jedoch nur für Privatunternehmen galt.
Gleichwohl wandten die deutschen Plantagenmanager weiterhin physische und ökonomische Gewalt gegenüber den Arbeiter*innen an. Dagegen leisteten viele Arbeiter*innen und Angestellte Widerstand, indem sie die Interessenunterschiede zwischen britischer Verwaltung und deutschen Plantagenmanagern ausnutzten. Sie bedienten sich des offiziellen Beschwerdesystems bei den britischen District Officers, um sich über die deutschen Manager zu beschweren und konnten dadurch nicht nur in vielen Fällen ihre Arbeitssituation verbessern, sondern verunsicherten die Macht der Weißen Plantagenmanager und die rassistisch begründeten Hierarchien auf den Plantagen.
Kontinuitäten und vielschichtige Erinnerungen
Das Ende des deutschen Kolonialreichs und die damit einhergehenden völkerrechtlichen Veränderungen waren ein Katalysator für grundsätzliche Debatten über die Legitimität von Kolonialismus. Wilsons 14 Punkte hatten antikolonialen und emanzipatorischen Stimmen einen international anerkannten Diskursraum eröffnet. In Deutschland hingegen, aber auch in den ehemaligen Kolonien, versuchten ehemalige Kolonialbeamte, Siedler*innen, deren vormalige Schwarze Angestellte sowie Schwarze Kolonialsoldaten koloniale Strukturen zu reaktivieren, die ihren sozialen Status sichern sollten. Im Völkerbund setzten sich statt antikolonialen Ideen reformistische durch: Internationale Normen sollten Kolonialismus regeln und verbessern. Als Mitglied des Völkerbunds eröffneten sich für Deutschland Möglichkeiten, sich über wirtschaftliche Rechte und über die Mandatskommission weiterhin am europäischen Kolonialismus zu beteiligen.
Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war zugleich eine Zeit, in der wirkmächtige Erinnerungsstränge über das deutsche Kolonialreich angelegt wurden – sowohl in Europa als auch in den ehemaligen Kolonien. Die Analyse der zeitgenössischen Debatten zeigt aber auch, wie asymmetrisch diese strukturiert waren. Derzeit wird, ausgelöst durch Restitutionsdebatten um koloniale Raubkunst und menschliche Überreste in deutschen Sammlungen, endlich in der breiten Öffentlichkeit über die deutsche Kolonialgeschichte debattiert, begleitet von zaghaften Dialogversuchen mit Wissenschaftler*innen und Museumsexpert*innen aus Afrika.