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Ländliche Politik im demographischen Wandel | Kommunen im Wandel | bpb.de

Kommunen im Wandel Editorial Demographischer Wandel und Kommunalpolitik Kommunen im demographischen Wandel Gesundschrumpfen oder Ausbluten? Ländliche Politik im demographischen Wandel Interkommunale Kooperation oder Wettbewerb?

Ländliche Politik im demographischen Wandel

Stephan Beetz

/ 16 Minuten zu lesen

Der ländliche Raum weist mehrere strukturelle Merkmale auf, die den Umgang mit dem demographischen Wandel erschweren. Politischer Rückzug aus besonders gefährdeten, peripheren ländlichen Räumen ist jedoch ein Fehler.

Einleitung

Der demographische Wandel stellt die Kommunen vor die Herausforderung, in sehr kurzer Zeit Lösungen zu finden, gleichzeitig aber langfristige Perspektiven einnehmen und komplexe Verhältnisse eines sehr viel weitreichenderen gesellschaftlichen Umbruchs berücksichtigen zu müssen.

Gemeindepolitik hat als Grundform der lokalen Selbstorganisation eine Doppelfunktion: die Sicherung der Grundversorgung und die lokale Selbstverwaltung. Die bereits seit 40 Jahren diskutiertenFolgen sinkender Kinderzahlen und steigender Lebenserwartung wurden bislang durch starke Außen- und (in vielen westdeutschen Gemeinden) Binnenzuwanderungen überdeckt. Die enorme Dramatik dieser Entwicklung offenbart sich jedoch in den ostdeutschen Gemeinden, die in der Mehrzahl von zurückgehenden Geburtenzahlen und Abwanderungsverlusten betroffen sind.

In der öffentlichen Diskussion gelten ländliche Räume als durch den demographischen Wandel besonders gefährdet. Infolge der geringen und geringer werdenden Bevölkerungsdichte wird die Aufrechterhaltung einer reibungslos funktionierenden Infrastruktur immer schwieriger; neue Handlungsansätze sind gefragt. Grundsätzlich lassen sich drei Herausforderungen unterscheiden: Erstens besteht die Notwendigkeit, neue Lösungen zur Vorhaltung von kommunalen Infrastrukturleistungen zu entwickeln. Zweitens müssen Wege der politischen Steuerung gefunden werden, um Veränderungen nachhaltig anzulegen. Drittens bedürfen die demographischen Entwicklungen des öffentlichen Diskurses, der die Zukunftsfähigkeit des Gemeinwesens und der regionalen Strukturen behandelt.

Ländlicher Raum als politisches Handlungsfeld

So einprägsam die mentalen, häufig reproduzierten und wiederentdeckten Bilder von weidenden Kühen, baumbestandenen Alleen oder Rentnern auf Gartenbänken vor riedgedeckten Häusern auch sind, zeigen sie doch nur einen kleinen Ausschnitt der Lebenswirklichkeit ländlicher Räume. Auf den ersten Blick einleuchtend, ist es auf den zweiten ausgesprochen schwierig, den ländlichen Raum zu definieren. Regionalpolitisch wurde er überwiegend als "Restgebiet" abseits der Zentren oder als vorherrschend agrarisches Gebiet behandelt. Er galt als Raum mit geringer Besiedlungsdichte, in unwegsamen Lagen und außerhalb des großstädtischen Einflussbereiches. Hinsichtlich der Erwerbsstruktur und der Landnutzung wird zumeist die Land- und Forstwirtschaft als prägend angesehen, auch wenn deren Bedeutung stark zurückgeht, weil neue Wirtschaftssektoren an ihre Stelle getreten sind. Zudem erfährt die traditionelle landwirtschaftliche Landnutzung einen Funktionswandel in Richtung Erholung, Tourismus und Naturschutz. Des Weiteren wird - auch in einer umfassend modernisierten Gesellschaft - das Land oder das Dorf als spezifische Form der Vergesellschaftung mit eigenen Kulturen, Lebensformen und sozialstrukturellen Merkmalen angesehen. Im ländlichen Raum lebt man zwar nicht essentiell anders - Menschen und Lebensweisen sind eingebunden in überregionale und globale Entwicklungen -, aber doch in spezifischer Weise. Von dem ländlichen Raum zu schreiben, ist ohnehin nicht möglich, weil es sowohl unterschiedliche ländliche Regionen als auch vielfältige Zwischenformen von Land und Stadt gibt.

Demographisch galten ländliche Räume seit dem 19. Jahrhundert als geburtenstarke "Quellgebiete" einer in die Städte abwandernden Bevölkerung. Dies hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vollständig verändert: In ländlichen - insbesondere den geburtenstärksten - Regionen sind die Kinderzahlen seit den sechziger Jahren deutlich gesunken. In den westdeutschen ländlichen Regionen liegen die Fertilitätsraten zwar deutlich über jenen der Großstädte, aber am höchsten sind sie in den suburbanen, nicht in den ausgesprochen ländlichen Gebieten. Anders in Ostdeutschland - hier sind die Fertilitätsraten in den verdichteten Gebieten sogar leicht erhöht, während sie in einigen ländlichen Gebieten ausgesprochen niedrig liegen. Nach langen Phasen der Abwanderung verzeichnen viele westdeutsche ländliche Gebiete seit den siebziger Jahren beträchtliche Wanderungsgewinne - nicht nur in den suburbanen, auch in entlegenen Regionen. Zwar hat sich die Vorstellung von sozialen Krisen, Landflucht und kultureller Rückständigkeit tief in die öffentlichen Debatten eingegraben, aber ländliche Räume sind keineswegs nur Problemgebiete. Sie profitieren nicht so sehr von den Außenwanderungen, wie von den Binnenwanderungen. In Zahlen ausgedrückt lag zwischen 1991 und 1999 das Bevölkerungswachstum der westdeutschen ländlichen Kreise in Agglomerations- bzw. Ballungsräumen bei 10,2 Prozent, in verstädterten Räumen bei 8 Prozent und in ländlichen Räumen bei 6,5 Prozent (bei einem westdeutschen Durchschnitt von 5 Prozent). Anders sieht die Situation in vielen ostdeutschen ländlichen Gemeinden aus, die in den siebziger/achtziger Jahren weiterhin 10 bis 20 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Zwischen 1991 und 1999 gewannen die ostdeutschen ländlichen Kreise in Agglomerationsräumen als einziger Kreistyp 4,5 Prozent, in verstädterten Räumen verloren sie "nur" 2,5 Prozent; dagegen sank die Bevölkerung in den ländlichen Räumen um 5,8 Prozent (bei einem ostdeutschen Durchschnitt von -4,2 Prozent). Der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung ist in den neunziger Jahren in westdeutschen ländlichen Gebieten langsamer gewachsen, in ostdeutschen deutlich schneller als in anderen Siedlungskategorien, allerdings ausgehend von einem niedrigeren Bevölkerungsanteil älterer Menschen. In Zukunft wird sich dieser Unterschied wahrscheinlich noch vergrößern. Nach der Bevölkerungsprognose des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung aus dem Jahre 2004 reduziert sich die Bevölkerung in den ostdeutschen ländlichen Räumen um 11 Prozent, in suburbanen ländlichen Gebieten steigt sie dagegen um 19 Prozent. In Westdeutschland fällt diese Diskrepanz mit 2 Prozent und 7 Prozent wesentlich niedriger aus. Die Alterungsprozesse werden alle ländlichen Regionen treffen, auch diejenigen mit Bevölkerungswachstum. Die Altersgruppe der 16- bis 25-Jährigen wird in den ostdeutschen ländlichen Räumen am stärksten, um 45 Prozent abnehmen, die der über 75-Jährigen um 77 Prozent zunehmen.

In einigen ländlich-peripheren Gebieten gibt es neben ökonomischen gravierende demographische Probleme, die sich in absehbarer Zeit verschärfen werden. Diese Räume liegen überwiegend in Ostdeutschland und in einigen (ehemaligen) westdeutschen Grenzregionen. In diesen Gebieten wird die Bevölkerung stärker als in anderen Regionen schrumpfen und sich strukturell verändern, nämlich altern. Eine geringe Anbindung an Räume mit Wachstumsimpulsen ist für die betroffenen Regionen kennzeichnend - sei es geografisch, kulturell oder ökonomisch. Die Entwicklungen verlaufen nicht homogen; Wachstum und Schrumpfung liegen beieinander, zu gesamtregionalen Anpassungsanforderungen kommen lokale hinzu. Sowohl mit dem Überangebot als auch dem Fehlbedarf muss planend umgegangen werden. Dass entgegen landläufigen Vorstellungen vom demographischen Wandel oftmals nicht Dörfer, sondern Industrieorte - Klein- und Mittelstädte - besonders betroffen sind, macht es keineswegs leichter. Während größere Städte perspektivisch bei enormen Schrumpfungen eine adäquate Infrastruktur vorhalten können, wird dies in der Fläche schwieriger. Hinzu kommt, dass überwiegend junge Menschen und in den neunziger Jahren insbesondere Frauen diese Regionen verlassen (haben). Die Abwanderung von Frauen ist zwar rückläufig, aber die selektiven Wanderungen haben eine Veränderung der Sozialstruktur zur Folge. Die Ursachen liegen nicht in erster Linie in den Spezifika ländlicher Räume, doch entfaltet die ostdeutsche Transformation in peripheren Regionen eine besondere Dramatik. Während die Kategorie "ländlich" in Deutschland kein generelles (demographisches) Problemfeld beschreibt, weisen einige ländliche Räume deutliche Peripherisierungs-, Schrumpfungs- und Alterungsprozesse auf. Sie können immer weniger mit den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen bzw. dem geforderten Strukturwandel Schritt halten und erleiden einen ökonomischen und zunehmend politischen Funktionsverlust. Die dort lebenden Menschen haben das Gefühl, in Vergessenheit zu geraten, keine politische Aufmerksamkeit zu erfahren: abgeschrieben zu sein.

Weil die demographische Entwicklung hier vordergründig keine Handlungsfelder mehr aufzeigt, ist in den vergangenen Jahren zunehmend der politische Wille - etwa im Land Brandenburg - abhanden gekommen, ländlich-periphere Gebiete wirtschaftlich und infrastrukturell zu fördern. Dabei wird übersehen oder unterschlagen, dass - selbst bei ungebrochener ökonomischer und demographischer Schrumpfung - in absehbarer Zukunft keine "Entleerung" dieser Räume einsetzen wird. Deshalb bedarf es einer möglichst unvoreingenommenen Analyse, wie der nicht immer sichtbare und widersprüchliche Strukturwandel koordiniert und unterstützt werden kann, sowohl durch die Erhaltung als auch die Umgestaltung kommunaler Handlungsfelder.

Handlungsfelder der kommunalen Grundversorgung

Den deutschen Kommunen obliegt ein breites Aufgabenspektrum bei der Grundversorgung (Sozialpolitik, Infrastrukturentwicklung, Bildungs- und Kulturpolitik) der Menschen. Hinzu kommen staatlich, körperschaftlich oder marktwirtschaftlich erbrachte Aufgaben, die sie unmittelbar betreffen (Verkehrsplanung, medizinische Versorgung, Einzelhandel). Ländliche Räume weisen infolge staatlicher Ausgleichspolitik eine gut entwickelte Infrastruktur auf; hinsichtlich der Grundversorgung lassen sich - bei lokalen Besonderheiten - kaum eklatante Unterschiede zu verstädterten Räumen feststellen. Die Erhaltung einer angemessenen ländlichen Grundversorgung ist bestimmendes Ziel des kommunalen Strukturwandels, weil einmal aufgegebene Standards schwer wiederzuerlangen sind. Der erreichte Ausstattungsgrad erweist sich allerdings als schwere Hypothek, wenn zurückgehende staatliche Förderungen, hohe Folgekosten, überdimensionierte Angebotsstrukturen und Schrumpfungsprozesse zusammenfallen.

Der Handlungsdruck, der auf den ländlichen Kommunen lastet, wirkt auf mindestens drei Ebenen: Er liegt in der Veränderung kommunaler Aufgabenfelder, wozu insbesondere die Ausschreibungspflicht nach EU-Wettbewerbsrecht, die Gewinnerwartung der Kommunalbetriebe und der Privatisierungsdruck zählen. In vielen Bereichen verändern sich zudem sektorale Rahmenbedingungen wie die Schul- und die Sozialgesetzgebung. Der demographische Wandel verstärkt nun den Problemdruck, denn er macht weitere Anpassungs- bzw. Veränderungsleistungen erforderlich (z.B. durch die Zunahme des Anteils Älterer an der Bevölkerung), verschärft die Diskussion um eine Abgrenzung der kommunalen Aufgabenbereiche (z.B. um den ÖPNV) und schränkt die notwendigen Ressourcen ein (z.B. sinkende Pro-Kopf-Zuweisungen bei Bevölkerungsrückgang). Ländliche Kommunen in peripheren Regionen geraten unter diesen Bedingungen schnell in eine Blockade ihrer Handlungsfähigkeit. Erschwerend kommt hinzu, dass die Besonderheiten des ländlichen Raums bei der Entwicklung nationaler bzw. supranationaler, teilweise globalisierter Dienstleistungsangebote und Regulierungsverfahren nur marginal wahrgenommen und lokale endogene Potenziale teilweise geschwächt werden. Die Kommunen stehen hinsichtlich der Aufgabenvielfalt vor dem grundlegenden Dilemma, einerseits eine Gewährleistungspflicht zu haben, denn die Probleme hängen auf lokaler und regionaler Ebene unweigerlich zusammen, sich aber andererseits in unterschiedlichen fachlichen, organisatorischen und institutionellen Zuständigkeiten zu befinden und damit andere Rahmenbedingungen und nur eingeschränkte fiskalische Spielräume zu haben. Kommunale Sozialpolitik ist großenteils durch gesetzmäßig vorgeschriebene Pflichtaufgaben bestimmt, das heißt, mit restriktiveren Finanzbudgets und ansteigendem Sozialleistungsbedarf nehmen Handlungsspielräume ab. Doch sollten Weichenstellungen kommunaler Akteure nicht unterschätzt werden: So zielt beispielsweise die Förderung sportiver oder beschäftigungsorientierter Maßnahmen auf die Verringerung sozialer Unterstützungsleistungen und ist damit als präventive Intervention zu bewerten.

Umstritten ist oft der Zentralisierungsgrad von Infrastruktur, denn aus der Logik regional orientierter Planungen und lokaler Einzelinteressen ergeben sich divergierende Positionen. Ideologisch geführte Debatten erweisen sich als wenig hilfreich. Betriebswirtschaftlich führen Konzentrationen zwar meist zu effizienteren Lösungen, aber dabei werden die mit vergrößerten Einzugsbereichen verbundenen Transportkosten und die Optimierung dezentraler Einrichtungen meist unterschätzt und an die Bürger als Belastung weitergereicht. Zentralisierungen führen zur Bündelung von Aktivitäten und zu funktionalen Spezialisierungen, zur Blockierung lokalen Engagements sollten sie aber nicht beitragen. Wenn etwa die Verknüpfung der Aktivitäten von Ganztagsschulen mit der Jugend- und Kulturarbeit in den ländlichen Grundzentren angestrebt wird, ist es ausgesprochen kontraproduktiv, funktionierende Einrichtungen wie einen dörflichen Sportverein durch Konzentration der Jugendarbeit auszubremsen; vielmehr sollte Letzterer dazu bewegt werden, Jugendliche aus Nachbardörfern aufzunehmen. Die Konzentration von Versorgungsleistungen in Medizinischen Zentren erfordert eine Abstimmung mit privaten Investitionen in betreuten Wohnanlagen, die auch in kleinen Dörfern entstehen. Zu beachten ist, dass die Kulturen des zivilgesellschaftlichen und unternehmerischen Engagements regional und lokal differieren. Hinsichtlich der Gewährleistung kommunaler Aufgaben bestehen unterschiedliche Traditionen, wie die Energiegenossenschaften in Baden-Württemberg, die Wassergenossenschaften in Schleswig-Holstein oder einzelne Energiedörfer zeigen. Ausgeprägtes öffentliches Engagement ist in Gebieten mit geringen sozialen und ökonomischen Ressourcen erforderlich und wird weniger in der Fläche wirken.

In Modellvorhaben zur ländlichen Infrastrukturentwicklung sind einige grundlegende Aussagen in Bezug auf Lösungsansätze deutlich geworden: Notwendig sind Kooperationen zwischen einzelnen Sektoren, zwischen grundständiger Daseinsvorsorge und spezifischen Dienstleistungen, zwischen öffentlichen, gemeinnützigen und privaten Trägern, lokalen und überregionalen Angeboten. Viele Lösungen erfordern Multifunktionalität, indem verschiedene Aufgabenbereiche lokal zusammengeführt und von entsprechend qualifiziertem Personal bearbeitet werden, zum Beispiel in Dorfzentren oder Nachbarschaftsläden. Die geringe Nachfragedichte erfordert ein hohes Maß an Abstimmung zwischen den Konzepten: Die Zusammenfassung von wichtigen Aufgaben der Grundversorgung in Schulorten, um dort medizinische Dienste, kulturelle Angebote und Einzelhandelsbetriebe anzusiedeln, erfordert entsprechende Mobilitätssysteme. Wenn stärker polyzentrale oder mobile Versorgungsleistungen (z.B. ärztliche Zweigpraxen, Markttage) angestrebt werden, müssen Zugang, Angebotsbreite und Qualität berücksichtigt werden. Dienstleistungen, die auf Telekommunikation beruhen, können lokale Angebote ergänzen, aber auch in Konkurrenz zu diesen treten. Kostenaspekte spielen zwar für neue Lösungsansätze eine große Rolle, aber bei Berücksichtigung von potenziellen Einsparungen und unterschiedlichen Kostenträgern sind kaum generalisierte Aussagen zu treffen. Die erfreulich hohe Zahl von Modellprojekten der kommunalen und regionalen Infrastrukturentwicklung verlangt inzwischen nach langfristiger und systematischer Evaluierung und entsprechendem Transfer. Die Erfahrung zeigt nämlich, dass es nicht so sehr um einzelne Lösungsvarianten geht, nicht darum, alle Pfade gleichzeitig einzuschlagen. Wichtig ist vielmehr eine Abstimmung auf die regionalen Besonderheiten, die Aktivierung von brachliegenden Potenzialen und die problembezogene Schwerpunktsetzung.

Handlungsfelder mit neuen Optionen

Die Erhaltung und Neustrukturierung kommunaler Aufgabenbereiche sind außerordentlich dringliche Aufgaben. Gleichzeitig entstehen in der Auseinandersetzung mit dem demographischen Wandel neue Handlungsfelder. Kommunen nehmen diesen zum Anlass, ihre Handlungsfelder zu verändern und eine besondere Profilierung im "Wettbewerb" mit anderen Gemeinden zu erreichen. In vielen ländlichen Kommunen finden sich Ansätze, offensiv mit dem demographischen Wandel umzugehen. Familien mit Kindern stellen eine wichtige Zuzugsgruppe in ländliche Räume dar, vor allem wenn sie an Agglomerationsräume angebunden sind. Deshalb werden beispielsweise gezielte Investitionen in Bildung und Kinderbetreuung getätigt. Seit einigen Jahren werden ältere Bewohnergruppen mit dem Verweis auf Ruhe, Lebensqualität, Landschaftsbezug und geringere Lebenshaltungskosten im ländlichen Raum dazu motiviert, sich anzusiedeln. Es wird also auf die gezielte Lebensplanung des dritten und vierten Lebensabschnittes als Thema gesetzt.

Der demographische Wandel verändert auch die Adressaten und Akteure ländlicher Kommunalpolitik. Innerhalb der Bevölkerung und zwischen Dörfern einer Region verlaufen Grenzen zwischen Verlierern und Gewinnern, Spaltungen in relativ stabile und eher randständige Gruppen, von denen Letztere zwar nicht von der Grundversorgung ausgeschlossen sind, aber kaum mehr Entwicklungschancen haben. In der ländlichen Region bleiben tendenziell männliche, ältere und weniger gut ausgebildete Menschen, hinzu kommen vor allem gut ausgebildete Ältere. In nicht wenigen Dörfern leben inzwischen überwiegend Touristen, temporär Zuziehende und solche mit einem Zweitwohnsitz. Darauf muss sich kommunale Politik einstellen, indem sie die Bildungs-, sozialen und weiteren Ressourcen der Zuziehenden nutzt und sich ihren spezifischen Bedürfnissen nach Grundversorgung öffnet: Konflikte um Kindertagesstätten oder Schulen zeigen, wie unterschiedlich die Bedarfe ausfallen können, die aber institutionell bei dünner Besiedlungsdichte nur gering ausdifferenzierbar sind.

Gerade in abgelegenen Orten finden sich "Brachen der Kreativität", denn der Rückzug der Landwirtschaft bei geringen Bodenwerten, die Deindustrialisierung, militärische Konversion und der Bevölkerungsrückgang reizen zu alternativen Nutzungen. Es entstehen neue touristische Landschaften, Reservate der Wildnis, extensive Flächen nachwachsender Rohstoffe, Experimentierfelder neuer Technologien, auch Nischen alternativer Lebensformen. Damit verbunden sind neue Anforderungen an Infrastrukturen, die eine besondere Akzeptanz verlangen, werden sie doch von spezifischen Akteursgruppen oder -netzen getragen, knüpfen an abweichende Wertvorstellungen an und werden oftmals nur schwerfällig in die traditionellen kommunalen Handlungsfelder einbezogen. Wertschöpfung wird nicht nur von ihrer produktiven Seite gesehen, sondern auch im Sinne des Erhaltes kulturellen Erbes, der Lebensqualität und der Bereitstellung kollektiver Güter (z.B. Rekreation).

Der Offenheit für neue Optionen, aber auch den Veränderungen bestehender kommunaler Aufgabenfelder steht vielerorts eine Rhetorik des Verlustes entgegen, wobei gleichzeitig an alten politischen Handlungsstrategien wie der Wirtschafts- und Verkehrsinfrastrukturförderung festgehalten wird. Dadurch geraten politische Anstrengungen in einen negativen Sog: entweder in Richtung von Resignation oder überzogener Hoffnungen. Die politischen Akteure sind stark auf Entwicklungspfade festgelegt, die nicht oder nur in begrenztem Maße begehbar sind. Sicherlich erfordert die Aufrechterhaltung kommunaler Handlungsspielräume eine Öffnung und Stärkung der kommunalen Ebene. Dies setzt wiederum eine Verkopplung von funktionierender Zivilgesellschaft und Expertenwissen (fachliche Expertisen) voraus, um langfristige Beeinträchtigungen der Handlungsfreiheit zu vermeiden (z.B. Fehlinvestitionen, die heutige Lösungen verhindern). Neue Optionen entstehen vor allem dort, wo lokale und überregionale Bindungen als gemeinsames Handlungsfeld betrachtet werden. Dazu sind sowohl Beziehungen nach außen (z.B. die Zusammenarbeit mit Hochschuleinrichtungen, überregionale kommunale Zusammenarbeit) als auch die Förderung lokaler Identität und Kreisläufe erforderlich.

Politische Steuerungsformen

Sich stark wandelnde Handlungsfelder erfordern neue Politikansätze. In der Kommunalpolitik ist gegenwärtig ein Wandel in den Strategien der Steuerung zu konstatieren: Nach dem Wechsel vom traditionellen (lokal ausgerichteten, hierarchischen, erhaltenden) zum technologischen (funktional-sektoralen, auf Wirtschafts- und Siedlungswachstum angelegten) Stil wird nun stärker auf einen kommunikativen (auf regionale Identitäten und Vernetzungen ausgerichteten, integrativen) Stil gesetzt. Galten bislang sektoral organisierte und funktional spezialisierte Verwaltungen sowie Gemeindezusammenlegungen als Zielgrößen ländlicher Gemeinden, so werden zunehmend Partizipation, endogene Initiativgruppen und externe Experten (Berater, Moderatoren, community entrepreneurs) gefordert, um Entwicklungen anzustoßen und zu begleiten. Mit den gängigen Planungskategorien wie Kernstädte, suburbane und periphere Räume wird man den sehr differenzierten räumlichen und sozialstrukturellen Entwicklungen nicht gerecht. Traditionelle Kommunalpolitik ist hier überfordert, sie muss daher Engagement - auch kritisch - unterstützen.

Neue Lösungsansätze erfordern ein hohes Maß an fachlicher Kompetenz sowohl in den kommunalen Verwaltungen als auch bei den lokalen Akteuren. Die politische Entscheidung für innovative Konzepte setzt eine verantwortungsvolle und fachlich abgestimmte Vorgehensweise voraus. In der Umsetzung sind zusätzliche bzw. veränderte Qualifikationen notwendig (z.B. beim jahrgangsübergreifenden Unterricht). Viele ländliche, insbesondere periphere Kommunen sehen sich deshalb aufgrund geringer Personaldecke, hoher fiskalischer Belastungen und fehlendem überregionalen Austausch überfordert, innovative Lösungsansätze zu wählen und umzusetzen. Viele Lösungen laufen nur auf eine Abwägung partikularer Interessen in den Kommunen hinaus und erweisen sich dadurch als suboptimal. Insbesondere in ländlichen Kommunen führt die Umsetzung des Gemeinwohls häufig zu Monopolstellungen und Querfinanzierungen, weil die Akteure eng miteinander verflochten sind und nur ein Anbieter auf dem Markt agiert. Es gibt jedoch Auswege: Zum einen können externe Moderatoren, soweit sie sich auf die regionalen Gegebenheiten einlassen und ihre Eigeninteressen nicht dominieren, hier gute Ergebnisse erreichen. Zum anderen sind regional ausgerichtete Steuerungsformen gefordert, die nicht unbedingt deckungsgleich mit Verwaltungsstrukturen sind, aber die Konkurrenz zwischen den Dörfern - mit ihren sehr unterschiedlichen Entwicklungsoptionen - aufbrechen. Mit der Hinwendung zu intermediären, zivilgesellschaftlichen oder unternehmerischen Akteuren müssen Entwicklungsziele neu ausgehandelt und legitimiert werden.

Die Veränderungen in den kommunalen Handlungsfeldern sind nicht unmittelbar und quantitativ aus den demographischen Veränderungen abzuleiten. Vielmehr sind politische Entscheidungen zu treffen und Regelungen festzulegen, welche Prioritäten gesetzt werden (Mindeststandards). Da sich die Kosten bei zurückgehenden Nutzerzahlen nicht proportional verringern (Kostenremanenz), reicht es nicht aus, bloß die Angebote entsprechend zu verringern. In sehr dünn besiedelten Räumen kommt es zur Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und zu vergrößerten Einzugsbereichen: Mobilität und Folgekosten nehmen zu. Bildung und medizinische Versorgung werden zumeist als wichtige Bereiche angesehen, die unter veränderten Bedingungen in vergleichbarer Qualität zu erhalten sind. Des Weiteren bedarf es der politischen Verständigung über die Trägerschaft und die Qualitätssicherung der Leistungserbringung, denn bei aller Forderung nach Deregulierung wird eine Gewährleistungspflicht der öffentlichen Hand bestehen bleiben. So findet in den Aufgabenbereichen Nahverkehr und Ver- und Entsorgung eine umfangreiche "Privatisierung" statt, die im Bildungsbereich geringer ist und unter restriktiveren Bedingungen verläuft. Die Entwicklungen des Einzelhandels, der Postfilialen und selbst der Wohlfahrtspflege zeigen die Probleme "privat" ausgeführter Grundversorgung, wenn sich die Träger betriebswirtschaftlich bedingt aus der Fläche zurückziehen.

Die Stärke ländlicher Gemeinden wird in der traditionellen Selbstorganisationsfähigkeit des Dorfes gesehen, wodurch zum Beispiel zukünftig die Energieversorgung, soziale Betreuungen oder Mobilitätsleistungen entlegener Orte gesichert werden können. Beispiele dafür sind die Erhaltung von Schulen durch Nonprofit- oder Förderorganisationen sowie dezentrale Energie- und Entsorgungssysteme; entsprechende Beispiele gibt es im Einzelhandel, in der Produktvermarktung oder in Weiterbildungseinrichtungen. Die heutigen Selbsthilfeformen wenden sich nicht unmittelbar gegen eine technologisch-modernistische Steuerung, sondern wollen in der Fläche Lebensqualität und Beschäftigung sichern. Dabei fehlen nicht - wie gelegentlich behauptet - das notwendige Wissen, Engagement und Unternehmertum in ländlichen Regionen, vielmehr besteht die Schwierigkeit, vorhandenes Potenzial regional zu vernetzen, um dadurch jenen Grad an Offenheit, Heterogenität und Dichte zu erreichen, der für innovative Entwicklungen notwendig ist.

Öffentlicher Diskurs

Die politischen Akteure in den Dörfern, vor allem in peripheren Regionen, müssen eine profilierte und kritische Position zu den Herausforderungen des demographischen Wandels finden. Diese darf sich nicht auf eine effektvolle Dramatik beschränken: Den immer häufiger anzutreffenden politischen Rückzugsszenarien hinsichtlich der ländlichen Grundversorgung lässt sich nur begegnen, wenn nachhaltige Lösungswege die bestehende und zukünftige Attraktivität sichern. Das teilweise Scheitern einer - vielleicht zu ambitionierten, zu generalisierten, zu funktionsteiligen - Entwicklung der ländlichen Infrastruktur und die ökonomischen und sozialen Transformationen sollten nicht vorschnell mit "Entleerung" gleichgesetzt werden. Die Folgen mangelnder Grundversorgung würden nicht nur die Gewährleistung individueller Chancengleichheit gefährden, sondern auch kumulativ in negative regionale Entwicklungen münden, indem sich schlechte infrastrukturelle Bedingungen, ökonomische und soziale Verluste und Abwanderungen wechselseitig verstärken. Das setzt voraus, dass Kommunen intern die regionalen bzw. lokalen Entwicklungschancen kommunizieren.

Insbesondere für periphere Regionen stellen nicht die technischen infrastrukturellen Lösungen das Problem dar, sondern der gesellschaftliche Strukturwandel. Extern machen die partikular ausgeprägten kommunalen Strukturen ländlicher Räume eine gemeinsame Interessenvertretung unabdingbar, die nicht nur die kommunalpolitischen Probleme im engeren Sinne, sondern auch die regionalen Entwicklungsperspektiven einschließt. Dafür gibt es Beispiele in Schweden, Schottland oder Österreich, wie in konzertierten politischen Aktionen, Plattformen, Agenturen, Mainstreaming und Monitoring offensiv mit den Problemen und den Chancen ländlicher Räume umgegangen wird. Der öffentliche Diskurs wird die Abkopplungsprozesse einiger peripherer Regionen nicht umkehren können. Umbrüche gehen mit erhöhten Belastungen und Unsicherheiten einher, für die wiederum Ressourcen notwendig sind, sie eröffnen aber auch neue Handlungsfelder.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Beitrag entstand aus der Zusammenarbeit mit Claudia Neu.

  2. Vgl. die Kriterien von OECD und Eurostat sowie der meisten EU-Mitgliedsstaaten. Als Schwellenwert gilt meist eine Besiedlungsdichte von 100 oder 150 Einwohnern je km(2).

  3. Die Fertilitätsrate bzw. zusammengefasste Geburtenziffer gibt an, wieviele Kinder Frauen eines fiktiven Geburtenjahrganges zur Welt bringen würden. Der so genannte kritische Wert liegt bei 2,1.

  4. Vgl. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg.), Aktuelle Daten zur Entwicklung der Städte, Kreise und Gemeinden. Berichte Band 14, Bonn 2002.

  5. Einer der ersten Artikel, die in dieser Hinsicht zu einer veränderten Wahrnehmung führten, stammt von Franz-Josef Bade, Zu den wirtschaftlichen Chancen und Risiken der ländlichen Räume, in: Raumforschung und Raumordnung, 55 (1997) 4/5, S. 247 - 259.

  6. Für die folgenden Daten wird auf die siedlungsstrukturellen Kreistypen des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung zurückgegriffen, die die stärkste Differenzierung von ländlichen Gebieten auf Bundesebene ermöglichen.

  7. Vgl. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Anm. 4).

  8. Vgl. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg.), Bevölkerungsprognose 2020, Bonn 2004.

  9. Vgl. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg.), Anpassungsstrategien für ländliche/periphere Regionen mit starkem Bevölkerungsrückgang in den neuen Ländern. Werkstatt Praxis Heft 38, Bonn 2005, S. 4.

  10. Vgl. Wolfgang Weiß, Der Ländlichste Raum - Regional-demographische Begründung einer Raumkategorie, in: www.demographie-online.de/downl/ww_lr1002.pdf (8.3. 2006).

  11. Vgl. Hellmut Wollmann, Die traditionelle deutsche kommunale Selbstverwaltung - ein "Auslaufmodell"?, in: Deutsche Zeitschrift für Kommunalwissenschaften 2 (2002) 1, S. 24 - 51.

  12. Vgl. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Anm. 9); Rosinak & Partner (Hrsg.), Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit ländlicher Räume. Dienstleistungen der Daseinsvorsorge und Regionale Governance, ÖROK-Endbericht, Wien 2005; Modellprojekt zur Jugendhilfeplanung www.caminante-projekt.de.

  13. Vgl. Gerhard Stiens/Doris Pickel, Nachbarschaftsdienste in dünn besiedelten Gebieten, Arbeitspapiere des BBR 1, Bonn 2001.

  14. Vgl. Digital auf dem Lande: (Un-)begrenzte Möglichkeiten?, in: Ländlicher Raum, (2005) Juli/August, S. 37 - 38.

  15. Vgl. Elke Goltz/Karl-Martin Born, Zuwanderung älterer Menschen in ländliche Räume - eine Studie aus Brandenburg, in: Geographische Rundschau, 57 (2005) 3, S. 52 - 57.

  16. Vgl. Eva Barlösius/Claudia Neu, Die Wildnis wagen, in: Initial, 12 (2001) 6, S. 65 - 76.

  17. Vgl. Ingrid Bonas u.a. (Hrsg.), Gemeinschaftsnutzungsstrategien für eine nachhaltige lokale Entwicklung, München 2006.

  18. Z.B. www.dstgb.de/index_inhalt/homepage/top_ themen/inhalt/archiv2000/newsitem00038 (10.3. 2006).

Dr. phil., geb. 1961; wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Interdisziplinären Arbeitsgruppe "Zukunftsorientierte Nutzung ländlicher Räume" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und am Institut für Genossenschaftswesen an der Humboldt-Universität zu Berlin, Luisenstraße 53, 10099 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: stephan.beetz.1@rz.hu-berlin.de
Internet: Externer Link: www.agrar.hu-berlin.de/genossenschaftswesen
oder Externer Link: www.bbaw.de/Forschung