Einleitung
Kinderarmut gibt es nicht nur in armen Ländern, auch in den wirtschaftlich am weitesten entwickelten Staaten ist diese noch immer in nennenswertem Umfang zu finden. Ungeachtet des mehrere Jahrzehnte beinahe stetigen Wirtschaftswachstums und des steigenden Pro-Kopf-Einkommens leben in diesen Ländern heute noch mehrere Millionen Kinder in prekären Einkommensverhältnissen.
Hierbei sollte weniger die Tatsache, dass es arme Kinder gibt, Anlass zur Sorge bereiten. Denn die vorherrschende Definition von Armut als relativer Armut verhindert per definitionem das vollständige Verschwinden von Kinderarmut. Anlass zur Sorge bereitet vielmehr der zum Teil erhebliche Anstieg der Kinderarmut.
Häufig ist ein Heranwachsen in Armut mit gesundheitlichen Problemen, Lernschwierigkeiten, niedrigeren Schulabschlüssen, einer höheren Wahrscheinlichkeit delinquenten Verhaltens oder mit späterer Arbeitslosigkeit verbunden. Im schlimmsten Falle kann sich dies zu einer sich selbst verstärkenden Spirale der Armut über mehrere Generationen entwickeln.
Während die Untersuchung der Kinderarmut in einzelnen Ländern vor allem Aufschluss über besonders stark von Armut betroffene Gruppen liefern kann,
Hierzu werden zunächst einige stilisierte Fakten zur Kinderarmut im Ländervergleich präsentiert, zusammen mit der Entwicklung familienbezogener Sozialausgaben, mit sozio-demografischen Trends und der Arbeitsmarktsituation. Anschließend werden diese in einem einfachen Regressionsmodell empirisch analysiert, um den jeweiligen relativen Erklärungsbeitrag dieser potenziellen Determinanten der Entwicklung der Kinderarmut zu ermitteln. Abschließend werden diese Befunde zusammengefasst und Schlussfolgerungen angeboten.
Kinderarmut in den OECD-Staaten
In den OECD-Staaten variiert der Anteil an armen Kindern, das heißt der Personen unter 18 Jahren, die in Haushalten mit weniger als der Hälfte des Medianeinkommens leben,
Die niedrigsten Raten der Kinderarmut innerhalb der OECD weisen die skandinavischen Länder auf, während die USA und Mexiko die Schlusslichter darstellen. Deutschland befindet sich hier im Mittelfeld. In den letzten zehn Jahren ist die Rate der Kinderarmut in 17 von 24 OECD-Staaten zum Teil deutlich gestiegen. Im Durchschnitt fiel dieser Anstieg jedoch geringer als in Deutschland aus.
Abbildung 2 der PDF-Version verdeutlicht den armutsverringernden Einfluss des staatlichen Umverteilungssystems. Die hellen Balken zeigen die Kinderarmutsrate basierend auf dem Haushaltseinkommen vor Steuern und Sozialtransfers, während die dunklen Balken die Kinderarmutsraten basierend auf dem Haushaltseinkommen nach dem staatlichen Eingreifen wiedergeben. Im Durchschnitt aller Länder reduziert das staatliche Eingreifen durch Steuern und Transferleistungen die "marktbedingte" Kinderarmutsrate um rund 40 Prozent.
Auch in diesem Zusammenhang sind deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen OECD-Staaten erkennbar. Während staatliche Interventionen in Dänemark dafür sorgen, dass die tatsächliche Kinderarmut nur rund ein Fünftel der "marktbedingten" beträgt, sind in Mexiko, den Niederlanden, Portugal, der Schweiz und auch den USA kaum Unterschiede zwischen beiden Raten der Kinderarmut erkennbar. Deutschland liegt auch hier im Länderdurchschnitt. Miles Corak, Michael Fertig und Markus Tamm jedoch zeigen, dass der armutslindernde Einfluss des Steuer- und Transfersystems in Deutschland im Zeitablauf gesunken ist.
Abbildung 3 der PDF-Version veranschaulicht die Entwicklung der Ausgaben für familienbezogene Transferleistungen relativ zum Bruttoinlandsprodukt für ausgewählte OECD-Staaten. Hieraus wird ersichtlich, dass diese Ausgaben in den skandinavischen Ländern vergleichsweise hoch sind und deutlich über dem Durchschnitt der OECD-Staaten liegen. Im Gegensatz hierzu sind Familientransfers in den USA und Mexiko sehr niedrig. Die Ausgaben für solche Sozialleistungen hängen also offenbar am oberen und unteren Ende der Verteilungen der Kinderarmutsraten stark mit der Höhe der Kinderarmut zusammen. Allerdings wird auch ersichtlich, dass Großbritannien relativ zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) etwas mehr Geld für familienbezogene Transferleistungen ausgibt als Deutschland, dabei allerdings eine um etwa 50 Prozent höhere Kinderarmutsrate aufweist.
Zeitgleich mit dieser Entwicklung der familienbezogenen Sozialausgaben lassen sich auch einige sozio-demographische Trends beobachten, die ebenfalls zur Erklärung der Entwicklung der Kinderarmutsraten beitragen können. So ist beispielsweise im Laufe der neunziger Jahre der Anteil an Kindern in Haushalten von Alleinerziehenden im Länderdurchschnitt um knapp einen Prozentpunkt auf 12 Prozent gestiegen. Darüber hinaus lässt sich für die durchschnittliche Familiengröße eine moderate Zunahme beobachten. Ferner führte der demographische Wandel zu einer leichten Alterung der Gesellschaften, die sich in einem niedrigeren Jugend- und einem höheren Altenquotienten niederschlägt. Die Arbeitsmarktsituation in den OECD-Staaten hat sich demgegenüber im Durchschnitt etwas verbessert. Im Durchschnitt der OECD-Länder waren zu Beginn der neunziger Jahre noch rund 10 Prozent aller Personen im erwerbsfähigen Alter arbeitslos. Ende der neunziger Jahre bzw. zu Beginn des neuen Jahrtausends betrug die durchschnittliche Arbeitslosenquote dann nur noch 7,5 Prozent.
Im nächsten Abschnitt wird nun empirisch der Frage nachgegangen, welchen Einfluss familienbezogene Transferleistungen auf die Kinderarmut im Ländervergleich haben. Gleichzeitig wird untersucht, inwieweit sozio-demographische Trends und die jeweilige Arbeitsmarktsituation zur Erklärung der Unterschiede in den Kinderarmutsraten über die OECD-Staaten hinweg beitragen können.
Einfluss familienbezogener Transfers
Für die empirische Untersuchung in diesem Beitrag wurden aus diversen Datenquellen Informationen über einzelne OECD-Staaten zur Kinderarmut und ihren potenziellen Erklärungsfaktoren zusammengestellt. Um einen möglichst vergleichbaren Datensatz über die Länder hinweg zu erhalten, haben wir uns dabei auf zwei Zeitpunkte konzentriert: zum einen auf ein relativ aktuelles Jahr (um 2000) und zum anderen auf ein Jahr Anfang/Mitte der neunziger Jahre. Selbst für diese beiden Zeitpunkte ist die Sammlung vollständig vergleichbarer Informationen noch recht schwierig und nicht flächendeckend möglich.
Unsere Stichprobe umfasst daher folgende 22 Staaten, für die vergleichbare Daten im angegebenen Zeitraum gesammelt werden konnten:
Skandinavische Staaten: Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden;
Angelsächsische Staaten: Australien, Kanada, Irland, Großbritannien und USA;
Osteuropäische Schwellenländer: Tschechische Republik, Ungarn und Polen;
Mediterrane Staaten: Griechenland, Italien und Spanien;
Benelux-Staaten: Belgien und Niederlande;
Kontinentaleuropäische Staaten: Österreich, Frankreich, Deutschland und Schweiz;
Sonstige Staaten: Mexiko.
Für diese OECD-Staaten liegen neben der zu erklärenden Rate der Kinderarmut (in Prozentpunkten) im angegebenen Zeitraum folgende Informationen vor, die potenzielle Erklärungsfaktoren von Kinderarmut im Ländervergleich darstellen:
Ausgaben für Familientransfers relativ zum Bruttoinlandsprodukt (BIP);
Durchschnittlicher Anteil der Kinder in Haushalten von Alleinerziehenden;
Durchschnittliche Familiengröße in Anzahl der Köpfe;
Jugendquotient, d.h. Anteil der unter 20-Jährigen relativ zu den 20- bis 59-Jährigen;
Altenquotient, d.h. Anteil der über 59-Jährigen relativ zu den 20- bis 59-Jährigen;
Arbeitslosenquote in Prozentpunkten.
Zusätzlich hierzu wurden Indikatoren für die oben genannten Ländergruppen konstruiert. Diese nehmen jeweils den Wert 1 an, wenn ein Staat zu einer bestimmten Ländergruppe gehört; sonst den Wert 0. Die Indikatoren sollen dazu dienen, nicht beobachtbare länderspezifische Faktoren, welche die Höhe der Kinderarmut beeinflussen, aufzufangen. Alle diese potenziellen Erklärungsfaktoren werden im Rahmen eines multivariaten Regressionsmodells analysiert. Dies bedeutet, dass sie simultan berücksichtigt werden, um ihre jeweilige relative Erklärungskraft ermitteln zu können.
Die Ergebnisse der Schätzung von vier Spezifikationen des Modells sind in der Tabelle (vgl. PDF-Version) zusammengefasst. Modell I enthält neben einer Konstanten nur die familienbezogenen Transferleistungen (relativ zum BIP des jeweiligen Landes) als Erklärungsfaktor. In Modell II werden zusätzlich die Ländergruppenindikatoren als erklärende Variablen in die Spezifikation aufgenommen, um für ländergruppenspezifische Unterschiede zu kontrollieren, die nicht mit den Transferleistungen zusammenhängen. Modell III erweitert das zweite Modell um sozio-demographische Erklärungsvariablen. Schließlich wird in Modell IV noch um den möglichen Einfluss der Arbeitsmarktsituation in den jeweiligen Ländern kontrolliert, indem die Arbeitslosenquote als erklärende Variable mit aufgenommen wird.
In dieser Tabelle finden sich zum einen die geschätzten Koeffizienten für die einzelnen Erklärungsvariablen, die den durchschnittlichen Zusammenhang zwischen denselben und der Rate der Kinderarmut über die Länder hinweg angeben. Zum anderen wird auch der so genannte t-Wert jedes geschätzten Koeffizienten dargestellt, der eine Beurteilung der Zuverlässigkeit der Schätzungen erlaubt. Da die durchgeführten empirischen Analysen auf einer Stichprobe, also nur einem Teil aller OECD-Länder beruhen, ist es durchaus möglich, dass der geschätzte Zusammenhang zwischen beispielsweise familienbezogenen Transfers und Kinderarmut rein zufällig zustande kommt, also nicht systematisch ist. Der t-Wert gibt das Ergebnis eines statistischen Tests wieder, der eine Aussage darüber erlaubt, ob der geschätzte Koeffizient nur zufällig von Null verschieden ist. Alle in der Tabelle durch Fettdruck hervorgehobenen t-Werte kennzeichnen Koeffizienten, für die mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit die Befürchtung verworfen werden kann, dass der zugehörige geschätzte Koeffizient nur zufällig von Null verschieden ist. Schließlich sei hier auch darauf hingewiesen, dass angesichts der sehr kleinen Beobachtungsanzahl bei der Interpretation der Ergebnisse Vorsicht geboten ist.
Die Schätzergebnisse für Modell I weisen auf einen statistisch signifikanten und quantitativ bedeutsamen Einfluss familienbezogener Transfers auf die Kinderarmut hin. So würde demnach eine Erhöhung der Transferleistungen um einen Prozentpunkt mit einer Reduktion der Kinderarmutsrate um durchschnittlich 4,5 Prozentpunkte einhergehen. Diese Schätzung lässt außer Acht, dass neben Transferleistungen auch noch andere potenzielle Erklärungsfaktoren existieren. Diese werden in den Modellen II-IV sukzessive berücksichtigt.
Alleine die Berücksichtigung von ländergruppenspezifischen Faktoren (Modell II) lässt bereits den Einfluss der Transferleistungen auf weniger als die Hälfte zusammenschmelzen. Die Ländergruppenindikatoren selbst sind hochsignifikant und weisen einen erheblichen quantitativen Einfluss auf die Kinderarmutsrate auf. Im Vergleich zur Referenzgruppe, den skandinavischen Ländern, liegen die Kinderarmutsraten in allen anderen Ländergruppen deutlich höher und sind nicht auf die Unterschiede in den familienbezogenen Transfers zurückzuführen. Dies legt den Schluss nahe, dass in den einzelnen Ländergruppen Faktoren existieren, die aufgrund der unzureichenden Datensituation nicht direkt berücksichtigt werden können, aber gleichzeitig einen starken systematischen Zusammenhang mit Kinderarmut besitzen.
Die Berücksichtigung sozio-demographischer (Modell III) und arbeitsmarktbezogener (Modell IV) Erklärungsfaktoren reduziert den Einfluss familienspezifischer Transferleistungen weiter. Die Schätzergebnisse der endgültigen Spezifikation (Modell IV) legen den Schluss nahe, dass eine Erhöhung der Ausgaben für familienbezogene Transfers (relativ zum BIP) um einen Prozentpunkt die Kinderarmutsrate unter sonst gleichen Umständen nur um etwas mehr als einen Prozentpunkt verringert. Gleichzeitig wird ein statistisch signifikanter und quantitativ bemerkenswerter Zusammenhang zwischen den sozio-demographischen Erklärungsfaktoren und der Kinderarmutsrate deutlich, wohingegen überraschenderweise die Arbeitslosenquote keinen systematischen Einfluss auf die Kinderarmutsrate aufweist. Da insbesondere Kinder in Haushalten von Alleinerziehenden von Armut betroffen sind,
Abschließend sei angemerkt, dass sowohl die geschätzte Höhe als auch die Signifikanz einzelner Koeffizienten teilweise merklich davon abhängen, welche Erklärungsfaktoren im Modell konkret berücksichtigt werden. Werden zusätzliche Variablen in das Modell mit aufgenommen, etwa der Ausländeranteil, die Beschäftigtenquote oder die staatliche Investitionsquote, so sind diese insignifikant. Da diese Daten außerdem nur für wenige Länder verfügbar sind, wurde hier auf ihre Berücksichtigung verzichtet.
Schlussfolgerungen
In diesem Beitrag wurden einige stilisierte Fakten der Entwicklung der Kinderarmut in den OECD-Ländern präsentiert und deren potenzielle Erklärungsvariablen (Familienpolitik, sozio-demographische Trends und Arbeitsmarktsituation) empirisch untersucht. Die empirischen Analysen beruhten auf einer recht schmalen Datenbasis, was bei der Beurteilung der Ergebnisse einschränkend berücksichtigt werden muss. Für eine belastbarere Analyse wäre neben einer breiteren Datenbasis noch eine bessere Abbildung des familienbezogenen Politikeinsatzes in den einzelnen Staaten notwendig. Letzteres setzt wiederum vergleichbare Daten zu beispielsweise der Verfügbarkeit von Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder der Ausrichtung von Transferleistungen voraus.
Die im Beitrag präsentierte empirische Evidenz lässt gleichwohl den Schluss zu, dass Kinderarmut mit Hilfe familienpolitischer Maßnahmen bekämpft werden kann. Allerdings scheint eine Erhöhung familienbezogener (monetärer) Transferleistungen nur bedingt dazu geeignet zu sein, einen signifikanten Beitrag zur Verringerung von Kinderarmut zu leisten. Unsere Schätzergebnisse legen den Schluss nahe, dass eine Erhöhung der Ausgaben für familienbezogene Transfers um einen Prozentpunkt des BIP die Kinderarmutsrate um etwas mehr als einen Prozentpunkt verringert. Eine Erhöhung der Transferleistungen in dieser Größenordnung würde beispielsweise in Deutschland eine fünfzigprozentige Anhebung dieser Sozialausgaben bedeuten, was in etwa Mehrausgaben von zehn Milliarden Euro gleichkommt. Eine solche Ausgabensteigerung dürfte angesichts knapper Kassen nur schwerlich umsetzbar sein. Daher erscheint eine stärkere Fokussierung der Transferleistungen, etwa auf dem Wege einer Vergabe des Kindergeldes nach Bedürftigkeit, einen erfolgversprechenderen Weg zur Reduzierung der Kinderarmut darstellen.
Des Weiteren deutet die hohe Erklärungskraft der Ländergruppenindikatoren darauf hin, dass Kinderarmut insbesondere auch auf Faktoren zurückzuführen ist, für die in dieser Untersuchung aufgrund der unzureichenden Datenlage nicht kontrolliert werden konnte. Dies beinhaltet unter anderem nicht-monetäre Unterstützungen für Familien, wie beispielsweise Möglichkeiten zur Kinderbetreuung, und sonstige wirtschaftliche und gesellschaftliche Gegebenheiten. Das gute Abschneiden insbesondere der skandinavischen Länder sollte daher Anlass dazu geben, die institutionellen Regelungen dieser Länder genauer zu untersuchen.