Die 15-jährige Daniela Salomon lebte mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder in einer bescheidenen Wohnung im Bezirk 23 de Enero in San Cristóbal, Hauptstadt des Bundesstaates Táchira, im Westen von Venezuela.
An diesem Sonntag hatte Nicolás Maduro die Bildung einer Verfassunggebenden Versammlung veranlasst. Die Opposition lehnte dies gemeinsam mit vielen anderen lateinamerikanischen Staaten ab. Dennoch verfolgte Maduro gegen jede Vernunft weiter seinen Plan, was zu Protesten im ganzen Land führte, auf die er wiederum mit Repression reagierte.
Auf der Straße spürte Daniela die angespannte Situation. Als sie ihre Mutter anrief und ihr davon erzählte, sagte diese ihr, sie solle heimkommen. Zusammen mit César machte sich Daniela auf den Rückweg. Unterwegs stießen die beiden auf eine Barrikade. Dort protestierte eine kleine Gruppe gegen die Wahl, bis plötzlich zwei Kleinbusse und vermummte Personen auf Motorrädern mit verdeckten Kennzeichen auftauchten und auf die Protestierenden schossen. Hand in Hand rannten Daniela und César davon, und als sie stürzte, dachte der junge Mann, seine Freundin sei gestolpert. Als er sich umdrehte, um ihr zu helfen, sah er das Blut. Er erschrak, hob sie auf und suchte in den Gassen eines nahen Wohngebiets Schutz vor den Kugeln. Er wollte sie in ein Krankenhaus bringen, aber es kamen weder Taxis noch Privatfahrzeuge vorbei, bis schließlich eine Frau ihm anbot, sie in ihrem Auto mitzunehmen. Als César Daniela in das Krankenhaus trug, waren beide so blutverschmiert, dass man sie kaum auseinanderhalten konnte. "Als die Ärztin mir sagte, dass ich mit dem Schlimmsten rechnen sollte, fing ich an, auf César einzuschlagen. Ich sagte ihm, er sei an allem schuld, er habe nicht gut genug auf sie aufgepasst", erinnert sich Danielas verzweifelte Mutter Nohelia.
Weder im Falle ihrer Tochter noch bei einem anderen politischen Mord während der Bürgerproteste in Venezuela in jenen Tagen ist es zu einem Gerichtsverfahren gekommen, bei dem die Schuld festgestellt und jemand verurteilt worden wäre. Die Gruppen bewaffneter Motorradfahrer in Zivilkleidung sind inzwischen fester Bestandteil des chavistischen Unterdrückungssystems und bekannt unter der Bezeichnung colectivos. Sie handeln unter dem Schutz der Nationalgarde und der Polizei, und haben schon Razzien in Gebäuden durchgeführt, von denen Widerstand gegen die polizeiliche Repression ausgeht.
Wege zum "Caracazo"
Der venezolanische Intellektuelle Mariano Picón Salas sagte einst, Venezuela sei erst nach dem Tod des 1908 an die Macht gelangten Diktators Juan Vicente Gómez im 20. Jahrhundert angekommen. Gómez regierte sein damals noch sehr provinzielles Land mit eiserner Faust, bis sein Tod 1935 den Weg frei machte für die langsame Entstehung eines modernen Staates, der später auch zu einer stabilen Demokratie werden sollte. Es war eine Entwicklung voller Schwierigkeiten, Verschwörungen und Unfälle, die ihren vorläufigen Höhepunkt und Schluss nach 23 Jahren finden sollte, als es zum Sturz von Marcos Pérez Jiménez kam, Venezuelas zweitem Diktator im 20. Jahrhundert.
Es ist unter anderem dem beim Pakt von Punto Fijo festgeschriebenen politischen Konsens der damaligen Mehrheitsparteien zu verdanken, dass Venezuela sich zu einer soliden Demokratie entwickeln und eine wirtschaftliche Entwicklung erreichen konnte, die mit großen Erfolgen, aber auch mit der Vernachlässigung von Idealen verbunden war. Die Verstaatlichung der Ölindustrie und die steigenden Ölpreise Mitte der 1970er Jahre bescherten dem Staat ein Vermögen, das schutzlos der Korruption jener Personen ausgeliefert war, die schon damals anfingen, Einnahmen aus staatlichen Ressourcen in die eigene Tasche umzuleiten. Bei bestimmten Teilen der Bevölkerung machte sich daher der Eindruck breit, dass sie von diesem Reichtum ausgeschlossen waren, und als unsichtbare Vertreter der Nation nur alle Jahre wieder zum Wählen aufgefordert wurden. So stauten sich bei diesen Menschen Ressentiments auf, die eine radikale Linke für sich zu nutzen wusste, die lange Zeit ein Schattendasein geführt hatte, da ihr eine große Erzählung wie die kubanische Revolution fehlte.
Die Entfremdung der politischen Eliten von den demokratischen Idealen, die das politische System mit Leben erfüllt hatten, sowie das Handeln derjenigen, die der wachsenden Abneigung von Seiten der Besitzlosen weiter Nahrung gaben, führten am 27. Februar 1989 zu einer sozialen Explosion, die unter der Bezeichnung "Caracazo" in die Geschichtsbücher einging. Ausgangspunkt war eine Erhöhung der Benzinpreise, die zunächst in Guarenas, 50 Kilometer östlich von Caracas gelegen, Proteste hervorrief. Es kam zu Vandalismus, die Demonstrationen breiteten sich auf Caracas und andere Städte aus, bis die Armee sie schließlich niederschlug. Danach war die Demokratie dauerhaft beschädigt, und ihre führenden Persönlichkeiten waren bereits so korrumpiert, dass sie nicht mehr verstanden, was im Land vor sich ging. Der Schaden wurde immer größer, bis es 1992 zu zwei Putschversuchen von Militärs kam, die zwar scheiterten, aber zeigten, dass die Bevölkerung keinen Grund sah, eine Demokratie zu unterstützen, von der sie sich nicht geschützt fühlte.
Obwohl sich das 21. Jahrhundert am Horizont abzeichnete, blockierte in jener Phase Venezuelas ein altmodischer Militarismus und Caudillismus jeden Fortschritt. Mit der Begnadigung des Anführers des ersten Putschversuches, einem damals weitgehend unbekannten Oberstleutnant namens Hugo Chávez, setzte ab 1994 ein Prozess ein, der noch lange nicht abgeschlossen ist, das alte Venezuela jedoch schon längst zerstört hat.
Die Präsidentschaftswahlen 1998 waren für das Land von geradezu schicksalhafter Bedeutung. Es traten an: eine frühere Schönheitskönigin, ein schillernder Provinzmillionär, ein vollkommen uncharismatischer Vorsitzender der Partei Acción Democrática, die sich am Tiefpunkt ihrer Entwicklung befand, sowie Hugo Chávez, der agitierend durchs Land zog und sich die Verbitterung vieler Menschen zunutze machte, indem er gegen die "verfaulten Eliten" wetterte und versprach, das politische Establishment hinwegzufegen. Mit dem Versprechen, alles zu ändern, konnte niemand mehr seinen Sieg aufhalten, zumal gewisse wirtschaftliche und intellektuelle Eliten ihn förderten und versprachen, sie würden ihn schon kontrollieren können.
Chávez trat wie eine Mischung aus evangelikalem Prediger, Caudillo und Fernsehmoderator auf, und zwang dem Land seine unberechenbaren und willkürlichen Launen auf. Er verbündete sich mit den am stärksten benachteiligten Bevölkerungsteilen und schwang sich zum Vertreter ihrer Interessen auf. Dabei nährte er Rachegelüste, die als Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit maskiert daherkamen. Da für ihn die Loyalität von Personen wichtiger als ihre Qualifikation war, öffnete er Tür und Tor für die Bildung von Machteliten, die eine Korruption von unvorstellbaren Ausmaßen in den Verwaltungsapparat tragen sollten. Hinzu kam die enge Beziehung zum Kuba Fidel Castros, womit das Ende der venezolanischen Demokratie besiegelt war und das Land in eine tiefe Krise stürzte.
"Pa’fuera"
Die Geoinformatikerin Ana María Wessolossky zögerte nicht, sich dem Streik in der Ölindustrie anzuschließen, der im Dezember 2002 seinen Anfang nahm.
Chávez regierte das Land, indem er mit seiner Präsenz das öffentliche Leben dominierte. In seinem sonntäglichen Radio- und Fernsehprogramm verkündete er Dekrete, kritisierte Gegner und erzählte Anekdoten aus seinem Leben. Mit dem ihm eigenen Gerechtigkeitssinn enteignete er Unternehmen und Grundbesitzer, rief zur Verletzung von Privateigentum auf und vereinigte alle Staatsgewalt auf seine Person. Außerdem entließ er in aller Öffentlichkeit Arbeitskräfte. Dies galt auch für beinahe 15000 Personen, die in der Erdölindustrie arbeiteten und so wie Ana María an dem Streik teilgenommen hatten: Einzeln nannte Chávez in seiner Fernsehshow die Namen der Entlassenen, stieß dazu einen Pfiff aus und rief dann: "pa’fuera" – "raus mit dir". Seine Anhänger jubelten bei jedem Namen.
Am 9. Februar 2003 war Ana María an der Reihe: Sie hatte bereits vor fünf Tagen ihre Stelle verloren, aber nun beschuldigte Hugo Chávez sie des Terrorismus, und das nur, weil er sie auf einem Foto auf der Titelseite einer Zeitung gesehen hatte. Auf dem Bild waren noch mehr Personen, und es hätte jeden von ihnen treffen können, denn es stellte eine Menschenmenge dar, die gegen die Regierung demonstriert hatte und in der Ana María mit einem Transparent zu sehen war.
Es war eine Praxis von Chávez, in seinem Sonntagsprogramm Personen eines Vergehens zu beschuldigen und gleich auch die entsprechende Strafe vorzuschlagen. So erging es der Richterin María Lourdes Afiuni, die im Dezember 2009 veranlasste, dass der festgenommene Unternehmer Eligio Cedeño vorläufig auf freien Fuß gesetzt wurde, nachdem die UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen seine Freilassung empfohlen hatte. Wutentbrannt verlangte Chávez im Radio und Fernsehen, die Richterin 30 Jahre lang ins Gefängnis zu sperren. Ohne Haftbefehl und ohne Gründe zu nennen, holten Polizisten sie wenig später aus ihrer Wohnung und brachten sie in ein Frauengefängnis außerhalb von Caracas, wo sie entwürdigend behandelt und nach eigenen Angaben sogar vergewaltigt wurde. Sie wurde im Juni 2013, drei Monate nach dem Tod von Chávez, aus humanitären Gründen entlassen, doch der Prozess gegen sie lief weiter. 2019 wurde sie für ein Vergehen, das in den venezolanischen Strafgesetzen gar nicht existiert, zu fünf Jahren Haft verurteilt.
Diese besondere Form der Rechtsprechung wurde zum Vorbild für andere Institutionen des Chavismus. So tauchten im August 2015 Agenten des venezolanischen Geheimdienstes in der Wohnung von Andrea González auf und verlangten, sie solle zu dem Tötungsdelikt an Liana Hergueta aussagen, mit der sie befreundet war und die ein gewisser José Pérez Venta ermordet haben soll.
"Du musst kein Politiker sein, damit sie dich einsperren. Wenn du in ihren Plan passt, egal wie absurd dieser Plan dir auch vorkommt, sperren sie dich ein. Gewissenlos sind die, es ist ihnen völlig egal, und es wird ihnen garantiert nicht leidtun. Sie lochen dich einfach ein, so geht es in Venezuela unglaublich vielen Leuten", sagt Alejandra, die Schwester von Andrea.
Bröckelnde Fassaden
Durch den rapiden Rückgang der Erdöleinnahmen litt auch die Beliebtheit eines Politikers, der Ressourcen verteilte, ohne Reichtum zu produzieren. Doch Chávez‘ Krankheit holte ihn noch schneller ein. Er konnte sich noch um eine vierte Präsidentschaft bewerben, wobei er im Laufe der Kampagne sowohl seine Gesundheit als auch die verbliebenen Mittel der Staatskasse opfern sollte. Ehe er sich in einer dramatischen Fernsehansprache von der politischen Bühne verabschiedete, bat er seine Anhänger, für "den Genossen Nicolás Maduro" zu stimmen. Es war sein letzter öffentlicher Auftritt, ehe er nach Kuba reiste, um seine Krebserkrankung behandeln zu lassen. Er sollte nicht mehr lebendig zurückkehren.
Kaum merklich trat Venezuela genau in diesem Moment in die düsterste Phase dieses schmerzlichen Kapitels seiner Geschichte ein, wobei noch nicht klar ist, ob am Ende der Bankrott des chavistischen politischen Projekts oder jener des ganzen Landes stehen wird.
In seiner letzten Kampagne im Dezember 2012 erreichte Chávez 8 Millionen Stimmen, der Oppositionskandidat Henrique Capriles Radonski brachte es auf 6,5 Millionen. Es war spürbar, dass die Unterstützung für das chavistische Projekt langsam zurückging, doch mit dem Amtsantritt Maduros im März 2013 beschleunigte sich dieser Niedergang enorm. Nur einen Monat später verloren die Chavisten bei den Präsidentschaftswahlen 500.000 Stimmen. Maduro wurde mit knapp zwei Prozentpunkten Vorsprung zum Präsidenten ernannt, was seine relativ schwache politische Position offenbarte.
Nun bemerkten die Menschen in Venezuela, was sich hinter den teuren Shows mit ihrem immer gleichen Moderator verbarg. Ohne Budget und ohne Popularität wurden hinter der Fassade zunehmend die Mauern der Gefängnisse sichtbar, ebenso der Tod vieler Menschen, etwa bei den Protesten im April 2013, die mit einer Bilanz von 7 Toten, 61 Verletzten und 135 Festnahmen endeten. Zugleich wuchs die Gewissheit in der chavistischen Wählerschaft, dass der neue Amtsinhaber nicht in der Lage sein würde, den Fortbestand der "bolivarianischen Revolution" zu sichern.
Der Wendepunkt war kaum eineinhalb Jahre später erreicht. Bei den Parlamentswahlen vom 6. Dezember 2015 sollte das Oppositionsbündnis Mesa de la Unidad Democrática 7,7 Millionen Stimmen erzielen, die chavistische Koalition Gran Polo Patriótico Simón Bolívar hingegen nur 5,6 Millionen Stimmen. Die Chavisten hatten innerhalb von weniger als drei Jahren beinahe 2,5 Millionen Stimmen verloren.
Die Opposition erhielt bei diesen Wahlen 112 von 167 Sitzen der Nationalversammlung, eine Mehrheit, mit der sie die Kontrolle über die gesamte Gesetzgebung übernehmen konnte. Nicolás Maduro war außer Rand und Band und drohte, er werde "nicht zulassen, dass die Rechte ihren faschistischen Wahl-Staatsstreich zu Ende" bringe.
Je mehr Zeit verging und je komplizierter die wirtschaftliche Lage im Land wurde, desto autoritärer wurde Maduro, desto stärker und kompromissloser reagierte er auf Widerspruch und Proteste. Zugleich heizten seine wirtschaftlichen Maßnahmen die Inflation an, verschärften die Versorgungslage, verschlimmerten die Korruption und verschlechterten so die Lebensqualität weiter.
Die Regale der Supermärkte und Apotheken leerten sich zusehends. Die durch die Zerstörung der nationalen Produktion entstandenen Probleme wurden noch schlimmer, weil die Regierung die verbliebenen, mehr oder weniger gut bestückten Geschäfte beschuldigte, Waren zu horten, um das Land zu destabilisieren und bei jeder Schlange vor einem Supermarkt oder einer Bäckerei den Staatsstreich fürchtete. Die Reaktion des Regimes war kafkaesk: Es verbot die Schlangen und die leeren Regale, woraufhin die Händler, um nicht ins Visier der Behörden zu geraten, anfingen, die Produkte am vorderen Rand der Regalbretter aufzureihen. Dahinter war Leere.
Doch bei manchen Regalen war es nicht möglich, das Vorhandensein von Ware zu simulieren – zum Beispiel, wenn darauf Medikamente stehen sollten, die teuer in Dollar bezahlt werden mussten und über das öffentliche Gesundheitssystem verteilt wurden. Ihr Fehlen brachte viele Patienten, die nun nicht mehr versorgt waren, dazu, das Land zu verlassen, um zu überleben.
So war es auch im Falle der zwölfjährigen Zwillinge Sebastián und Jesús Navas, die an der erblichen Gerinnungsstörung Hämophilie B litten.
Und der Notfall trat ein. Sebastián erlitt, nachdem er beim Spielen mit seinen Freunden gestürzt war, an seinem linken Bein eine Hämarthrose am Knie, die mangels Medikamenten nicht rechtzeitig behandelt werden konnte. Das Gelenk schwoll an wie ein Tennisball, und es sah aus, als würde jeden Moment die Haut platzen.
Die venezolanische Hämophiliegesellschaft gibt an, dass seit 2016, dem Jahr, in dem die Faktor-IX-Lieferungen zum Erliegen kamen, in Venezuela mindestens 44 Menschen an ihrer Hämophilie gestorben sind. Allein im ersten Halbjahr 2008 starben acht Personen, die an der gleichen Erkrankung litten wie Jesús und Sebastián. Um nicht ebenfalls in diese Statistik einzugehen, entschied sich die Familie Navas, zu emigrieren. Doch sie konnten nicht alle gemeinsam gehen, sodass Rafael schließlich im März 2018 allein mit seinen beiden Söhnen die Staatsgrenze zwischen Venezuela und Kolumbien auf der Simón-Bolívar-Brücke überquerte. Sebastián konnte nicht mehr gehen und bewegte sich im Rollstuhl fort. Der Vater gab ihm ein Kissen, damit er sein Knie vor den Menschenmassen, die über die Brücke strömten, schützen konnte.
Sie blieben in Zipaquirá, einem Ort im Norden der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. Dort erhielten die Söhne die lebensrettende Behandlung. Vier Monate später die legte Mutter, Kanthaly Ordoñez zusammen mit ihrer vierjährigen Tochter die 1090 Kilometer zurück, die sie von ihren Lieben trennten.
Längst nicht alle Kinder haben so ein Happy End erlebt. Das Krankenhaus José Manuel de Los Ríos, das die wichtigste kindermedizinische Abteilung Venezuelas beherbergt, ist zum Schauplatz zahlloser tragischer Geschichten geworden. Vom 1. Dezember 2018 bis zum 8. Januar 2019 starben fünf Kinder zwischen fünf Monaten und 14 Jahren, weil sie Breitbandantibiotika benötigten, die im Krankenhaus fehlten. Im ersten Quartal 2019 starben außerdem Mariángel Romero, Frandyson Torrealba, Harold Alcalá, Víctor Pacheco und Nohemí Oliveros, allesamt Patienten der Abteilung für Nierenkrankheiten. Die Organisation Prepara Familia gibt an, dass 2017 aufgrund von Infektionen 24 chronisch nierenkranke Patientinnen und Patienten verstorben sind. Allein im Mai 2019 starben vier krebskranke Kinder, die dringend eine Knochenmarktransplantation benötigten, die sie aber – auch aufgrund fehlender medizinischer Infrastrukturen – nie bekamen: Giovanny Figuera (6 Jahre alt), Robert Redondo (7), Yeiderbeth Requena (8) und Erick Altuve (11).
Wahleskalationen
Seit dem Moment, als sie die Wahlen 2015 verloren hatte, suchte das chavistische Regime nach Möglichkeiten, die Nationalversammlung als Gesetzgebungsorgan zu entmachten. Daher rief diese im April 2017 zu einem Protestmarsch auf, was in der Bevölkerung enormen Anklang fand und zu einer vier Monate langen, enormen Welle von Protesten führte, in deren Verlauf Venezuela alle nur erdenklichen Formen der Repression erleben konnte: Menschen wurden öffentlich verprügelt, auf der Straße ermordet oder entführt; in Zivil gekleidete Bewaffnete gingen auf Bürgerinnen und Bürger los, es gab illegale Razzien, Gebäude wurden zerstört, es wurde gefoltert und geplündert.
Die Proteste 2013 hatten mit einer Bilanz von sieben Toten geendet, die Proteste 2014 diese Zahl auf 43 erhöht. 2017 kam es zu rund 4000 Verhaftungen und 120 Morden. Zehn dieser Opfer wurden, so wie auch Daniela Salomón, am 30. Juni 2017 getötet, dem Tag der Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung. Zu den Unregelmäßigkeiten des Wahlverfahrens gehörte, dass es kein allgemeines, sondern ein sektorenspezifisches Wahlrecht gab, und dass keine Ratifikation durch die Wahlberechtigten vorgesehen war. Sogar die Vertreter des Unternehmens Smarmatic, das bis zu diesem Jahr das elektronische Wahlsystem zur Verfügung gestellt hatte, klagten über Unregelmäßigkeiten beim Wahlvorgang.
Die Verfassungsgebende Versammlung, die letztlich unter der ausschließlichen Kontrolle der Parteigänger von Maduro stand, berief die Präsidentschaftswahlen von 2018 ein. Dabei waren die wichtigsten Oppositionsfiguren inhaftiert oder wurden festgesetzt, einigen wichtigen politischen Parteien wurde die Teilnahme verweigert und eine externe Wahlbeobachtung und -beurteilung durch Vertreter internationaler Organisationen fand nicht statt.
Nachdem im Mai 2018 nur zwei wenig repräsentative Oppositionskandidaten angetreten und mehr als 60 Prozent der Wahlberechtigten den Urnen ferngeblieben waren, erklärte der Nationale Wahlrat Nicolás Maduro zum Sieger. In vielen Ländern der Region wurden die Wahlergebnisse ungeduldig erwartet. Der entscheidende Tag war der 10. Januar 2019, der Tag, an dem das Ende der Amtszeit von Nicolás Maduro vorgesehen war. Als dieser die Petitionen von Dutzenden Staaten, die ihn aufgefordert hatten, keine weitere Amtszeit anzutreten, ignorierte und erneut die Macht ergriff, führte dies dazu, dass diese Länder ihn nicht (mehr) als Präsidenten anerkannten und er fortan als Usurpator bezeichnet wurde.
In der Folge kam es zu Protesten in verschiedenen venezolanischen Städten, insbesondere in den Armenvierteln, wo die Menschen am meisten unter den Folgen seiner Wirtschaftspolitik zu leiden haben. Nacht für Nacht kam es in jenen ersten Januartagen zu immer größeren Demonstrationen der Opposition. Maduro schickte daraufhin die Fuerzas de Acciones Especiales (FAES) in die Viertel, eine schnelle Einsatztruppe der Nationalpolizei, deren Mitglieder in schwarzer Kleidung, maskiert und mit Gewehren bewaffnet daherkommen und auf dem Ärmel ein Totenkopfsymbol tragen. Systematisch unterdrückte die FAES Proteste, indem sie die Viertel übernahm, in denen die Demonstrationen geplant worden waren und mithilfe von Verteilungslisten des staatlichen Lebensmittelprogramms jene Anwohner, die an den Protesten teilgenommen hatten, in ihren Wohnungen suchten. Es gab mehrere Tote, einige Menschen verschwanden spurlos.
Unterdessen wählte die Nationalversammlung den Abgeordneten Juan Guaidó als ihren Präsidenten für die 2019 beginnende Legislaturperiode. Angesichts des Machtvakuums, das durch das Fehlen eines Staatspräsidenten entstanden war, erklärte dieser sich zum Interimspräsidenten, bis wieder die Bedingungen hergestellt seien, um neue Wahlen zu organisieren. Dabei unterstützte ihn die Mehrheit der europäischen und amerikanischen Staaten. Am 23. Januar 2019 rief Guaidó die Bürgerinnen und Bürger auf, in ganz Venezuela zu demonstrieren, um Maduro so unter Druck zu setzen, dass er seine Usurpation beendete. Die Menschen folgten dem Aufruf und strömten in die Straßen, die FAES übernahmen gemeinsam mit Bewaffneten in Zivilkleidung und vermummten Motorradfahrern in der nun einsetzenden neuen Unterdrückungswelle die Hauptrolle.
Während Guaidó inmitten einer Massendemonstration und ohne Zwischenfälle in Caracas seinen Amtseid als Interimspräsident ablegte, erlebten die Menschen im Zentrum von San Cristóbal im Bundesstaat Táchira erneut grauenhafte Dinge: Der imposante Oppositionsmarsch, der den Bolívar-Platz erreicht hatte, löste sich unter den Schüssen von Bewaffneten in Zivilkleidung und Mitgliedern der FAES auf. Alle rannten und suchten Deckung. In kürzester Zeit wurden Dutzende Verletzte in das Zentralkrankenhaus der Stadt gebracht – allesamt von Kugeln getroffen. Es gingen Gerüchte um, zwei von ihnen seien gestorben.
Lorena Evelyn Arraíz, Journalistin mit mehr als einem Jahrzehnt Erfahrung als Hochschullehrerin an der Universidad de Los Andes, kam in einem Chat unter Journalisten an die Namen der Verstorbenen. Nachdem sie Nachrichten von besorgten Studierenden erhalten und den Namen eines der beiden Verstorbenen korrigiert hatte, musste sie feststellen, dass der andere, Luigi Guerrero, 24, ihr Student gewesen war. Als er starb, befand er sich in der letzten Woche seines Studiums. Angesichts der für ihn unerträglichen Situation im Land hatte er überlegt, mit seiner Mutter und seiner Großmutter nach Kolumbien zu gehen. Er hatte den beiden sogar vorgeschlagen, zuerst dorthin zu gehen, doch die Mutter wollte lieber warten, bis er seinen Abschluss hatte, um dann gemeinsam auszuwandern.
Samuel Enrique Méndez hingegen hatte gar nicht daran gedacht, das Land zu verlassen, obwohl sein Vater, der in Peru lebte, ihn immer wieder darum gebeten hatte. Doch eine Entscheidung wurde den beiden aus der Hand genommen. Samuel lebte in der Stadt La Victoria, 90 Kilometer von Caracas entfernt. Auch dort folgten die Menschen am 30. April dem Aufruf von Guaidó, auf die Straße zu gehen, um einen gerade stattfindenden Militäraufstand zu unterstützen. Es entstand eine Menschenmenge, die Flaggen trug, pfiff und auf Töpfe schlug, um den Aufstand zu unterstützen. Immer mehr Tränengas lag in der Luft. Die Repression unter dem Kommando zivil gekleideter Bewaffneter verwandelte den Protestmarsch in einen Höllentrip. Die Zivilen schossen nicht nur, sondern ergriffen und verprügelten jeden jungen Menschen, den sie nur zu fassen bekamen – unter den Augen der Polizei, die sich zurückzog und sie gewähren ließ.
Einer von jenen, die diesen Gruppen nicht entkamen, war Samuel. Sie prügelten gnadenlos auf ihn ein und brachten ihn dann in das Wohngebiet Ciudad Socialista La Mora. Zwei Stunden, nachdem sie ihn entführt hatten, übergaben sie ihn seinen Freunden, durchgeprügelt und blutüberströmt, ohne Hemd und ohne Schuhe. Aus nächster Nähe hatten sie ihm in die Brust geschossen und so seine Wirbelsäule zerstört. Seine Freunde riefen einen Rettungswagen, doch sie warteten vergebens auf ihn. Als sie Samuel selbst ins Krankenhaus gebracht hatten, war er schon tot.
Warten auf das 21. Jahrhundert
Das Land und die staatlichen Dienste befinden sich mitten in einer humanitären Krise. Ende 2018 erreichte die Inflation 1.700.000 Prozent. 2019 wird die Zahl der Auswanderer auf vier Millionen steigen. Trotz alledem klammert sich Maduro an seine Macht. In diesem Jahr hat die Unterdrückung der Proteste bereits 50 Menschen das Leben gekostet. Inmitten dieses andauernden Belagerungszustandes kam es im März 2019 zu zwei landesweiten Stromausfällen, die zeigten, dass fehlende Investitionen, enorme Korruption und Vernachlässigung zum Kollaps der Infrastruktur geführt haben. Da die Krankenhäuser keine Notstromaggregate haben, sterben bei jedem Stromausfall Patienten, die gerade eine Dialyse oder künstliche Beatmung erhalten oder deren Operation plötzlich unterbrochen werden muss.
In Venezuela gehen unweigerlich die Lichter aus. Dies ist kein metaphorisch gemeinter Satz, das können die Menschen in Mene Grande bezeugen, einem Ort im Bundesstaat Zulia, der besonders unter der mangelnden Stromversorgung leidet. Im Juli 1914 hatte dort die venezolanische Erdölförderung ihren Anfang genommen.
Luz Marina Pavón kann etliche Nachbarn nennen, die in den letzten Monaten aus ihrer Straße weggezogen sind. Mene Grande ist ein Dorf, das sich langsam entvölkert. Nach den zwei Stromausfällen, die weite Teile Venezuelas fünf Tage lang ins Dunkel getaucht haben, ist die Versorgung vielerorts nicht mehr so verlässlich wie vorher. In einigen Orten nimmt der Notstand extreme Ausmaße an. Luz Marina gibt an, sie habe bis zu 14 Tage Stromausfall ertragen müssen, und das bei Temperaturen von mehr als 30 Grad. Nur der jüngste ihrer fünf Söhne wohnt noch bei ihr. Die anderen vier leben verstreut in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá und bitten ihre Mutter unablässig, diesen dem Untergang geweihten Ort zu verlassen, an dem einst die Zukunft Venezuelas beginnen sollte.
Außerhalb von Caracas ist den Menschen vielerorts nichts anderes übriggeblieben, als sich zurück ins 19. Jahrhundert zu begeben. So gingen die erwähnten Stromausfälle im März an den Bewohnern von Chacopata, einem Dorf im östlichen Bundesstaat Sucre, völlig vorbei. Sie konnten sie gar nicht bemerken, weil sie selbst bereits seit 50 Tagen keine Elektrizität mehr hatten.
Das ist Venezuela im Jahr 2019. Millionen Menschen überleben irgendwie das Desaster, versuchen sich an hunderten Formen des Widerstandes, müssen aber auch geliebte Menschen beerdigen oder in die Emigration verabschieden. Im Ausland versuchen Millionen, sich eine neue Existenz aufzubauen und den Daheimgebliebenen zu helfen. Sie alle sehnen den Augenblick herbei, in dem Venezuela endlich das 21. Jahrhundert erreicht.
Übersetzung aus dem Spanischen: Jan Fredriksson, Herzberg am Harz.