Einleitung
Die Frage nach der politischen Anwendbarkeit von Kulturdialogen ist allgegenwärtig - nicht nur innerhalb der breiten Bevölkerung, wo es den Anschein hat, als ob Kulturdialoge nur ein Gerede von "Gutmenschen" ohne politische Wirkung seien. Auch im Feuilleton schwingen sich manche Schreiber auf den Zug, der lauthals verkündet, Kulturdialog führe zu nichts und stehe "in einer langen Reihe von politischen Absichtserklärungen, deren einziges Ziel es ist, virtuelle Debatten zu erzeugen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben, dafür aber politisches und kulturelles Engagement simulieren".
Diese Vorwürfe machen deutlich, wie sehr ein Großteil der Öffentlichkeit in der Ausschließlichkeit der "Kampf-der-Kulturen-Debatte" gefangen ist. Die Kurzsichtigkeit und mangelnde Kenntnis über Funktion und Wirkung des Kulturdialoges wird vollends deutlich, wenn empört abgelehnt wird, dass dieser Dialog auf gleicher Augenhöhe und ohne Vorbedingungen erfolgen solle: "Würde jemand vorschlagen, Kannibalen und Vegetarier, Brandstifter und Feuerwehrleute, Drogendealer und Junkies sollten in einen Dialog miteinander eintreten, würde man ihm zur Ernüchterung kalte Fußbäder verordnen."
Abfällige Bemerkungen wie "Dialog-Industrie", "Dialogitis", "Goethe-Institut-Debatten" und "Phrasen-Allmacht" zeigen, wie wenig der Begriff für die Öffentlichkeit mit seinem Anspruch, Veränderbarkeit im politischen Raum zu erzeugen, einhergeht. Das größte Hindernis für die Akzeptanz des Kulturdialoges ist jedoch Ungeduld. Kulturdialog ist ein Prozess: eine Abfolge sich wiederholender, miteinander verknüpfter Aktivitäten zur Erstellung von Produkten oder Leistungen. Zentral ist wie bei jedem Prozess, dass sich die Abfolge wiederholen muss, damit die Leistung oder das Produkt erstellt werden kann: mehr Sicherheit, Systemstabilität, Aufbau von Integrationsmechanismen, Konfliktregulierung und Abbau von Denkbarrieren im Kulturkampf-Dogma zwischen der Mehrheits- und der Minderheitsgesellschaft (auf nationaler Ebene) und zwischen verfeindeten Zivilisationen (auf internationaler Ebene).
Zusammenprall der Zivilisationen
Jede Zivilisation
Solange ein Konflikt rationale Ursachen aufzuweisen hat wie den Zugang zu Wasser oder Rohstoffquellen, den Kampf um Territorien oder die berechtigte Forderung nach der Verteilung von Gütern und sozialen Leistungen oder nach Partizipation, könnte ein imaginäres Schiedsgericht die Lösung des Konfliktes nach Gerechtigkeitsaspekten beschließen. Ist der Konflikt jedoch völkisch, ethnisch, religiös oder gar zivilisatorisch begründet, so entstehen irrationale Kräfte, die Menschen aus dem eigenen, "gerechten" Sichtfeld in eine emotionale Position hineinkatapultieren, die politisiert und dadurch besonders konfliktlastig ist. Dies geschieht auf der internationalen Ebene, wo ein Zivilisationskonflikt zwischen "dem Westen" und "der islamischen Welt" diagnostiziert wird. Dies geschieht aber auch auf nationaler Ebene, wo eine immer stärkere Entfremdung zwischen muslimischen Migranten und der Mehrheitsgesellschaft spürbar wird, ausgedrückt durch Fremdenhass und Diskriminierung auf der einen und Abschottung, Aggression und "Parallelgesellschaften" auf der anderen Seite.
Bei Konflikten zwischen Zivilisationen lässt sich niemals eine einzelne Begründung als Krisenursache feststellen. Offensichtlich ist, dass jede der Zivilisationen sich selbst gegenüber der anderen als überlegen betrachtet. Diese Hierarchisierung ist Kernbestandteil des zivilisatorischen Zusammenpralls. In einem solchen politischen Moment befinden wir uns spätestens seit dem 11. September 2001. Die Forderung nach verstärkten Sicherheitsmaßnahmen auch militärischer Natur ist in Momenten der steigenden gesellschaftlichen Unsicherheit nachvollziehbar.
Der klassische Vorteil militärischer Konfliktregulierung liegt in der möglichen, schnellen und vollständigen Unterwerfung des Konfliktgegners zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Dies ist zumindest der Anspruch einer militärische Intervention. In der sicherheitspolitischen Debatte wird angeführt, dass im Kontinuum der Instrumentarien zur Friedensdurchsetzung die robustesten Mittel schneller und wirksamer seien. Erfahrungswerte, etwa in Afghanistan, im Irak oder in Somalia, beweisen jedoch das Gegenteil: Auch nach Beendigung der unmittelbaren militärischen Aktionen sind dort die Konflikte keineswegs beendet. Der islamistische Terrorismus ist ein Krieg um Werte, und dieser kann nicht militärisch ausgefochten werden. Es wird deutlich, dass interzivilisatorische Konflikte mit militärischen Konfliktlösungsformen nicht dauerhaft zu beheben sind, da der Konflikt sich, selbst nach einem augenscheinlich errungenen Sieg, auf eine latente Ebene zurückzuziehen droht und jederzeit als kollektives Trauma` wieder aktiviert werden kann.
Ähnliches gilt auch für die nationale Ebene: Die westlichen Industrienationen sind angreifbar und können sich gegen die internationalisierten Formen des Terrors nicht allein sicherheitspolitisch schützen, ohne dabei Grundprinzipien der liberalen Demokratie aufzugeben. Denn um einen sicherheitspolitischen Allroundschutz zu erringen, müsste ein Überwachungsstaat etabliert werden, was einer offenen demokratischen Gesellschaft, die es zu schützen gilt, zuwiderläuft. Demnach müssen die Möglichkeiten des Schutzes gegen Terrorismus in Alternativen zu einer verschärften Sicherheitspolitik gesucht werden. Auch für den Schutz der westlichen Gesellschaften wird der interzivilisatorischen Dialogführung eine aktivere Rolle als bisher zukommen müssen.
Kulturdialoge zur Konfliktregulierung
Kulturdialoge wirken deeskalierend, präventiv und langfristig. Sie werden auf nationaler und auf internationaler Ebene geführt. Ihr Ziel ist es, Gleichwertigkeit der Verhandlungspartner im Dialog herzustellen und der diagnostizierten Hierarchisierung von Zivilisationen entgegenzuwirken. Im jährlichen Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, der von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration herausgegeben wird, ist zu lesen: "Der Kern ausgrenzender Haltungen und somit auch Basis für fremdenfeindliche, rassistische und antisemitische Einstellungen ist die Vorstellung von der Ungleichwertigkeit` verschiedener Menschengruppen."
Es wird ein Dialog auf gleicher Augenhöhe gefordert - aber nicht ohne Forderungen. Vielmehr gehört die Formulierung von Forderungen zum fundamentalen Funktionskatalog von Kulturdialogen. Man spricht von Dialogen im Plural, da sie auf politischer, gesellschaftlich-kultureller und wirtschaftlicher Ebene geführt werden. Ziel der Dialoge ist ein Wertekonsens, der für beide Seiten einen verbindlichen Handlungsrahmen vorgibt, etwa das Primat der Verfassung oder die Religionsfreiheit. Es wird jedoch häufig unterstellt, dass es zwischen der westlichen und der islamischen Kultur einen solchen Wertekanon nicht geben könne. Dabei basieren Dialog und Argumentation auf dem Zielprinzip der konsensualen Einigung. Diese kann sich jedoch erst im Verlauf eines Streitgespräches, Diskurses, Dialoges entwickeln. Vorzugeben, welcher Konsens erreicht werden muss, damit der Dialog als erfolgreich gilt, hemmt die Konfliktparteien, sich in diesen Prozess hineinzubegeben. Dabei ist im Kulturdialog der Weg das Ziel.
Um den Kulturdialog in der Politik als konfliktregulierendes Modell zu etablieren und um Erwartungsstabilität und Planungssicherheit zu erlangen, müssen Möglichkeiten zu dessen Institutionalisierung geschaffen werden. Denn "Institutionen haben keine raum- und zeitspezifischen Bedingungen ihres Entstehens und Wirkens, und es ist ganz natürlich, dass sie sich nach dem Wegfall von Hemmnissen konsequent vertiefen und/oder erweitern. Je mehr die Institutionen Fuß fassen, desto mehr nehmen die Konflikte ab; Institutionen sind gleichbedeutend mit Fortschritt und politischer Kompetenz, Institutionen verkörpern erkenn- und nachahmbare Modelle guter politischer Ordnung."
Der interzivilisatorische Kulturdialog kann präventiv zur Konfliktregulierung beitragen, wenn Dialogforen zwischen den Zivilisationen auf internationaler und auf nationaler Ebene institutionalisiert werden. Mit der institutionellen Verankerung unterschiedlicher Dialogebenen kann das Verhältnis zwischen ehemaligen Konfliktgegnern stabilisiert werden und einen Entwicklungsprozess bilden, der bereits im Vorfeld Systemstörungen wahrnehmen und darauf reagieren kann.
Institutionalisierung der Kulturdialoge
Eine Institutionalisierung von Kulturdialogen findet auf mehreren Parallelebenen statt - auf der obersten Staatsebene ebenso wie auf der Grassroots-Ebene. Um die Institutionalisierung weiter voranzutreiben, müssen neben der staatlichen Ebene weitere geschaffen bzw. vertieft werden. Jeder dieser Systemstufen kommen unterschiedliche Bedeutungen und Ziele für die Realisierung einer friedlichen Konfliktlösung zu: Vorrangig sollen sie dazu beitragen, den interzivilisatorischen Kulturdialog auf gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Ebene zu institutionalisieren.
Im Folgenden skizziere ich in Anlehnung an den Multi-Track-Ansatz
Der angestrebte Dialog kann jeweils auf einer Einzelebene geführt werden, die Systemstufen laufen jedoch auf eine Vernetzung hinaus. Es besteht keine Verpflichtung, auf allen Ebenen gleichzeitig zu kommunizieren. Somit entsteht für den interzivilisatorischen Kulturdialog der positive Effekt, dass selbst bei einem Kommunikationsabbruch auf einer Ebene nicht sämtliche Kommunikationskanäle verschlossen werden, was eine Normalisierung der Beziehungen erleichtert. Hierbei ist die Rolle von Führungspersönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft für die Transformation eines interzivilisatorischen Konfliktes ebenso wichtig wie die Rolle interner Akteure, die unmittelbar von den Konflikten betroffen sind. Diese "parteilichen Insider" müssen aus verschiedenen Sektoren der Zivilgesellschaft heraus für die aktive Konfliktverhütung mobilisiert werden.
Der Staats- und Regierungsebene wird bei der internationalen Institutionalisierung von Kulturdialogen die Führungsfunktion zugestanden. Nur auf dieser Ebene können internationale Abkommen geschlossen werden. Involviert sind politische und militärische Führungspersonen als Repräsentanten der staatlichen Ebene der Konfliktparteien. Zu dieser Führungsgruppe zählen auch supranationale Institutionen wie die Vereinten Nationen, die EU oder die OSZE. Aber auch für den Kulturdialog auf nationaler Ebene ist die Staatsebene entscheidend, so z.B. bei der Formulierung von Gesetzen zur Integration von Migranten.
Professionelle Verhandlungsführung ergänzt die Regierungsebene und verläuft parallel zur offiziellen Diplomatie.
Auf der Wirtschaftsebene werden Unternehmen angesiedelt, die die Möglichkeit haben, Beiträge zu einer friedlichen Lösung eines interzivilisatorischen Konfliktes zu leisten. Wirtschaftliche Kooperation kann eine funktionale Sachlogik bei Konfliktparteien erzeugen, die den Weg für den Ausbau weiterer Beziehungen ebnen kann. Die internationale business community hat in den vergangenen Jahrzehnten weltweit an Gewicht gewonnen, etwa aufgrund der Rolle, die ihr beim Aufbau der Entwicklungsländer zukommt, denn durch die Anhebung des Wirtschaftsstandards eines Landes mittels Investitionen wird mancherorts bereits ein Beitrag zur Konfliktreduzierung geleistet. Wirtschaftsunternehmen können auch konflikthemmend wirken, indem sie androhen, bei aufkommenden Konflikten das Land zu verlassen: Nicht zuletzt ist es die Wirtschaftswelt, die über das Kapital verfügt, welches für eine künftige Konfliktvermeidung notwendig ist. Der Dialog findet in dem Habitus statt, der für die Wirtschaftswelt charakteristisch ist, also in Form von gemeinsamen Programmen für private Unternehmensstrategien, Entwicklungszusammenarbeit oder kooperativer Wirtschaftsberatung. Ein Großteil der Wirtschaft profitiert von Sicherheit, Planbarkeit und Verlässlichkeit, was in Friedenszeiten eher gewährleistet wird.
Natürlich gibt es auch sehr viele Wirtschaftszweige, die von Kriegen und Konflikten profitieren; darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden.
Auf der Ebene nicht-staatlicher Bürgerinitiativen/NGOs kann ein großer Teil der Bevölkerung in den Kulturdialog eingebunden werden. Hier sind aktive NGO-Gruppen und Stiftungen ebenso präsent wie bilateral arbeitende Berufs- oder Kulturgruppen. Die Rolle dieser vierten Ebene für den interzivilisatorischen Dialog ist vor allem deswegen von großer Bedeutung, da in ihr in großem Maße idealistisch geprägte Vorstellungen verfolgt werden. Dies ist in den ersten drei Ebenen weniger der Fall, wo Dialog und Konfliktresolution stets mit der Realisierung eigener Vorteile in Verbindung stehen (was im Falle eines positiven outcome nicht beklagt werden soll). Allerdings sieht sich diese vierte Ebene am häufigsten dem Vorwurf ausgesetzt, sie sei zu einer "Dialog-Industrie" geworden, die letztlich "heile Welt" spiele. Zu den Aktivitäten gehören Initiativen von Bürgerinnen und Bürgern, die in staatlichen, wirtschaftlichen und nebenstaatlichen Aktionen das notwendige Engagement vermissen. Der dialogische Ansatz bezieht sich vorrangig auf die Herstellung von Kontakten zwischen Angehörigen der antagonistischen Gruppen. Ziel ist die Wiederherstellung einer Verständigung und die Herstellung einer funktionalen Kooperation. Dies geschieht z.B. durch kulturübergreifende Trainingsprogramme, die Ausbildung von Führungskräften, wissenschaftliche und studentische Austauschprogramme, Bürger-Austauschprogramme im kulturellen Bereich oder technische Zusammenarbeit auf internationaler Ebene.
Bereits institutionalisierte Dialogprojekte begleiten Kulturinstitute wie das Goethe-Institut Inter Nationes oder auch Stiftungen, die aktiv einen interzivilisatorischen Austausch fördern, wie das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa). Außerdem zählen berufliche Vereinigungen wie der Schriftstellerverband PEN, der sich weltweit für bedrohte Schriftsteller einsetzt und international und interzivilisatorisch organisiert ist, oder bilateral arbeitende Berufsgruppen wie die deutsch-iranische Rechtsanwaltsvereinigung zu jenen zivilgesellschaftlichen Gruppen, die für einen Dialog der Kulturen eintreten. Der Kulturdialog wird über die berufliche Verbundenheit institutionalisiert und macht deutlich, wie auf einer gemeinsamen Basis zivilisatorisch bedingte Unterschiede vermittelt und aufgebrochen werden können.
Der Bereich Forschung, Erziehung und Training wird als "Gehirn des Systems beschrieben und verfügt über das Potential, das System mit Ideen, Methoden und Konzepten zu bereichern".
Dieser Ebene kommt vorrangig die Aufgabe zu, den für den Kulturdialog so wichtigen gemeinsamen Wertekanon zu skizzieren. Weitere Möglichkeiten, zur Institutionalisierung des Kulturdialoges beizutragen, sind die Veranstaltung multiethnischer Wissenschaftsforen und die Erarbeitung von Strategien für die Staatsebene. Auch die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien in der politischen Bildung, die Aufklärung und Information über andere Zivilisationen vermitteln, oder die Fortbildung von Lehrkräften über bilinguale Bildungsangebote zu Konflikt- und Kulturpädagogik zählen zum Kulturdialog auf der fünften Ebene. Hier ist ein interzivilisatorischer Kulturdialog vergleichsweise leicht zu gestalten, denn es ist davon auszugehen, dass die Teilnehmer an einem solchen Diskurs bereits zu einer vergleichsweise gebildeten Elite zählen, die tendenziell die Bereitschaft zur Akzeptanz unterschiedlicher Ideen mit sich bringen. Vom Gedanken der Logik geleitet, besteht in der Wissenschaft der Vorrang der richtigen Lösung vor der eigenen Meinung. Aus diesem Grunde kommt dem Kulturdialog hier eine Vorreiterposition zu, die als intellektueller think-tank der internationalen und nationalen Entwicklung vorgreifen könnte.
Primäres Ziel von Aktivismus und öffentlichem Protest ist es, Institutionen, Gewohnheiten und Gesellschaften zu verändern. Die Teilnehmenden an öffentlichem Protest empfinden eine moralische Verpflichtung, ungerechte politische Verhältnisse und Unterdrückung öffentlich anzuprangern. Auf dieser Ebene gelingt es, breite Bevölkerungsgruppen auf Notstände, Bedürftigkeiten oder politische Missstände der eigenen Zivilisation aufmerksam zu machen und somit öffentlichwirksam empfundenes Unrecht zu thematisieren. Auch die öffentliche Formulierung der Interessen der Konfliktgegner und die Organisation von friedensbildenden Maßnahmen zwischen den Konfliktgegnern gehört zu dieser Ebene, ebenso wie die aktive Beobachtung und Dokumentation eines Konfliktes, etwa die Zählung jedes Toten seit dem Irak-Krieg auf der Website von Iraq Body Count. Diese Aktionen haben einen stark öffentlichen und häufig kurzfristigen Charakter. Es entstehen Ad-hoc-Initiativen, die nach der Konfliktregulierung wieder abebben (z.B. die Kundgebungen vor der Leipziger Nikolaikirche für die beiden im Irak verschleppten deutschen Geiseln - bei denen auch immer wieder auf die katastrophalen Zustände im Irak für die dortige Zivilbevölkerung aufmerksam gemacht wurde). Eine Institutionalisierung von Kulturdialogen aufdieser Ebene ist schwierig. Dennoch können aus öffentlichen Protesten Strukturen hervorgehen, die sich nachhaltig auf der vierten Ebene der NGOs und Stiftungen ansiedeln lassen.
Die Religion gilt als die spirituelle Ebene des Kulturdialoges, denn die Religionen bilden ein konstitutives Element der Wertvorstellungen sich im Konflikt befindender Zivilisationen. Religionen wird ein konflikttreibender Charakter zugesprochen, der in Form von religiösem Extremismus oder Fundamentalismus für verhärtete Fronten sorgt. Die Expansion der Religionen, sowohl des Christentums als auch des Islams, war historisch mit Gewaltakten verbunden.
Die Medien haben einen beherrschenden Einfluss auf die öffentliche Meinung. Die Rolle der Medien bei der Schaffung und Lösung von Konflikten hat in den vergangenen Jahren so sehr an Bedeutung gewonnen, dass sie als eigenständiger Akteur im internationalen System agieren, neben den Nationalstaaten und dem internationalen Recht. Medien können massiv zur Verstärkung von Konflikten beitragen. Als erschreckendster Beleg dafür sei an das "Hate Radio" erinnert, welches das ethnische Abschlachten zwischen Hutu und Tutsi in Ruanda anstachelte. Islamische Fundamentalisten benutzen die Medien, um Hassparolen gegenüber dem Westen zu verbreiten oder Forderungen zu übermitteln (z.B. die Aussendung der Botschaften Osama Bin Ladens durch den Fernsehsender Aljazeera). Die spektakuläre Geiselnahme im Moskauer Theater durch eine Gruppe tschetschenischer Terroristen im Oktober 2002 oder das blutige Geiseldrama in Beslan wurde von massiver Medienpräsenz begleitet; die Aufmerksamkeit wurde auf die desolate Situation in Tschetschenien gelenkt. Auf nationaler Ebene wurden der "Ehrenmord" an der türkischen Migrantin Hatun Sürücü und die Vorfälle in der Rütli-Schule in Berlin stark medial begeleitet. National und international hat der Medienkonflikt über die Verbreitung der Mohammed-Karikaturen das Bild von verfeindeten Zivilisationen vertieft. Es hat den Anschein, als ob es Extremisten besser gelänge, die Medien für den Transport ihrer Botschaften zu benutzen. Diese Position muss ihnen von den Medien genommen werden, indem mediale Strukturen des Kulturdialoges aufgebaut werden. Die Rolle der Medien im Kulturdialog liegt in der Aufklärung der Massengesellschaft, im Abbau von Feindbildern sowie in der Sensibilisierung für soziales Elend.
Anwendbarkeit auf nationaler Ebene
In einem politischen Moment, der das Thema Integration als akutes Sicherheitsproblem definiert, könnte ein Sofortprogramm für dieInstitutionalisierung von Kulturdialogen unter Einbindung der acht skizzierten Ebenen und in Anlehnung an etablierte Modelle der Konfliktregulierung in vier Phasen erfolgen.
Anamnese/Problemerkennung: Eine Klärung dessen, worum es tatsächlich in dem bestehenden Konflikt geht, ist zur Entmystifizierung des Zivilisationskonfliktes unverzichtbar. In diese Phase gehört das Aufbrechen der "political correctness": Es müssen sämtliche Vorwürfe, Stereotypen, Schuldzuweisungen, Angst-, Hass- und Rachegefühle formuliert und gesammelt werden. Diese Rolle kann von den Medien übernommen, aber auch von der Politik initiiert werden. Ebenso müssten sich die Vertreterinnen und Vertreter der Religionsgemeinschaften beteiligen.
Diagnose: Die Analyse der Ursachen des Konfliktes kommt vor allem den Integrations- und Migrationsforschern zu. Studien, die den Fremdenhass in Ostdeutschland auf fast 60 Prozent taxieren, müssen den Studien des Zentrums für Türkeistudien gegenübergestellt werden, in denen festgestellt wird, dass die türkische Bevölkerung sich immer mehr von der deutschen Gesellschaft entfremdet und diese umso mehr ablehnt, je mehr sie soziale Zuflucht in die Moscheevereine sucht.
Lösungsmöglichkeiten: Hier erfolgt eine gemeinsame Entwicklung und Reflexion möglicher Konfliktregelungen. Zugrunde liegende Interessen und Rahmenbedingungen müssen ausführlich thematisiert werden. In dieser Phase werden Problemregelungsvarianten und -strategien entwickelt, die von beiden Seiten akzeptiert werden können. Dazu ist ein interkultureller Brückenschlag (cross-cultural-bridging) notwendig, der alternative Wertvorstellungen zwischen den konkurrierenden Wertesystemen als Basis erarbeiten soll. Hier ist eine Beteiligung der meisten Ebenen gefragt (Regierungsebene/Wirtschaft, NGOs, Institute, Wissenschaft, Religionsvertreter, Medien). Folgende Ideen könnten verfolgt werden.
Therapie: Die Entscheidung für eine bestimmte Form der Konfliktregelung und die Vereinbarung von Maßnahmen zu ihrer Umsetzung müssen zwischen der Mehrheits- und der Minderheitsgesellschaft formuliert und fixiert werden. Der Vorwurf "Die reden immer nur über uns und nicht mit uns" muss entkräftet werden. Auch hier sind fast alle genannten Ebenen zur aktiven Umsetzung des Kulturdialoges gefragt. Es muss die Möglichkeit bestehen, an jeder dieser Phasen gleichzeitig zu arbeiten und nicht erst nach erfolgreichem Abschluss einer Phase in die nächste überzugehen. Charakteristisch ist vor allem der zirkuläre Charakter des Kulturdialogs, der dazu führt, dass die Konfliktlösung nicht als punktuell und abgeschlossen gilt, wenn ein Konflikt beseitigt worden ist oder seinem Ausbruch vorgebeugt werden konnte. Dies hebt den Prozesscharakter der Kulturdialoge hervor. Sie müssen als Kontinuum geführt werden, nicht als akutes Konfliktlösungszentrum, gleich einer Notrufzentrale, die aktiviert und in Alarmbereitschaft versetzt, danach aber deaktiviert wird.
Vergemeinschaftung statt Parallelgesellschaft
Der Weg, den Kulturdialoge weisen können, um konfliktpräventiv zu wirken, ist ein Prozess in Richtung politischer "Vergemeinschaftung".
Es gilt, dem Zusammenprall der Zivilisationen und der Entfremdung entgegenzuwirken. In Zeiten, in denen die klassischen Muster der Sicherheitspolitik vor aller Augen versagen, in Zeiten von Terrorismus, islamischem Fundamentalismus, Fremdenhass und zerfallendem gesellschaftlichen Konsens sind Kulturdialoge und Vergemeinschaftung nicht mehr schöngeistige, idealistische Plaudereien von Intellektuellen, sondern aktive Sicherheitspolitik.