Einleitung
Kommunen und Regionen im demographischen Wandel - das sind Kommunen und Regionen im Wettbewerb um Einwohnerinnen und Einwohner, gute Arbeitsmöglichkeiten, attraktive Lebensbedingungen und gute Standortqualitäten.
Die Tatsache, dass die Anzahl von Kindern in Deutschland seit 33 Jahren unter dem Wert liegt, der für eine langfristig stabile Bevölkerungsentwicklung notwendig wäre, spüren in erster Linie die Kommunen. Ausreichend Nachwuchs ist nicht in Sicht, und viele Regionen sind von unterschiedlich stark ausgeprägten Wanderungsbewegungen betroffen. Nur ein Effekt entwickelt sich stetig: In allen Kommunen wird die Bevölkerung aufgrund der steigenden Lebenserwartung immer älter.
Eine aktive und funktionierende Stadtgesellschaft mit einer erfolgreichen Wirtschaft braucht eine Bevölkerung mit einer ausgewogenen Altersstruktur, die sich für die Zukunft ihres Wohnortes einsetzt und engagiert. Das gilt umso mehr, als demographische und wirtschaftliche Entwicklungen sich gegenseitig beeinflussen: Mit einer langfristig stabilen Bevölkerungsentwicklung ist nur in denjenigen Kommunen zu rechnen, die auch ökonomisch attraktiv sind und genügend Nachwuchs an motivierten und gut qualifizierten Arbeitskräften haben.
Mit dem Wegweiser Demographischer Wandel zeichnet die Bertelsmann Stiftung ein Bild von der Zukunft städtischer und gemeindlicher Entwicklungen. Welche Kommunen sind besonders stark vom demographischen Wandel betroffen? Welche Unterschiede gibt es zwischen städtischen und ländlichen Räumen? Welche Handlungsstrategien sollten verfolgt werden? Der Wegweiser gibt auf diese Fragen Antworten und verbindet umfangreiches Analysematerial mit Handlungsempfehlungen für die Arbeit vor Ort.
Wegweiser Demographischer Wandel
Für alle Kommunen mit mehr als 5.000 Einwohnern stellt der Wegweiser Demographischer Wandel Zahlen, Daten und Fakten zur Verfügung. Insgesamt 3.000 bundesdeutsche Städte und Gemeinden - und damit 85 Prozent der Gesamtbevölkerung - sowie 323 Landkreise erhalten somit eine Gesamtschau aktueller Trends und demographischer Entwicklungen bis in das Jahr 2020. Durch eine tiefgehende Analyse des mit dem Wegweiser bereitgestellten Datenmaterials ist es in Kombination mit der vorgenommenen Typisierung der untersuchten Kommunen möglich, sowohl kommunenspezifische Entwicklungen abzubilden als auch allgemeine Trends herauszuarbeiten. Der Wegweiser Demographischer Wandel
52 Indikatoren für die Politikfelder Soziale Lage, Wohnen, Wirtschaft und Arbeit und Demographische Entwicklung;
eine kleinräumige Bevölkerungsprognose für alle Kommunen mit mehr als 5.000 Einwohnern;
individuelle Demographieberichte für Bürgerinnen und Bürger, die Arbeit in Ausschüssen und öffentliche Veranstaltungen;
die Beschreibung von insgesamt 15 Demographietypen - inklusive spezifischer Empfehlungen für jeden Typ;
Karten, Graphiken und Tabellen zum Download;
konkrete Handlungsempfehlungen für ausgewählte Politikfelder.
Der Wegweiser eröffnet somit viele verschiedene Blickwinkel. Vor allem kommunenspezifisch werden Antworten auf ganz unterschiedliche Fragen gegeben, wie z.B. nach der durchschnittlichen Kaufkraft der Haushalte, nach der Bedeutung der Kommune als Arbeitsort, nach der Größe des Anteils der Hochqualifizierten oder nach der Entwicklung der Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungssektor. Damit wird ein Grundstein gelegt für die so wichtige Analyse der Ausgangslage in der Kommune, an die sich die Identifizierung der zentralen Herausforderungen für die Kommunen und die Erarbeitung von Handlungsstrategien anschließt.
Die darüber hinaus erkennbaren allgemeinen Trends und Entwicklungen haben für den Umgang mit den demographischen Veränderungen in den Kommunen aber ebenfalls eine große Bedeutung, da sie beim Umgang mit den Herausforderungen zu berücksichtigen sind.Ausgewählte Ergebnisse
Einige dieser allgemeinen Entwicklungen werden im Folgenden exemplarisch dargestellt.
Die Hälfte der Kommunen schrumpft: Das Ergebnis der Bevölkerungsprognose der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass die Zahl der Einwohner in der Bundesrepublik bis zum Jahr 2020 um insgesamt 1,4 Prozent schrumpfen wird. Das klingt zunächst nach einer moderaten Schrumpfung. Neben den inzwischen breit diskutierten Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme wird dieser Bevölkerungsrückgang aber nicht nur auf der gesamtstaatlichen Ebene, sondern vor allem in den Städten und Gemeinden des Landes spürbar - und hier gibt es eine sehr breite Streuung unterschiedlicher Entwicklungen.
Bei Betrachtung der Gesamtergebnisse wird deutlich, dass rund 50 Prozent aller deutschen Städte und Gemeinden mit mehr als 5.000 Einwohnern von Bevölkerungsschrumpfung betroffen sein werden. Die Spannbreite der Schrumpfung reicht hierbei von geringen Bevölkerungsrückgängen mit weniger als einem Prozent Abnahme bis hin zu gravierenden Einwohnerverlusten bis zu 58 Prozent. So werden in einigen ostdeutschen Kommunen bis zum Jahr 2020 Bevölkerungsverluste zwischen 30 und 40 Prozent erwartet.
Demographisch - aber auch ökonomisch - wachsende und schrumpfende Kommunen liegen dabei erkennbar häufig nah beieinander. Das gilt zunächst für die ostdeutschen Länder, wo sich die regionalen Entwicklungen stark voneinander unterscheiden und durch ein Patchwork von Gewinner- und Verliererkommunen gekennzeichnet sind. Aber auch in den westdeutschen Ländern ist die Entwicklung sehr heterogen. So ist etwa Hessen mit einem tendenziell stark schrumpfenden Norden und einem eher wachsenden und wirtschaftlich prosperierenden Süden ein solches Land der Gegensätze. Und auch innerhalb dieser Regionen gibt es große Unterschiede in der Entwicklung. Durch diese unterschiedliche Entwicklung wird der Wettbewerb zwischen den Kommunen um Arbeitsplätze, um Einwohner, um Infrastruktur und um Lebensqualität verstärkt: Hier sind die Kommunen gefordert, aktiv zu werden, klare Prioritäten zu setzen und ein eigenes Profil herauszubilden.
Alle Kommunen altern: Demographisch gesehen wird sich in den bundesdeutschen Kommunen aber nicht nur die Bevölkerungszahl verändern. In ihren Ausmaßen weitaus gravierender als Schrumpfung oder Wachstum ist die Veränderung der Altersstruktur. Der Wegweiser zeigt im Gesamtergebnis, dass ausnahmslos alle betrachteten Kommunen bis zum Jahr 2020 altern werden: Das Durchschnittsalter wird sich erhöhen, die Zahl der älteren Menschen (vor allem die der Hochbetagten über 80 Jahre) ansteigen, jene der Kinder hingegen immer stärker abnehmen.
Die zunehmende Alterung ist dabei das Ergebnis unterschiedlicher Entwicklungen: Zunächst steigt - und das ist für die Menschen ein schöner und positiv zu bewertender Effekt - die Lebenserwartung kontinuierlich an. So wird etwa von James Vaupel, Direktor am Max-Planck-Institut für demographische Forschung in Rostock, bereits für 2050 eine durchschnittliche Lebenserwartung von 90 Jahren für möglich gehalten (bei Frauen sogar bis 100) - eine insgesamt noch zu wenig diskutierte Entwicklung, die bei den Lebensversicherern bereits Eingang in die Festlegung der Sterbetafeln gefunden hat. Kommunale Reaktionen auf diese Entwicklung sind bislang kaum erkennbar.
Tendenziell erhöht sich das Durchschnittsalter in der Kommune besonders dann, wenn vor allem junge Menschen (18- bis 24-jährige Bildungswanderer) auf der Suche nach Bildung und Ausbildung aus der Kommune abwandern. Die Bevölkerung schrumpft, und mit den jungen Menschen gehen auch die potenziellen Eltern. Zurück bleiben die älteren Menschen, und in der Folge werden immer weniger Kinder in diesen Städten geboren. So haben vor allem die stark schrumpfenden und von Abwanderung betroffenen Städte häufig auch eine sehr hohe Alterung zu verzeichnen. In den ostdeutschen Städten Guben, Wittenberge oder Hoyerswerda wird die Hälfte der Bevölkerung im Jahre 2020 älter als 58 Jahre alt sein. Und auch der Anteil an Menschen über 80 Jahre wird in Städten wie Hoyerswerda oder auch Cochem an der Mosel bei ca. 15 Prozent liegen.
Auf diesen Trend der Alterung, der sich in den Städten und Gemeinden in vielen Facetten zeigt, sind bislang nur wenige Kommunen vorbereitet, obwohl er ein radikales Umdenken in der Ausrichtung kommunaler Seniorenpolitik erfordert. Diese Entwicklung ist in jeder Stadt in mehrerlei Hinsicht zu bedenken: Zum einen birgt eine alternde Gesellschaft viele Potenziale, die für die bürgerliche Gesellschaft nutzbar gemacht werden können. Überkommene Altenbilder sind dabei neu zu diskutieren, und die Kommunen müssen sich fragen, wie sie für die vorhandenen Potenziale wie Zeit, Wissen, Lebenserfahrung etc. einen strukturellen Rahmen schaffen können, der es möglich macht, diese zu nutzen.
Zum anderen ist es wichtig, sich frühzeitig auf die größer werdende Gruppe älterer Menschen einzustellen, die Hilfs- und Pflegeleistungen benötigen. Welche sozialen Infrastrukturen werden benötigt? Wie kann die Selbstorganisation der älteren Menschen gestärkt werden ("Alte helfen sehr Alten")? Welche Wohnformen können das unterstützen? Welche konkreten Bedarfe gibt es eigentlich in der Kommune?
Und letztlich stehen die Kommunen auch vor der Frage, wie das Miteinander der Generationen zukünftig verbessert werden kann, denn die Interessen von Familien und Kindern sind häufig andere als die der Senioren. Hier gilt es, bereits heute aktiv zu werden und kommunale Zukunft im Dialog der Generationen neu zu denken.
Demographischer Wandel und Ökonomisierung: Ein klar erkennbares Faktum ist die enge Verbindung von Demographie und Ökonomie. "Die Menschen folgen den Ausbildungs- und Arbeitsplätzen" - auf diese knappe Formel lassen sich vielerorts die regionalen und überregionalen Wanderungsbewegungen und in der Folge auch die Ursachen für die kommunale Entwicklung bringen. Vor allem mit dem Verlust der ökonomischen Basis in der Kommune werden häufig starke Bevölkerungsschrumpfungsprozesse in Gang gesetzt.
So haben in der Konsequenz fehlende wirtschaftliche Potenziale und die daraus folgende hohe Arbeitslosigkeit (z.B. durch den ökonomischen Bruch nach der Wende 1989/1990) in vielen Regionen der ostdeutschen Bundesländer zu einer stark rückläufigen und deutlich älter werdenden Bevölkerung geführt. Ähnliche Entwicklungen zeichnen sich ab z.B. für den Harz, das Wendland um Lüchow-Dannenberg in Niedersachsen sowie die Ostseeküste in Schleswig-Holstein.
Die Bevölkerung schrumpft und altert nicht nur durch diesen Effekt, sondern sie verliert ihre Entwicklungspotenziale: Zum einen verlassen vor allem die gut ausgebildeten Fachkräfte sowie die Akademiker in der Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen die Region. Durch diesen so genannten "Brain Drain" geht das für die Schaffung einer neuen ökonomischen Basis in den Kommunen dringend benötigte Potenzial an qualifizierten Kräften verloren. Zum anderen sind es die Frauen im gebärfähigen Alter, die bereits seit Anfang der neunziger Jahre diesen Regionen den Rücken kehren. Damit geht neben dem geistigen auch das Potenzial der Kinder verloren. Sie werden aufgrund dieser Wanderungsbewegungen in anderen Regionen geboren. Die Entwicklung wird um das Jahr 2010 in diesen Regionen zu einem sprunghaften Geburtenrückgang, dem so genannten "Zweiten Geburtenknick" führen.
Zentrale Herausforderung für die Kommunen in den betroffenen Regionen ist es, eine neue ökonomische Basis für die kommunale Entwicklung zu schaffen und alles dafür zu tun, um junge Menschen zu halten.
Deutlicher Trend "Zurück in die Städte": Folgen der ökonomischen Entwicklungen, durch die sich eine prosperierende Wirtschaft mit Potenzial an Arbeitsplätzen häufig in den Städten konzentriert, aber auch die steigende Attraktivität des urbanen Lebens für viele kommunale Zielgruppen bedingen einen weiteren klar zu identifizierenden Trend: den Trend zurück in die Stadt. Das Tempo bei den Suburbanisierungsbewegungen und der Umlandwanderung ist vielerorts stark rückläufig, und das in der Vergangenheit dominierende Wohnideal vom freistehenden Einfamilienhaus im grünen Umland der größeren Städte ist schon seit längerer Zeit nicht mehr konkurrenzlos.
Verschiedene Gründe, die für das innerstädtische Leben und Wohnen sprechen, sind erkennbar: - Durch die oft günstige Arbeitsplatzentwicklung ist die Stadt für viele Menschen zwar (noch) nicht Wohn- und Lebensmittelpunkt, in jedem Fall aber Mittelpunkt des Arbeitslebens. Auch Wohnen in der Nähe des Arbeitsplatzes ist ein Stück Lebensqualität - und nach Abschaffung der Eigenheimzulage auch eine häufig günstigere Alternative zum Bauen im Umland. - Das Leben in der peripheren Umgebung der Städte ist teuer. Vor allem steigende Energiepreise und ÖPNV-Kosten sind für die Berufspendler ein großer Kostenfaktor. Verstärkt wird diese Entwicklung durch die bevorstehende Kürzung bzw. Abschaffung der Pendlerpauschale. - Pendeln in die Städte kostet Zeit - häufig viele Stunden in der Woche. Diese Zeit fehlt den Pendlern in ihrer Freizeit, den Eltern mit ihren Kindern. Der Trend geht dahin, Wohnen, Freizeit und Arbeit in räumlicher Nähe zu verbinden. - Innerstädtisches Wohnen eröffnet vielfältigere Lebensmodelle. Das gilt insbesondere für berufstätige Paare mit Kindern. Während es an den eher peripheren Standorten schwierig sein kann, eine adäquate und flexible Betreuung für die Kinder zu finden, fällt eine Berufstätigkeit beider Elternteile in den Städten angesichts des manchmal besseren, aber doch zumindest vielfältigeren Betreuungsangebots häufig leichter. - Das Freizeit- und Erlebnisangebot in den Städten ist vielfältiger und wird damit von vielen Menschen als attraktiver empfunden. - Innerstädtisches Wohnen wird für ältere und alte Menschen an Attraktivität gewinnen. Denn auch bei eingeschränkter Mobilität sind die wichtigsten Versorgungseinrichtungen, vom Lebensmittelmarkt über den Arzt bis hin zum Friseur, gut zu erreichen. Schon heute gibt es in den Städten attraktive neue Wohnformen für Senioren: Stadthäuser, Wohngemeinschaften und Mehrgenerationenhäuser.
Die Städte sind gefordert, sich auf diese neuen Entwicklungen einzustellen. Der Stärkung der urbanen Zentren und des urbanen Lebens kommt für die Städte damit ebenso eine zentrale Bedeutung zu wie der Schaffung von adäquatem Wohnraum - für Singles, für Senioren und für Familien.Ausgewählte Demographietypen
Auf Basis der Indikatoren des Wegweisers wurde mit Hilfe einer Clusteranalyseeine Typisierung der insgesamt 2959 Städte und Gemeinden vorgenommen. Dabei wurde zwischen Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern und Städten mit einer Einwohnerzahl zwischen 5.000 und 100.000 Einwohnern unterschieden. So gibt es insgesamt 15 kommunale Demographietypen - jede der 2959 Kommunen ist einem dieser Typen zugehörig (Abbildungen 1 und 2).
Exemplarisch werden im Folgenden zwei Demographietypen dargestellt. Die Skizze verdeutlicht, wie Analyse und Entwicklung von Handlungsempfehlungen zusammenspielen:
Aufstrebende ostdeutsche Großstädte mit Wachstumspotenzialen: Beispiel Jena
Der Großstadttyp 6 ist ein markantes Beispiel für eine positive kommunale Entwicklung in ostdeutschen Großstädten. Sieben Großstädte Ostdeutschlands sind diesem Typ zugeordnet: Berlin, Potsdam, Dresden, Erfurt, Leipzig, Jena und Rostock.
Diese Städte können als großstädtische Wachstumsinseln in Ostdeutschland betrachtet werden. Sie repräsentieren die wirtschaftsstärkeren ostdeutschen Städte mit zum Teil hoher Wachstumserwartung und positiver demographischer Entwicklung. Gespeist wird diese Entwicklung vor allem aus umfangreichen Zuzügen junger Erwachsener. Diese dokumentieren die große Attraktivität dieser Städte für Bildungswanderer und Berufseinsteiger. Klar erkennbar wird aber auch, dass sowohl Familien mit Kindern als auch ältere Menschen aus den suburbanen Räumen in die Kernstädte zurückkehren.
In der Summe bedingt diese Entwicklung, vor allem die hohe Zuwanderung der 18- bis 24-Jährigen, weniger stark ausgeprägte Alterungsprozesse: Großstädte dieses Typs bleiben auch in Zukunft vergleichsweise jung. Trotzdem wird sich die Zahl der Hochbetagten über 80 Jahre bis zum Jahr 2020 verdoppeln, und auch die Zahl der Geburten ist in den Städten dieses Typs sehr niedrig.
Ökonomisch betrachtet befinden sich die sieben Städte dieses Demographietyps in einem sehr dynamischen wirtschaftlichen Strukturwandel. Die Situation ist zwar durch eine hohe Arbeitslosigkeit mit vielen Langzeitarbeitslosen, ein geringes Einkommensniveau in der Bevölkerung sowie niedrige kommunale Steuereinnahmen gekennzeichnet. In den Städten ist aber eine wirtschaftliche Konsolidierung eingetreten, und häufig konnten negative ökonomische Strukturdaten umgekehrt werden. Gleichwohl ist der sehr dynamische wirtschaftliche Umstrukturierungsprozess noch nicht abgeschlossen.
Eine Besonderheit ist der mit durchschnittlich 81 Prozent hohe Anteil der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor. Er zeigt die massiven Arbeitsplatzverluste im verarbeitenden Gewerbe. Jedoch holen vor allem die Städte Dresden, Leipzig und Jena deutlich an wirtschaftlicher Leistungskraft auf. Sehr hilfreich in der weiteren Entwicklung wird der mit 17 Prozent auffällig hohe Anteil an hochqualifiziert Beschäftigten sein. Dies ist u.a. auf die Hochschullandschaften zurückzuführen, durch die sich die Großstädte als Wissensstandorte profilieren konnten.
Ein anschauliches Beispiel für diesen Demographietyp ist Jena, die als Stadt der Wissenschaft, Forschung und Technologie auch "Boomtown des Ostens" genannt wird und zusammen mit Erfurt und Ilmenau das thüringische Technologiedreieck bildet. Die Universitätsstadt, die in ihrer Entwicklung klar auf die Wissenschafts-, Forschungs- und Technologieschiene gesetzt hat, ist ein besonderes Beispiel für wirtschaftliche Prosperität. Das zeigen zum einen dort bereits ansässige Unternehmen (Jenoptik AG, Schott GmbH, Carl Zeiss Jena), zum anderen viele neue und ausgegründete innovative Unternehmen, die zum Teil auch bereits in größeren Netzwerken organisiert sind. Der Anteil der hochqualifiziert Beschäftigten, die in Jena leben, ist mit 24,5 Prozent der zweithöchste aller bundesdeutschen Großstädte und wird lediglich von Heidelberg geringfügig übertroffen.
Aber auch demographisch gesehen spiegelt sich diese positive Entwicklung in Jena wider: Bis zum Jahr 2020 wird das Medianalter nur knapp über 38 Jahre betragen, das heißt, die Hälfte der Bevölkerung in Jena wird im Jahr 2020 jünger als 38 Jahre alt sein. Damit weist die Stadt das niedrigste Medianalter aller deutschen Großstädte auf. Daneben wird die Bevölkerung bis zum Jahr 2020 voraussichtlich um 5,7 Prozent wachsen. Für Jena, aber auch für die anderen aufstrebenden ostdeutschen Großstädte dieses Demographietyps ist es wichtig, zum einen die positive Bevölkerungsentwicklung zu stabilisieren, zum anderen die wirtschaftlichen Potenziale zu nutzen und auszubauen, um so die Familien und jungen Erwachsenen, die in die Städte ziehen, zu halten.
Das erfordert in den Städten verschiedene Handlungsansätze und Maßnahmen, die hier nur exemplarisch dargestellt werden sollen:wissensbasierte produzierende Zukunftsbranchen ausbauen;
vorhandene Stärken weiter stärken und spezifische Profile zur weiteren wirtschaftlichen Entwicklung ausformulieren;
regionale Branchenschwerpunkte als Wachstumsmotoren fördern;
vorhandene Netzwerkstrukturen weiterentwickeln;
bedarfsgerechter Ausbau der Angebote für Familien und junge Erwachsene;
bewusste Förderung von jungen lebendigen Stadtteilen und die Förderung der Urbanität;
Reurbanisierungstendenzen nutzen und experimentelle Wohnformen sowie städtische Einfamilienhausprojekte (z.B. "Stadthäuser") fördern.
Schrumpfende und alternde Städte und Gemeinden mit hoher Abwanderung: Beispiel Wolfen
Alle Kommunen, die dem Demographietyp 4 (Städte zwischen 5.000 und 100.000 Einwohnern) angehören, sind von den Auswirkungen des demographischen Wandels besonders stark betroffen. 70 Prozent aller ostdeutschen Kommunen gehören dieser Gruppe an. Sie repräsentiert eher abgelegene Städte und Gemeinden, die sich gleichmäßig auf alle ostdeutschen Länder verteilen. Hierunter fallen auch 20 Kommunen der westdeutschen Länder mit räumlichen Schwerpunkten im Harz, im Wendland um Lüchow-Dannenberg in Niedersachsen sowie einige Kommunen an der Ostseeküste und in Schleswig-Holstein.
Charakteristisch für diese Städte und Gemeinden ist eine stark rückläufige und deutlich älter werdende Bevölkerung. Damit verbunden sind selektive Abwanderungen der jungen Bevölkerung, insbesondere der Frauen (im gebärfähigen Alter). Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und der geringen wirtschaftlichen Potenziale werden der Alterungs- und der Abwanderungsprozess der besonders gut gebildeten Fachkräfte und Akademiker anhalten.
In der Summe ist in den Städten und Gemeinden dieses Demographietyps weiterhin mit der deutlichsten Bevölkerungsschrumpfung bis zum Jahr 2020 zu rechnen. In den schrumpfenden Kommunen kommt es im Zusammenhang mit dem fortschreitenden Flächenverbrauch zu einer starken passiven "Entdichtung". Die weniger dichte und gleichzeitig zunehmend verstreute Siedlungsstruktur wirkt sich sehr negativ auf die Infrastruktur und ihre Bereitstellung aus.
Hinzu kommt, dass in fast allen Kommunen des Demographietyps 4 die Hälfte der Bevölkerung älter als 50 Jahre sein wird. Gekoppelt mit dem deutlichen Rückgang der jüngeren Bevölkerung kommt es hier zu einer deutlichen Verschiebung innerhalb der Altersstruktur der Bevölkerung.
Die Schrumpfungsprozesse der Kommunen dieses Demographietyps sind in aller Regel Ausdruck einer krisenhaften ökonomischen Entwicklung. Zu den wichtigsten Ursachen des Bevölkerungsrückgangs zählt der Verlust der alten ökonomischen Basis, ohne dass zugleich eine neue ökonomische Basis aufgebaut werden konnte. Dieses prinzipielle Muster findet sich in nahezu allen Kommunen dieses Clusters. Gerade Letztere haben den ökonomischen Bruch 1989/90, mit dem ein abrupter Wechsel vom plan- zum marktwirtschaftlichen System einherging, noch nicht verkraftet. Für die Kommunen dieses Clusters ist es entscheidend, ihre Rolle in der regionalen Wirtschaft neu zu definieren, dabei auf vorhandene Stärken zu setzen und gezielt Nischen zu suchen. Auch hier muss es daher darum gehen, Prioritäten zu setzen und diese dann konsequent zu verfolgen.
Als Beispiel für die dramatische Entwicklung, die auf eine Stadt des Demographietyps 4 zukommt, ist Wolfen zu nennen. Seit dem Wegfall der Filmfirma Orwo, die einen Großteil der Arbeitsplätze stellte, ist die Stadt mit einem stark spürbaren Einwohnerverlust und mit schwindender Wirtschaftskraft konfrontiert. Die Prognose sagt Wolfen bis zum Jahr 2020 einen weiteren Bevölkerungsverlust um ca. 50 Prozent voraus. Hier steht die Frage im Vordergrund, welche Perspektiven die Menschen haben, die hier leben. Welche Angebote sind für die große Gruppe der älteren Menschen zu entwickeln? Ist es hier möglich, durch Investitionen im Wirtschaftsbereich wieder mehr Prosperität zu schaffen?
Eine kreative Nischenstrategie bietet in den besonders strukturschwachen Kommunen die Chance, die Orte "neu zu erfinden". Dies erfordert den Mut, unkonventionelle, mitunter riskante Ideen und die Entwicklung innovativer Arbeitsmodelle jenseits der heute dominierenden Auffassung von Arbeit zuzulassen. Als Beispiel ist hier die Stadt Apolda zu nennen, die durch die internationale Fachhochschule für Design und das Engagement von Karl Lagerfeld bei der Verleihung des "Apolda European Design Award" auf sich aufmerksam gemacht hat.
In den Kommunen des Demographietyps 4 gilt es als mittel- und langfristiges Ziel, eine Optimierung der Situation und eine Stabilisierung der Bevölkerungszahlen nicht aus den Augen zu verlieren. Dazu gehören dieMilderung der Auswirkungen der starken Wanderungsverluste - vor allem bei den gut ausgebildeten Fachkräften und Akademikern;
Stärkung der wirtschaftlichen Basis in einem schwierigen ökonomischen Umfeld, das von einer hohen Veränderungsdynamik gekennzeichnet ist;
Ausrichtung der kommunalen Infrastruktur auf die absehbaren Schrumpfungsprozesse und damit die Gewährleistung langfristig tragfähiger Strukturen der kommunalen Entwicklung;
Konzentration auf die Siedlungskerne.
Die enormen Bevölkerungsverluste erfordern eine Strategie des Rückbaus, orientiert an verstärkter Lebensqualität und nachhaltiger Entwicklung.
Prioritäre Handlungsfelder
Das Tableau der kommunalen Handlungsfelder ist vielfältig. Nahezu alle sind von den Auswirkungen der demographischen Veränderungen betroffen. Es kommt darauf an, eine Doppelstrategie zu verfolgen. Diese beinhaltet zum einen eine Präventionsstrategie (Wo können wir dem demographischen Wandel entgegenwirken?) und zum anderen eine Anpassungsstrategie (In welchen Bereichen müssen wir vorausschauende Anpassungen vornehmen?).
Darüber hinaus lassen sich aus Sicht der Bertelsmann Stiftung die folgenden Handlungsfelder identifizieren, die bei der Entwicklung eines strategischen Gesamtkonzeptes zur Gestaltung des demographischen Wandels Priorität haben sollten. Diese Themen müssen in vorausschauende und langfristig orientierte Entwicklungsstrategien Eingang finden.
1. Zukunftsorientierte Seniorenpolitik: Jede Kommune in Deutschland wird vom Alterungsprozess der Gesellschaft betroffen sein. Eine zukunftsorientierte kommunale Seniorenpolitik ist vor diesem Hintergrund als eine zentrale kommunale Querschnittsaufgabe anzusehen, die von der Bau- und Verkehrsplanung bis hin zu Bildungs- und Gesundheitsthemen reicht. Die Aktivierung der Potenziale älterer Menschen steht dabei besonders im Fokus.
2. Kinder- und familienfreundliche Politik: Das Thema Kinder- und Familienfreundlichkeit wird für Kommunen mehr und mehr zum Standortfaktor. Bei der Schaffung einer kinder- und familienfreundlichen Kommune geht es dabei um weit mehr als die Verbesserung der Kinderbetreuung. Es kommt auf ein klares Bekenntnis zu dieser Zielgruppe an und erfordert die Realisierung eines umfassenden und integrierten Angebotes für diese wichtige Zielgruppe.
3. Ausbalanciertes Infrastrukturmanagement: Die Bevölkerungsstrukturen in den Kommunen verändern sich. Eine passende und zielgruppenorientierte Infrastrukturausstattung wird damit zum entscheidenden Faktor für ihre Tragfähigkeit insgesamt, aber auch für die Attraktivität der Kommune. Art und Umfang von neu zu schaffenden, zu erhaltenden oder anzupassenden Infrastruktureinrichtungen sind genau zu analysieren und auf die regionale Situation hin auszurichten. Wichtig ist es hier, regionale Kooperation in der Region frühzeitig mitzudenken und zu realisieren.
4. Urbanität und Flächenentwicklung: Für alle Kommunen im demographischen Wandel ist es zentrale Aufgabe, ihre Flächenentwicklung zu steuern. Hier gilt es, dem Grundsatz "Innenentwicklung geht vor Außenentwicklung" zu folgen. Konkret bedeutet das eine Begrenzung der Siedlungsentwicklung außerhalb der Zentren und Investition in Erhalt und Ausbau der urbanen Zentren. So werden lebenswerte und lebendige Quartiere zu Standortfaktoren für die Städte und Gemeinden.
5. Sozialer Segregation entgegenwirken - aktive Integrationspolitik betreiben: Segregation und Integration gehören insbesondere in den Großstädten, aber auch in vielen kleineren Städten zu den wichtigsten kommunalen Handlungsfeldern. Hier geht es prioritär darum, eine sozial stabile und integrative Stadtteilpolitik zu etablieren und im Sinne ganzheitlicher Ansätze neu auszurichten.
Neben diesen inhaltlichen Fragen ist die Gestaltung der konkreten Prozesse mindestens ebenso wichtig. Dabei ist in erster Linie zu nennen, dass das Thema Demographie in den Kommunen als Chefsache behandelt werden muss. Darüber hinaus sollten im Rahmen des Prozesses (etwa auf themenbezogenen Veranstaltungen zum Thema Kinder- und Familienfreundlichkeit) möglichst viele lokale Akteure eingebunden werden. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist eine transparente Darstellung der zukünftigen demographischen Entwicklungen in der Kommune.