Einleitung
Bevor Dimitré Dinev mit seinem Roman "Engelszungen", dem sprachlich strahlendsten, inhaltlich wichtigsten und literarisch schönsten Buch, das man derzeit über Bulgarien lesen kann, berühmt wurde, war er für die Bürger seiner österreichischen Wahlheimat nur ein "Tschusche". So nennen die Wiener jene Menschen, die "von irgendwo da unten" kommen, vom Balkan. In den südslawischen Sprachen meint tschuschd zwar ganz neutral "fremd" oder "ausländisch"; doch da so ein "Tschusche" seine südosteuropäische Heimat vor allem seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in der Regel ausexistenzieller Not verlässt, ist er bei seiner Ankunft in "Europa" ein Habenichts. Und wenn er selbst schon mittellos ist, kann es - so der naive Kurzschluss - mit dem natürlichen oder kulturellen Reichtum seines Heimatlandes nicht weit her sein. So eine Ignoranz "rassistisch" oder "diskriminierend" zu nennen, nur weil man sich näher mit den Balkanländern und seinen Menschen befasst hat, wäre böswillig; es handelt sich vermutlich ebenso schlicht wie unschön um jene allzumenschliche Distanzierung derer, denen es besser geht, von jenen, denen es schlechter geht.
Man hört auch in Deutschland in den Nachrichten "von da unten" meist nur Unerfreuliches wie Erdbeben, ethnische Bürgerkriege oder Schießereien unter Mafiabanden. Der Balkan - das ist entweder ein Pulverfass oder ein Fass ohne Boden, auf alle Fälle ein Raum an der Peripherie Europas, der wirtschaftlich oder politisch nicht wichtig genug ist, als dass wir Genaueres über ihn wissen müssten, obwohl Bulgarien und Rumänien aller Voraussicht nach Anfang 2007 der Europäischen Union (EU) beitreten werden.
Über diese Ignoranz weiß Dinev eine erhellende Anekdote zu erzählen. Sie stammt aus jenen Jahren in Österreich, in denen er um die Aufenthaltsgenehmigung, um Arbeit, um einen Studienplatz, um seine Zukunft als Schriftsteller bangen musste. Er lebte seit seiner Flucht aus Bulgarien 1990 vorwiegend auf der Straße, um keine jener überlebenswichtigen Informationen zu verpassen, die unter den Ausländern zweiter und dritter Klasse kursierten. Natürlich wurde jeder von jedem gefragt, wo er herkomme, schon allein deshalb, weil die Herkunft entscheidende Bedeutung für den Kurswert hatte, den er auf dem halblegalen oder illegalen Arbeitsmarkt besaß. Einmal, als Dinev von einem österreichischen Obdachlosen gefragt wurde, aus welchem Land er stamme, machte er ein Ratespiel daraus: "Ich werde dir sagen, woran mein Heimatland grenzt, und du sagst mir dann, wie es heißt: Im Norden, an der Grenze zu Rumänien, fließt die Donau; im Osten liegt das Schwarze Meer; im Süden befinden sich Griechenland und der europäische Zipfel der Türkei; und im Osten die ehemals jugoslawischen Republiken Mazedonien und Serbien." Der Mann überlegte. Schließlich blickte er Dinev verwirrt an und stieß ratlos hervor: "Aber ... da ist doch nichts!"
Bei der Erinnerung an diese Begebenheit bricht Dinev heute in schallendes Gelächter aus. Wie viel dort - schon allein in menschlicher Hinsicht - ist, davon hat er Zeugnis abgelegt in einem Buch, das auf 400 Seiten angelegt war und am Ende auf fast 600 kam, und das lag am überbordenden Reichtum der Geschichten um die beiden Protagonisten Iskren und Svetlju (der "Funke" und der "Leuchtende"). Es ist zwar richtig, dass es den Menschen in Bulgarien - und keineswegs nur den Zigeunern vom Volk der Roma - so schlecht geht, dass mehr als ein Drittel einer sozialstatistischen Umfrage der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften aus dem Jahr 2005 zufolge angegeben haben, dass ihr Ziel für dienächsten Jahre "einfach nur Überleben" heiße. Doch auf die Frage, was wir von der bulgarischen Lebenskultur lernen könnten, weiß Dinevs österreichische Lebensgefährtin, die mit uns in einer rustikalen Sofioter Gaststätte sitzt und keineswegs blind ist für die Not im Lande, eine schöne Antwort: "Mir machen der Optimismus und die Lebenszuversicht der Menschen hier, die sie trotz aller Probleme haben, unglaublichen Eindruck!"
Warum halte ich es nun schon so viele Jahre in einem Land aus, in dem die pure Beobachtung der Lebensmühen vieler Menschen ausreichen könnte, um in Depressionen zu verfallen? Bulgarien ist eine Kur für deutschen Kulturpessimismus, ein Sanatorium für jene überstrapazierte Seele, die sich am individualistischen Leerlauf zu sich selbst erschöpft hat. Meine ersten Versuche, dem bulgarischen Alltagsleben näher zu kommen, befassten sich mit jenem spezifischen Savoir vivre, das der westlichen Sehnsucht nach Authentizität und Lebendigkeit Nahrung gibt. Und so sehr ich inzwischen weiß, wie viele Projektionen Westeuropäern den Zugang zu einem Verständnis des Lebens auf dem Balkan verstellen: Der Zusammenhang zwischen archaischer Lebendigkeit und der Weigerung, unter dem Druck des Forderungskatalogs von Seiten der EU-Kommission jene rationalistisch-stromlinienförmige Denk- und Lebensweise anzunehmen, unter der wir bisweilen so sehr stöhnen, scheint mir nichts von seiner Gültigkeit eingebüßt zu haben. Wer es zynisch findet, "aufzuleben" unter Verhältnissen, wie sie allen Maßstäben jener "europäischen Wertegemeinschaft" widerspricht, die Frieden und Freiheit sagt und oft nur Wohlstand und Konsum meint, verfällt dem einseitigen Bild, das von Journalisten präsentiert wird, die mangels Sprachkenntnissen mit Übersetzer durchs Land reisen und eine "Betroffenheitsreportage" abliefern, die zwar nicht falsch ist, aber in jenem umfassenderen Sinn, den das Wirkliche hier noch besitzt, von einer anderen Armut zeugt: der Armut einer Objektivität des Augenscheins.
Was wir in solchen Reportagen erfahren, sind Geschichten von zerfallenden Wohnblocks, korrupten Politikern und mafiotischen Banden, die in neuen Nobelkarossen und Landrovern durch die Straßen jagen, ferner Elendsgeschichten von Bettlern, die auf dem Witoscha-Boulevard, Sofias Hauptgeschäftsstraße, vor den edlen Auslagen sitzen und dank der guten Ausleuchtung durch die südliche Sonne hervorragend zu fotografieren sind. Die Bettler haben ihre festen Plätze. Der Blinde spielt den Kaval, eine Art Klarinette, die statt eines Mundstücks nur ein Loch hat, das ähnlich geblasen werden muss wie eine Querflöte. Vor dem Seiteneingang des ehemals staatlichen Kaufhauses ZUM, des Zentralen Universalen Magazins, sitzt der Junge mit dem verdrehten Fuß und dem steifen Kniegelenk im kaputten Rollstuhl. Und etwas weiter die zeitgenössische Pietà, eine Zigeunerin mit Kleinkind, die jedem Passanten, der nicht ganz streng dreinblickt, hinterher ruft: "Dajte, Gospodine, njakakwa Stotinka mi dajte, Bog da vi pazi - Eine milde Gabe, der Herr, ein paar Stotinki, bitte, Gott möge Sie schützen!"
Aber was ist mit dieser anständig gekleideten Passantin mit dem verhärteten Gesicht, die man auf zehn Jahre älter schätzen würde, als sie tatsächlich ist: Fragt sie sich gerade, ob sie noch genügend Geld hat, um ihrem Kind morgen eine Scheibe Wurst aufs Schulbrot zu legen? Hoffentlich hat Bojko von Stojan die 100 Lewa geliehen bekommen für die Heizkostenrechnung. Das Telefon ist bereits abgestellt. Die große Tochter, die mit Beziehungen und Bestnoten auf dem Deutschen Gymnasium den Sprung an eine deutsche Universität geschafft hat, war krank. Da hat man sich ein paar Auslandsgespräche geleistet. Schon war die Rechnung, die sich sonst um die 15 Lewa (bei zehn Lewa Grundgebühr) bewegt, auf 115 Lewa geschnellt. Wo sollten die herkommen? Zumal Bojko, wie leider viele bulgarische Männer, irgendwann genug davon hatte, zu Hause immer nur Klagen zu hören. Jetzt kommt er von der Arbeit in der Reparaturwerkstatt oft nicht mehr nach Hause. Sitzt da mit "Kollegen" in dieser schäbigen Kneipe, raucht zwei Schachteln "Victory" zu 2,60 Lewa (umgerechnet etwa 1,35 Euro) am Tag. Schüttet Bier und Schnaps in sich hinein. Bis er die nötige Bettschwere und kein Geld mehr hat.
Das Auto, mit dem sie noch im vergangenen Herbst aufs Dorf zu Oma und Opa gefahren sind, um den Kofferraum mit burkani, Einweckgläsern mit Tomaten, Gurken, gebackenem Paprika, Marmeladen, hausgemachtem Wein und Schnaps, Paprikapaste und großen Köpfen Weißkohl (den man zu Hause in großen Fässern ansäuern wird) zu beladen, steht ohne Benzin vor der Haustür. Gelegentlich meldet es sich via Alarmanlage, wenn ein Passant zu nah daran vorbeigeht, mit markerschütterndem Gejaule. Wie ein geschlagener Hund. Einer von den Tausenden, die herrenlos durch Bulgariens Städte laufen und nachts in die Müllcontainer springen, um sich dort Brotreste und andere Essensrückstände herauszuholen. Tagsüber gehören diese Container den Rentnern und den Zigeunern. Die Rentner schlurfen in Mänteln herbei, die sichtlich länger als 20 Jahre ihren Dienst tun, und ziehen das Altpapier heraus. Sie setzen sich mit ihren stinkenden Bündeln und ihren preiswerten Monatskarten in den Bus, fahren zur nächsten Papiersammelstelle und bekommen dort für ein Kilo Altpapier fünf Stotinki, das sind etwa 2,5 Euro-Cent. Das sind schon Summen, wenn man mit einer Rente von 60 bis 100 Lewa auskommen muss. Bei sparsamer Haushaltung reicht die für einen Becher Joghurt und ein halbes Brot täglich. Einige tun es den Hunden gleich: Sie schauen sich kurz um, ob keiner hinsieht, dann fischen sie sich den Rest einer Teigtasche doch noch heraus und verschlingen ihn.
Die Zigeuner - wie viele gibt es in Bulgarien, 500 000? 700 000? -, von denen nach Schätzungen 80 Prozent arbeitslos sind, sind gründlicher. Sie fahren mit ihren hölzernen Wagen mit dem eingeschirrten Maulesel oder dem Klappergaul vor, suchen neben Papier und Pappe nach Altglas, Holz, Metallstücken und Rohren, Kleidung und Haushaltsgegenständen und kutschieren ihr Gefährt durch den brausenden Innenstadtverkehr wie ein UFO aus der Vergangenheit zurück zu einem der ziganski machali, der Barackenviertel, in denen sie völlig segregiert ihr Dasein fristen. Die EU, die Bulgarien zur Auflage gemacht hat, seine Minderheiten zu integrieren, bevor es aufgenommen werden kann, weiß nicht, wie das mit Menschen vor sich gehen soll, die in einer völlig anderen Werte- und Wirtschaftswelt leben als die "bürgerlichen" Bulgaren und die darin ebenso konservativ verharren wollen wie jene in ihrer. Territoriales Denken, das mit dem Betreten eines Stückes Erde bürgerliche Pflichten und Rechte mit sich bringt, ist ihnen, die in der festen sozialen Hierarchie ihrer Clans und Großfamilien leben, fremd. Da ist es nicht damit getan, sie "Sinti und Roma" statt Zigeuner zu nennen; da werden bloß pejorative durch ethnische Stigmatisierungen vertauscht.
Kehren wir zur "normalen" Frau zurück, die ihre Armut nicht zeigt. Es würde ihren Stolz verletzen, als studierte Geologin, die jetzt in einem Souterrain als Friseurin arbeitet, zu den Armen gezählt zu werden: Eine Familie mit zwei Kindern benötigt etwa 800 Lewa monatlich, das sind mehr als 400 Euro - und das, obwohl viele Familien noch Wohneigentum haben aus Todor Shivkovs Zeiten. Das Durchschnittseinkommen von derzeit 340 Lewa gibt aufgrund einer kleinen, gut verdienenden Schicht nicht die tatsächlichen Einkommensverhältnisse wieder. Eine Verkäuferin etwa darf mit 120 bis 300 Lewa im Monat rechnen. Der Taxifahrer, der mich vorsichtig fragt, was ich von Bulgarien halte und den ich dann - fast schon so misstrauisch wie er - zurückfrage, welches Bulgarien er meine, bringt es auf maximal 500 Lewa. Dafür fährt er 16, 18 Stunden am Tag. Zu Hause sitzen drei Kinder, und seine Frau bekommt keine Arbeit.
In den zahllosen Cafés, Restaurants und Lädchen mit Süßwaren, Limonaden und Zigaretten bedienen vorwiegend junge Frauen bis zum 25. Lebensjahr und mit möglichst ansprechendem Äußeren. Von einem eigenen Leben in einer eigenen Wohnung können sie nur träumen. Sie wohnen in der Regel in der Zwei- bis Dreizimmerwohnung ihrer Eltern auf durchschnittlich 50 bis 80 Quadratmetern. Geheiratet wird, wenn die Eltern der Brautleute den mladoshenzi eine Wohnung zusammengespart haben. Und weil das immer seltener klappt, bleiben immer mehr junge Leute ledig. Die durchschnittliche statistische Kinderzahl liegt bei knapp über der Ziffer 1, etwa die Hälfte von ihnen kommt unehelich zur Welt, da eine Ehe kaum mehr soziale Sicherung bedeutet. In einem Land, dessen Denkstrukturen aus der Vergangenheit auch in der Hauptstadt noch ausgesprochen wirksam sind, ist das eine Schmach. Die Frage nach dem Nachwuchs hat elementare Dimensionen angenommen. Von den neun Millionen Einwohnern Mitte der achtziger Jahre sind 7,8 Millionen übrig geblieben. Die eine Hälfte dieser guten Million ist emigriert, die andere Hälfte ist gestorben, auch verhungert, erfroren - meist Rentner.
Diese Lage wird von den Bulgaren umso tragischer empfunden, als im orthodoxen Kulturraum die Familie mit Kindern noch immer an oberster Stelle der Werteskala steht. Gott, das Brot und die Familie - das ist die Heilige Trinität. Trotz der Warenflut aus dem Westen und 50 Kabelprogrammen, die die weite Welt auf Bildschirmformat bringen - klein genug für das kleine Bulgarien -, sind die festesten Bande nach wie vor die Familien. Dazu zählen auch kum und kuma, Trauzeuge und Trauzeugin. Diese sind nicht notwendige Übel beim Verwaltungsakt "Standesamtliche Trauung", sondern Vertrauenspersonen, die bei familiären Problemen eher noch als die Eltern zu Rate gezogen werden. Eine Bekannte erzählte mir, dass neulich eine Frau unangemeldet bei ihr aufgetaucht sei. Sie war schon auf dem Weg zum Flughafen, um in die USA zu fliegen, wo ihr Mann arbeitete. Sie hatte den Verdacht, dass er dort fremdgehe, aber sie habe nicht fliegen wollen, ohne sich vorher noch mit ihrer kuma, der Mutter meiner Bekannten, beraten zu haben.
Ohne die Frauen geht nichts. Ich habe als freischaffender Ausländer verblüfft festgestellt, dass vier der fünf tragfähigen Freundschaften, auf die ich mich im Falle einer Notlage wohl verlassen könnte, Freundschaften zu Frauen sind. Im Unterschied zu den meisten Männern, die mich ziemlich rasch und unverblümt um kleine oder größere Gefälligkeiten bitten, geht es den Frauen um eine verlässliche und kommunikativ interessante Beziehung, die sich gern auf den Bereich gegenseitiger Hilfeleistung ausdehnen darf. Und da sie diejenigen sind, die die täglichen Probleme in der Familie zu lösen haben, unterscheiden sie sehr genau, ob das Problem wirklich existenziell ist oder nicht. Wenn ja, und wenn ihnen der Kontakt Freude bereitet, setzen sie alle Hebel in Bewegung, um zu helfen. Nicht, dass die Männer hinter einer Machofassade schlechte Kerle wären. Sie bitten dich auch nicht nur deshalb um eine Gefälligkeit, weil du aus Deutschland kommst. Nein, das Wedeln mit "Verbindungen", die sie spielen lassen könnten, gehört zu ihrem Mannsein. Du kommst aus Deutschland? Dann könntest du doch mal, wenn du das nächste Mal hinfährst, beim örtlichen Fiat-Händler nach einer Kurbelwelle für meinen 1978-er fragen. Oder gleich nach einem guten "Gebrauchten". Wenn du gesagt hättest, du fährst morgen nach Varna, hätte er dich um etwas gefragt, was man halt dort und nur dort bekommt.
Armut überall, und dann jeder ein Handy, auch die Frauen? Das Mobiltelefon spart die Büromiete. "Handy" kommt in Bulgarien nicht von "handlich", sondern von "handeln": Es ersetzt den Terminkalender. In so einem skapana darschawa ("verfaulten Staat", liebevolle Erinnerung an den faulenden Kommunismus) sind Terminkalender Papierverschwendung. Sich darüber zu ärgern, dass etwas, was vor länger als einer Stunde vereinbart wurde, nicht funktioniert, ist bei der Fülle der möglichen unvorhersehbaren Ereignisse sinnlos. Im Leben, auf der Straße, im Bus, in der klapprigen Straßenbahn, im Taxi, auf dem Markt, im Café, im Hauseingang musst du flexibel sein: Jede noch so winzige Gelegenheit, an etwas Fehlendes heranzukommen, ist eine günstige.
Was braucht der Mann neben einem Handy sonst: ein Auto, eine Lederjacke, eine Reservepackung Zigaretten (besser "Marlboro" oder "Davidoff" als "Bulgartabak"). Darüber - nicht über Familiäres - spricht man beim Backgammon in der Eckkneipe. Wo man "anschreiben" lassen darf. Wo man aber, wenn man "hat", auch großzügig sein muss: Großzügigkeit ist die netteste Art, die Größe des eigenen Territoriums zu zeigen. Und dass es der Frau zu Hause an etwas mangelt, lässt man sich nicht nachsagen. Wenn es irgendwie geht, kriegt sie das traumhafte Wohnzimmer, das sie sich auf dem Sonntagsspaziergang angeschaut haben. Wenn es irgendwie geht, wird die Villa im Gebirge demnächst mit Paneelen verkleidet, "und dann kommt ihr alle zu Gast", und der Tisch wird sich - bulgarische Gastgeberehre - biegen unter der Last der Speisen und Getränke, die alle auf einmal aufgetragen werden, damit keiner der Gäste in die peinliche Verlegenheit kommt, nach etwas fragen zu müssen. Doch seit etwa sieben, acht Jahren hat "Mann" nicht mehr, er muss immer vertracktere Leih- und Tauschstrategien entwickeln, um dies noch zu bekommen, wenn er jenes dafür organisiert, eruiert, initiiert. "Mann" kann nicht mehr einladen: drug pet - ein andermal!
Nun hat der Sohn auch noch zu studieren begonnen. Unter 300 Lewa im Monat läuft nichts. Die Abiturfeier, obwohl man Jahre darauf sparte, hat ein großes Loch in die Haushaltskasse gerissen, denn als Grundstock zur höheren Bildung hat das Abitur in Bulgarien einen unglaublichen Wert und wird gefeiert wie drei runde Geburtstage auf einmal. "Lernen" ist, trotz der Tatsache, dass die meisten Universitätsabsolventen keine Stelle finden, noch immer das Tor zur Welt, die Bedingung der Möglichkeit einer menschenwürdigen Existenz; denn wenn man gut ist - und bulgarische Studenten sind im Ausland dafür bekannt -, könnte es der Sohn nach Kanada oder in die USA schaffen, oder wenigstens nach Deutschland, Großbritannien oder, zunehmend, nach Südafrika. Die Universität Russe, an der er jetzt studiert, bietet ein Ingenieurs- und Informatikstudium auf Weltniveau. Absolventen finden verhältnismäßig leicht Arbeitsplätze im Ausland. Natürlich sieht der Rektor diesen "brain drain", diesen istitschane na mosetzi, mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Er befördert den internationalen Ruf der Universität, aber der bulgarische Staat setzt damit das wenige, was er für Bildung ausgeben kann, in den Sand, da es dereigenen Volkswirtschaft nicht zugute kommt. Was sollen seine Lieblingsstudenten tun, wenn Russe, einst eines der führenden Schwerindustriezentren Bulgariens mit der 2,8 Kilometer langen, doppelstöckigen Donaubrücke und einem der größten Donauhäfen, stirbt? Jetzt hofft er, dass es mit dem Bulgarisch-Rumänischen Interuniversitären Europazentrum vorangeht, das, von der deutschen Hochschulrektorenkonferenz initiiert, mittelfristig nicht nur bulgarischen und rumänischen Studenten ein Studienjahr an Partneruniversitäten in Deutschland ermöglichen, sondern auch Studenten aus dem europäischen Ausland anziehen soll. Überdies soll es den Grundstock zu einer Euroregion Russe-Giurgiu legen, um die Anziehung europäischer Strukturfördermittel zu erleichtern.
Die Löhne in Bulgarien sind niedrig. Was der bulgarische Mann verdient - wenn er bei jener Dunkelziffer, über die die offizielle Arbeitslosenquote von 9,8 Prozent hinwegtäuscht, überhaupt etwas verdient -, braucht er für sich, um den männlichen Minimalkonsens zu wahren. Denn der Mann ist das Bindeglied zwischen dem Innenraum des familiären Uterus und der Bühne der Öffentlichkeit in Dorf oder Stadtviertel. Die Frau versorgt Haushalt und Kinder und geht natürlich auch arbeiten - mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur abends zwischen 17 und 21 Uhr im Frisiersalon, sondern auch tagsüber, damit es wenigstens vorn reicht, dort, wo sich die Familie zur Gemeinschaft öffnet und sich zeigt: mit gut gekleideten und genährten Kindern, die gelernt haben, wie man sich benimmt, und die haben, was die anderen haben: "Opravim se njakaksi - wir schaffen's irgendwie!"
Aus dem bisher Gesagten könnte der Eindruck entstehen, dass die Männer das Straßenbild beherrschen und die Frauen das Haus hüten - war Bulgarien nicht einmal Teil des Osmanischen Reiches, der "europäischen Türkei"? Das ist aber keineswegs der Fall. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass die Männer in der Regel im Café zusammensitzen, während die Frauen, wenn sie es sich leisten können, Shoppen gehen oder Besorgungen machen, um die tausend kleinen Obliegenheiten des Alltags abzuwickeln. In Bulgarien werden Heizung, Strom, Wasser und Telefon noch immer an speziellen Schaltern in der Post oder den Zweigstellen der Wasser- und Stromversorger bar bezahlt. Die kleinen oder großen Rechnungen, Talons oder Zettelchen liegen teils in der Mitte, teils am Ende des Monats ohne Umschlag in den Briefkästen der Blockeingänge, und wenn es, wie in meinem Wohnblock, so ist, dass die meisten Briefkastentürchen abgerissen worden sind von Leuten, die nach dicken Briefen aus dem Ausland suchen, in denen vielleicht Geld steckt, der muss damit leben, dass seine Nachbarn genau wissen, wie viel er telefoniert oder geduscht hat.
Frauen bilden die Mehrzahl der Belegschaft in den Einzelhandelsgeschäften und gastronomischen Betrieben. Die Weiblichkeit wird mit allen Mitteln unterstrichen. Je größer der Kontrast zwischen den Geschlechtern, desto besser. Wer eine gute Figur hat, der zeigt sie; wer schönes Haar hat, der lässt es so lang wachsen, wie es nur irgend geht. Und wer kein schönes Haar hat, der lässt sich, wenn die 500 bis 1 000 Lewa aufzutreiben sind, eine Haarverlängerung machen. Denn langes, gesundes Haar heißt in Bulgarien: Ich bin die bessere Frau. Ich bin fruchtbarer. Ich bin stärker. Ich halte mehr aus. Was für Franzosen das Parfum ist, das ist für Bulgaren das Haar.
Weit entfernt davon, den Lebenshunger ihrer Töchter zu verurteilen, ist die allgemeine Haltung der Eltern den ditschitza, den "Kinderchen", gegenüber von größter Aufopferung geprägt. Alles, was man hat, soll den Kindern zugute kommen. So ist auch die Schönheit der devojki, der "Jungfräuleins", der ganze Stolz der Familie. Schulen für Mannequins und Fotomodelle laden schon Mädchen im Kindergartenalter dazu ein, das richtige Lächeln, den richtigen Schritt auf dem Catwalk hinzubekommen, denn mit spätestens 16 muss alles sitzen. Das Leiden der vielen "kleinen" Schönheiten, die nicht größer als 1,60 Meter sind, ist unaussprechlich. Sie sitzen resigniert und fasziniert vor dem Fernseher, wenn die Wahl der "Miss Bulgaria" übertragen wird, ein Ereignis, bei dem sich Jung und Alt darüber begeistern, "was für Schönheit es doch gibt in unserem kleinen Bulgarien". Diesem öffentlich zur Schau gestellten Schönheitsbedürfnis und dem auch bei den Schlagersternchen evidenten "Sex sells" entspricht zumindest bei den Älteren keineswegs eine libertinäre Gesinnung.
Der Kommunismus war auch deshalb so unbeliebt, weil er sich weder um schöne Autos noch um Mode gekümmert hat. Dem Bedürfnis nach phantasievoller Kleidung entspricht eine Unzahl kleiner Boutiquen, Stoffgeschäfte und Änderungsschneidereien. Sehr viele Bulgarinnen können selbst nähen, denn die subversivste Zeitschrift vor der Öffnung des Eisernen Vorhangs war nicht der "Spiegel", sondern die "Burda": Sie versprach die kleine Flucht aus allgegenwärtiger Uniformität, die schon mit der einheitlichen Schultracht begann. Jetzt sind vor den grauen Plattenbauten und den bröckelnden Gründerzeitfassaden im Zentrum Sofias die Farben explodiert. Jedes Geschäft, das Platz dazu hat, stellt seine Produkte vor die Tür; hinzu kommen an jeder Bushaltestelle farbig gestrichene Metallpavillons oder Büdchen, in denen Zigaretten, Pralinen, Billigelektronik, Zeitungen, Nüsse, Säfte, Limonaden und Alkohol verkauft werden. Eine gute Flasche Schnaps ist mit vier bis zehn Lewa billiger als eine gute Flasche Wein. Auch in vielen Plattenbauten am Stadtrand sind auf der Rückseite der Eingänge die Wände herausgebrochen, und ein Lädchen oder ein kleines Café hat eröffnet. In den vergangenen Jahren bekamen diese Mini-Cafés Konkurrenz von einer Unzahl von Kaffeeautomaten, die in Windeseile die Städte überzogen haben.
Das Savoir vivre der Bulgaren in den Zeiten fortschreitender Armut ist schnell umrissen: Es besteht darin, sich mit Bekannten zu einer Tasse Espresso in einem Mini-Café zu treffen, zu rauchen, zu erzählen und, wenn es der Geldbeutel erlaubt, ein Stück Torte, eine Tafel Schokolade, ein Hörnchen oder einen frittierten Teigring zu essen. Auf dem Weg zur Arbeit holt man sich für 40, 50 Stotinki eine zakuska, etwas aus Teig, auf die Hand: eine Teigtasche mit weißem Käse (nicht immer Schafskäse), tutmanik (ein weicher Zopfteig mit Käsefüllung) oder einen Hotdog; mittags sind Pizzen am beliebtesten, ein Pizza-Achtel für ein Lev, wobei der Durchmesser der Pizza beeindruckende 60 bis 70 Zentimeter beträgt. Die Männer ernähren sich eher von Fleisch, zwei bis drei Kebaptschen, Röllchen aus Hackfleisch mit Gewürzen - oder von einer kräftigen Kuttelsuppe. Dazu ein Bier und viel Brot. Eine Spezialität des Landes ist die bosa (bosaja heißt saugen), ein beigebraunes Gebräu aus Weizen, Wasser und Zucker; sie wird zur baniza, der Teigtasche, getrunken. Es ist dickflüssig und säuerlich, aber man gewöhnt sich daran. Die vielen Kohlehydrate, der Alkohol, das Rauchen und die unzähligen Tässchen gesüßten Kaffees, die der Bulgare jährlich trinkt, haben ihn an die erste Stelle der Herzinfarkte in Europa katapultiert.
Aber warum soll man lange schlecht leben? Es wird doch sowieso nicht besser. Die Politiker haben, so Volkes Meinung, seit der nationalen Befreiung vor 130 Jahren, seit der ersten Volksversammlung von 1879, immer nur das eine getan: sich selbst bereichert. Stefan Stambolov etwa hat als armer Schlucker in den Reihen der Revolutionäre unter Einsatz seines Lebens für die Befreiung Bulgariens gekämpft - und wenige Jahre später, als Ministerpräsident, war er ein gnadenloser Etatist, der das Volk schindete und sich nebenbei Häuser und ein Vermögen zusammendiplomatisierte. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Abgeordneten, alle 240, sind nach ein paar Jahren im Parlament gemachte Leute. Da wirkt der kleine Vers, in dem der Abgeordnete X der Leserschaft der Zeitung Y in einem Portrait als guter Vater nahe gebracht werden sollte, unfreiwillig entlarvend: "Spi, detenze sladko, / Deputat e tvojat tatko - Schlafe, mein süßes Kindelein, / dein Vater kam ins Parlament hinein!"
Diese Streiflichter über ein gar nicht so kleines Land (es hat die Größe der ostdeutschen Bundesländer) am südöstlichen Rand Europas mögen zeigen, dass dort, wo nichts mehr möglich zu sein scheint, immer noch das Unmögliche passieren kann. Reste archaischen Wunderglaubens, ungebrochene Traditionslinien und die vielen Fest- und Feiertage kirchlicher, staatlicher oder heidnischer Provenienz erzeugen ein Gefühl unterschwelliger Euphorie. Es ist, als ob unter sehr viel Asche immer noch sehr viel Glut loht.