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Autistische Nachbarn - Essay | Rumänien und Bulgarien | bpb.de

Rumänien und Bulgarien Editorial Autistische Nachbarn - Essay Rumänien und Bulgarien vor dem EU-Beitritt Historische Wurzeln der politischen Kultur Rumäniens Die geheimen Freuden des Provinzialismus Kann man Erinnerung lernen? Savoir vivre auf Bulgarisch

Autistische Nachbarn - Essay

Richard Wagner

/ 9 Minuten zu lesen

Rumänien und Bulgarien sind als autistische Nachbarländer für die südosteuropäische Peripherie nicht untypisch. Den Gesetzen des Randes folgend, blicken sie aneinander vorbei und gebannt auf das Zentrum.

Einleitung

"Jedes Volk", schreibt der Kulturphilosoph Mircea Vulcanescu in der Einführung zu seinem Essay "Die rumänische Dimension des Seins", "hat ein eigenes Antlitz und einen bestimmten Gesichtspunkt, von dem aus es die Welt betrachtet und für die anderen widerspiegelt. Jedes Volk macht sich ein Bild von der Welt und vom Menschen, in Abhängigkeit von der Dimension, in der sich ihm selbst die Existenz darstellt."



So ist fast jedes europäische Volk der Meinung, mindestens ein Wort zu haben, das sich nur unvollkommen übersetzen lässt. Im Rumänischen ist es das Wort "dor". Es wäre auf deutsch mit "Sehnsucht" nicht ganz getroffen. Ein unübersetzbares Wort ist eines, das gewissermaßen nur für seine Sprecher gilt. Siehaben damit ein kollektives Geheimnis. Das Wort aber wird zum Wappen der Originalität.

In der Erzählung "Die babylonische Sprachverwirrung" des ungarischen Schriftstellers Dezsö Kosztolanyi verbringt der Protagonist, Kornel Esti, 24 Stunden in Bulgarien, genauer im Schlafwagen des Zuges, mit dem er nach Istanbul fährt. Er spricht kein Wort bulgarisch, sieht man von dem Ausdruck für "ja" ab, aber er unterhält sich trotzdem die halbe Nacht mit dem bulgarischen Schaffner, indem er diesen zum Reden bringt und immer wieder zum Weiterreden animiert, und zwar dadurch, dass er in regelmäßigen Abständen auf bulgarisch ja sagt und sonst nichts. Er weiß nicht, was der Bulgare ihm mitteilt, obwohl er manchmal etwas zu verstehen meint. Während er mit seinem vielfachen Ja den Gesprächspartner stets von neuem bestätigt, weiß er im Grunde nie, was jener von ihm denkt.

Das hilfreiche wie irreführende Wort "da", also "ja", haben Rumänen und Bulgaren gemeinsam. Darüber hinaus haben die beiden Sprachen kaum etwas miteinander zu tun. Sie werden sogar in verschiedenen Alphabeten geschrieben; das Rumänische bedient sich der lateinischen Schrift, das Bulgarische des Kyrillischen. Die beiden Völker aber haben ein klar umrissenes Bild voneinander. Man lebt zwar in der Nachbarschaft des anderen, aber von der Donau getrennt und ohne aus dieser Nachbarschaft etwas Besonderes machen zu wollen.

Dieses Ohneeinander ist nicht zuletzt an den Donauhäfen an beiden Ufern zu beobachten. Jedes Land verwaltet die Donauschifffahrt für sich selbst. Rechts Vidin, links Calafat, rechts Nicopol, links Turnu Magurele, rechts Svistov, links Zimnicea, rechts Russe, links Giurgiu, rechts Tutracan, links Oltenita, rechts Silistra, links Calarasi. Keiner braucht die Häfen des anderen, keiner nutzt sie. So gibt es die gesamte Logistik zweimal. In den Zeiten des Kommunismus, als die Rhetorik vom "Bruderland" gepflegt wurde, waren die Ökonomien am deutlichsten voneinander separiert. Der Grenzfluss lag so weit abseits des öffentlichen Blicks, dass das größte politische Straflager Bulgariens auf einer Insel bei Belene eingerichtet werden konnte. Es war die berüchtigte "Insel der Vergessenen".

Die Donau ist ein Fluss mit starker Symbolkraft. Für die Bulgaren beginnt an der Donau Bulgarien, für die Rumänen der Balkan. Rumänien sieht sich in einer ostmitteleuropäischen Randlage, Bulgarien wiederum im Herzen des Balkans. Es ist wahrscheinlich das einzige Land, in dem der Begriff Balkan uneingeschränkt positiv besetzt ist und dementsprechend auch offiziell zum Einsatz kommt. In Bulgarien taugt der Balkan als Logo. Rumänien dagegen ist stets darum bemüht, nicht mit dem Balkan in Verbindung gebracht zu werden - als könnte dieser es um seine europäische Existenzberechtigung bringen. Dabei ist das Land kulturell vielfach mit dem Balkan verknüpft, nicht zuletzt durch Folklore und Gastronomie, vor allem aber durch die von Byzanz ausgerufene orthodoxe Religion und deren mentales Substrat. Rumäniens Sonderstellung ist nicht nur eine geographische auf beiden Seiten der Karpaten, die bekanntlich die mitteleuropäische Ostgrenze bilden, es ist eine dezidiert kulturelle. Bei den Debatten um den EU-Beitritt glaubten rumänische Kommentatoren in Brüssel eine "kalvinistische Konspiration" zu erkennen.

Rumänien ist das einzige Land mit einer romanischen Sprache im Südosten Europas und das einzige romanisch geprägte Land, das durch die Ostkirche christianisiert wurde. So gesehen ist es, jenseits der journalistischen Klischees, wirklich ein Land zwischen Ost und West, Melange und Hysterie in einem. Oder, wie es der kompromisslose Philosoph Émile Cioran formulierte: "Wozu brauchst du die Lepra, wenn das Schicksal dich wach und gleichzeitig zum Walachen gemacht hat?"

Trotz aller kulturellen Bindungen sieht man in Rumänien den Balkan vor allem als Bedrohung an. Überall wittert man bis heute die Gefahren der Turkokratie, ihre Spätfolgen oder vielleicht auch nur das negative Image, das damit zusammenhängt. Die Schriftstellerin Vesna Goldsworthy sieht den Balkan als Objekt einer westlichen Imaginations-Kolonisierung. Die rumänischen Fürstentümer befanden sich zwar über viele Jahrhunderte im osmanischen Einflussbereich, sie hatten aber in diesem eine Sonderstellung als tributpflichtige selbstverwaltete Territorien, im Unterschied zu den Balkanländern wie Bulgarien, die unter direkter osmanischer Administration standen.

Zwischen Rumänien und Bulgarien sind die Kontakte auch heute spärlich. Immer noch gibt es nur eine einzige Brücke auf der Donau zwischen den beiden Ländern, von den Stalinisten seinerzeit als "Brücke der Freundschaft" gefeiert. Sie führt von Russe nach Giurgiu, über sie verläuft der gesamte Güter- und Personenverkehr auf der Ostbalkanroute, von Istanbul nach Budapest, sieht man vom zeitlosen Fährenbetrieb an der unteren Donau ab. Eine zweite Brücke ist geplant, es ist aber vor allem ein europäisches Projekt, und das Interesse der beiden unmittelbar betroffenen Länder an seiner Verwirklichung erweist sich als auffallend gering.

Trotz der Sprachlosigkeit zwischen den beiden Ländern gibt es ein lautstarkes Konkurrenzverhalten. Rumänien ist doppelt so groß wie Bulgarien und hat zweieinhalb Mal so viele Einwohner. Es wacht argwöhnisch darüber, dass Bulgarien keinen Vorsprung, auf welchem Gebiet auch immer, erreicht. Bulgarien wiederum ist bemüht, in welcher Hinsicht auch immer, vor den Rumänen zu rangieren, in den Wachstumsraten, in den Touristenzahlen. Beinahe triumphierend hörte sich die Schlagzeile an, die eine große Bukarester Tageszeitung im Mai, nach der Veröffentlichung des verhaltenen Brüsseler Berichts zum EU-Beitritt der beiden Länder im Januar 2007, produzierte: "Rumänien verliert mit einer Karte aus der Hand Bulgariens", hieß es dort.

Beide Länder suchen Anerkennung beim europäischen Zentrum, bei der EU. Beide sind seit 2004 stolze NATO-Mitglieder und gehorsame Freunde der USA und deren Außenpolitik. Es ist ein für die Peripherie typisches Konkurrenzverhalten: Man rivalisiert miteinander, ohne mit dem anderen in den Wettbewerb zu treten. Die Rivalität nimmt bisweilen komische Züge an, zumal es kaum Belastungen in den Beziehungen gibt, weder historische noch aktuelle. Die Territorialfrage bezüglich der Süddobrudscha, die bis in die vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eine Rolle spielte, ist historisch gelöst. Das karge, dünn besiedelte Land ist ohne Geschichtssymbolik. In Rumänien wurde es offiziell Cadrilater genannt, Viereck, was kaum Emotionen erzeugen konnte.

Das politische Erbe der beiden Länder aus den vergangenen Jahrhunderten ist eine Last und wird auch so empfunden. Es geht um die osmanische und die sowjetische Herrschaft und den Versuch der europäischen Gestaltung dazwischen, vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Sowjetisierung. Diese Jahrzehnte, vor allem die Zwischenkriegsära von 1918 bis 1945, werden als Anknüpfungspunkt für die heutige Entwicklung beschworen. Wenn die osmanische und die sowjetische Herrschaft als Gründe für den Stillstand angesehen werden, so gilt die Zeit des Nationalstaats als Wiedergeburt der Nation im Zeichen der europäischen Moderne, als Aufbruchszeit. In beiden Ländern herrscht eine Neigung zur Glorifizierung der Nationalstaatsära. Dabei vergisst man gerne, dass der Anschluss an den europäischen Markt erst spät erfolgte und nie vollständig durchgesetzt werden konnte. Große Teile der Gesellschaft sind bis heute traditionell agrarisch geprägt, ein urbaner Mittelstand konnte sich in der Hektik der Anpassung an die Moderne nicht herausbilden. Nicht alle Ursachen für Lethargie und Korruption sind der osmanischen Europafeindlichkeit und dem stalinistischen Terror zuzuschreiben. Manches davon lässt sich auch auf das Tempo der Modernisierung von oben in der Nationalstaatszeit zurückführen. Auch daraus resultiert die Macht der Staatsbürokratie und eine fragwürdige Elitenbildung aus ihren Reihen. Der bevorstehende Beitritt zur EU erscheint als zweiter Aufbruch in die Moderne. NATO und EU sind dafür nicht nur der Rahmen, sie sollen vielmehr der Garant sein, dass es nicht wieder zu imperialen Blockaden der selbst angestrebten Perspektive kommt.

Wenig Interesse gibt es dagegen für die Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit. In beiden Ländern war das kommunistische System auffallend stark verankert, durch Repression im Stalinismus, durch Kollaboration und vor allem durch seine Fusion mit nationalistischer Rhetorik. Dabei war die Haltung zur Sowjetunion konträr. Wenn der rumänische Nationalismus sich, kulturhistorisch bedingt, antisowjetisch und antirussisch gebärdete, so war der bulgarische antitürkisch, er richtete sich vor allem gegen die zahlenmäßig große türkische Minderheit, wobei man 1986 sogar zur Bulgarisierung von Namen schritt und am Ende der Achtziger eine Massenvertreibung auslöste. Des Türken Macht ist des Bulgaren Elend, sagt eine Redensart.

In beiden Ländern hatte die Einverleibung des Nationalismus durch die einheimische Nomenklatura, angesichts der tiefen Krise des so genannten realen Sozialismus, Ventilfunktion. Während sich Rumänien früh von der Sowjetunion distanzierte - und das 1968 durch die Verurteilung des Einmarsches in die Tschechoslowakei sogar spektakulär -,verhielt sich Bulgarien ausdrücklich loyal, ja im osteuropäischen Vergleich geradezu devot. Den Rumänen erschien das Nachbarland als eine Art inoffizielle Sowjetrepublik. Unter den zahlreichen Gerüchten, die in Rumänien über Bulgarien zirkulierten, galt wohl als das schwerwiegendste jenes, das besagte, es gebe in Sofia einen Fernsehkanal in russischer Sprache. Es war eines der Gerüchte, die sowohl aus der Bevölkerung als auch von Ceausescus Geheimdienst Securitate stammen konnten. Je mehr sich die Versorgungslage in Rumänien verschlechterte, desto größer wurde das Bedürfnis des Regimes, vor der russischen Gefahr zu warnen. Die Nationalkommunisten suchten sich damit historisch gewachsene Emotionen und Ressentiments in der Bevölkerung zunutze zu machen. Die Verzweiflung der Bevölkerung aber erreichte Mitte der achtziger Jahre ein solches Ausmaß, dass man sich gegenseitig die neuesten Gerüchte von der guten Lebensmittelversorgung in Bulgarien zutrug. Mit etwas Glück ergatterte man manchmal in Bukarest bulgarischen Rotwein und Fischkonserven der Marke Sosopol oder gar eine Jazzplatte aus Sofia. Manche Bukarester fingen an, bulgarisch zu lernen, wegen des bulgarischen Fernsehprogramms. Rumänien war damals in der Vorstellung der Bevölkerung in vier Regionen aufgeteilt: Es gab den Südwesten, in dem man jugoslawisches Fernsehen sehen konnte, den Westen mit ungarischem Fernsehen, den Süden mit bulgarischem und den Rest des Landes mit dem Ceausescu-TV.

Offiziell kam es kurz vor dem Ende noch zum vorsichtigen Schulterschluss: Gorbatschow und seiner Perestroika gegenüber verhielt man sich in beiden Ländern reserviert, sowohl Rumäniens Diktator Nicolae Ceausescu als auch der bulgarische Alleinherrscher Todor Schiwkow lehnten sie ab, ohne sich offen dagegen auszusprechen. Ceausescu ignorierte die Reformen, Schiwkow begrüßte sie, in der Absicht, es bei der Rhetorik zu belassen. Beide wurden 1989 von der Realität überholt.

Ob sich durch eine EU-Aufnahme für die beiden Länder mehr Kommunikation untereinander ergeben wird, mehr als gemeinsam empfundene Interessen? Was die ökonomische Lage betrifft, sollte man sich keine Illusionen machen. Es wird auch für die EU ein Experiment sein. Noch nie lagen Wirtschaftsleistung und Pro-Kopf-Einkommen von Beitrittsländern und der EU-Durchschnitt so weit auseinander. Wie die Ökonomien der beiden Länder und damit auch ihre sozialen Systeme die Anpassung an den EU-Markt verkraften werden, muss sich zeigen. Das institutionelle Gefüge ist weiterhin ungefestigt, und die nötigen Reformen wurden zum Teil forciert, im Hinblick auf die Erfüllung der Beitrittsbedingungen, durchgeführt. Andererseits wird durch die Öffnung mit den Investitionen aus den Altländern der EU vieles an Problemen vorerst ausgeglichen werden, oder auch nur verdeckt. Neu aufgeworfen wird bei der sozialen Problematik durch den Beitritt der beiden Länder die Roma-Frage. Die Integration dieser Bevölkerungsgruppe ist für die EU bereits durch die Aufnahme Ungarns und der Slowakei zum Thema geworden. Die einschlägige Problematik wird sich verstärken, aber nicht verschärfen, auch wenn das Thema durch seinen telegenen Charakter in den öffentlichen Blick rücken wird.

Durch die Aufnahme der beiden Länder überschreitet die EU die ostmitteleuropäische Grenze. Sie erreicht aber auch eine Landverbindung nach Griechenland. Für die beiden orthodox geprägten Völker öffnet sich damit die Grenze zur Ägäis und zum Berg Athos. Die Kette der Klöster von der rumänischen Moldau bis ins bulgarische Rila und nach Roshen bei Melnik findet damit zu ihrem historischen Endpunkt zurück, zur Normalität. So gewinnt die politisch längst gescheiterte Orthodoxie ihren spirituellen Raum zumindest teilweise zurück. Europa baut seinen byzantinischen Teil aus. Ob und welche Vorteile es daraus ziehen kann, ist ungewiss. Gleichzeitig erreicht die EU auch das Schwarze Meer und wird dort zum regionalen Akteur in der unmittelbaren Nachbarschaft von Türkei und Ukraine.

In geopolitischer Hinsicht bildet das Scharnier, das nach Griechenland und zur türkischen Grenze gelegt wird, eine Öffnung zu weiteren Themen. Mit dem Legen dieses Scharniers wird der unruhige Westbalkan zum Binnenland der EU, mit Rumänien und Bulgarien können für die Länder des Westbalkans Beispiele für Stabilität vorgezeigt werden. Auf der anderen Seite öffnet das Schwarze Meer den Blick nach Kleinasien und in den Kaukasus - zu neuen Orten der Unruhe.

geb. 1952 im rumänischen Banat; Schriftsteller und Publizist, Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: RWagner030@aol.com