Einleitung
Kulturwirtschaft? Nein, "Creative Industries" ist doch neuerdings der angesagte Begriff - und auch in Mitteleuropa schon Gegenstand eigener "Kreativwirtschaftsberichte".
Haben sich Florida und andere vielleicht sogar vom Yoruba-Gott Ogun inspirieren lassen, den der nigerianische Schriftsteller Wole Soyinka 1986 inseiner Rede zur Verleihung des Literatur-Nobelpreises als Hüter der Kreativität herausstellte? In der Interpretation von Soyinka ist Ogun, wie wir heute sagen würden, eine Art "Manager der Kreativität", der die Welt der Ahnen mit den Welten der Lebenden und der Ungeborenen verbindet, ständig für neue Interaktionen und Realitäten sorgt - ein Vorbild für unseren aktuellen Hunger nach Kreativität?
Eine neue "kreative Klasse"?
Das Kernargument von Florida ist allerdings von eher schlichter Natur: Seit es mit traditionellen Industriezweigen bergab geht, sei die "creative economy" mit einer neuen Klasse von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dabei, ihren Platz zu übernehmen. Florida definiert diese "kreative Klasse" (die in den USA nach seiner Einschätzung bereits 30 Prozent der Erwerbstätigen ausmacht) als ein weites Spektrum qualifizierter Berufe: von Fachleuten in Technik und Naturwissenschaften über höhere Positionen im Handels- und Finanzsektor bis hin zu Beschäftigungen in der akademischen und öffentlichen Verwaltung sowie in Bereichen der Justiz und öffentlichen Sicherheit. Natürlich finden sich auch Künstler und andere Kulturberufe in dieser Auswahl - die laut Florida besonders wichtige Gruppe der "Bohemiens"; sie sollen den Städten und Regionen der westlichen Welt in ihrem wirtschaftlichen Konkurrenzkampf den nötigen innovativen Kick geben. Aber ist ein derart breiter Berufemix überhaupt sinnvoll?
Floridas Konzept enthält - ähnlich wie andere Theorien zur wirtschaftlichen Entwicklung
Manche von Floridas Argumenten werden etwa in einer niederländischen Studie bestätigt,
so vor allem die These, dass es zur Stimulierung des Wirtschaftswachstums weniger darum gehe, "welche oder wie viel Bildung Menschen mitbringen, sondern wo sie tatsächlich arbeiten". Abgesehen von Amsterdam bezweifelten die holländischen Forscher, dass dieses Wachstum "irgend etwas mit der Bohème oder einer anderen kreativen Gesinnung zu tun hat, die über soziale Interaktion hinausgeht"; stattdessen betonen sie einen Punkt, der von Richard Florida eher vernachlässigt wird, dafür in früheren Theorien über das Humankapital stärker im Vordergrund stand: "Urbane Vorzüge - wie beispielsweise Kulturangebote, eine ästhetisch schöne Umgebung und in Holland besonders auch die vielen historischen Bauten - machen Städte speziell für die 'kreative Klasse' attraktiver." Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt auch eine Studie über die kanadische Stadt Montreal, an der Florida selbst beteiligt war.
Einerseits gelten die vielen Künstler, die hochrangige kulturelle Infrastruktur und die Tatsache, dass Montreals Bevölkerung mehrheitlich Französisch und Englisch spricht, als unterstützende Faktoren für Montreals Image einer vielfältigen und "dynamischen Kulturmetropole, die großen Wert legt auf Kreativität, Erfindung und die Entdeckung von Talenten". Andererseits wird erneut die Ansicht verworfen, die "kreative Klasse" bestünde hauptsächlich aus Künstlern oder kulturnah Beschäftigten: "Dies könnte realitätsferner nicht sein."
Kein Wunder, dass es an kritischen Stimmen zu Florida und seinen Ideen nicht fehlt. Von überbewerteten Korrelationen ist da die Rede, von einer unsachgemäßen Definition der Beschäftigungskategorien oder vom Gebrauch veralteter Zahlen aus Zeiten des dotcom-Booms vor seinem Zusammenbruch. Der Ökonomin Ann Daly zufolge besteht das Problem solch verallgemeinernder Theorien darin, "dass sie eine auf alles passende Patentlösung anbieten, wo es den einzigen Index, die einzige Berechnung, den Königsweg nicht geben kann. Unsere Welt ist dafür zu komplex und ihr Wandel zu schnell."Dennoch räumt sie ein, dass Floridas Glaube an die Kreativität als Motor wirtschaftlichen Wachstums zumindest "die Basis für eine ernsthafte öffentliche Debatte über kulturelles Wachstum" erweitert hat, in der es unter anderem darum gehen müsste, Forschungsdaten zum Kreativsektor besser in politische Konzepte zu übersetzen. Wichtig sind Daly aber vor allem Strukturfragen: : "Wir haben erst begonnen zu fragen: Was brauchen Künstler? Die Ära großer Firmengründungen ist um; die Zukunft gehört den Netzwerken. Subventionsgeber sind out, jetzt geht es um Infrastrukturen." "Kulturwirtschaft" oder "Creative Industries"?
Hätten wir es nur mit Richard Florida zu tun, könnten wir zur Tagesordnung übergehen. Doch so einfach ist es nicht: Inzwischen gibt es nämlich eine wahre Flut unterschiedlicher Konzepte und Begrifflichkeiten. Sie wurde vor etwa einem Jahrzehnt vor allem durch einen Schlüsselbegriff ausgelöst, der im Rahmen der Wahlkampfstrategie der britischen Labour Partei eine wichtige Rolle spielte und nach ihrer Regierungsübernahme in eine Studie mündete, das "Creative Industries Mapping Document".Dieses Dokument inspirierte die Phantasie vieler weiterer Administratoren und Wissenschaftler und stellte bis dahin gebräuchliche Termini wie den der "Kulturwirtschaft" oder der "Kulturgüter" in Frage. Einige Stichworte zu Berichten, Konferenzen und kulturökonomischen Strategien aus den letzten Jahren seien angeführt: "Kulturwirtschaft"/"Culture Industries" (z.B. fünf Berichte in NRW/Deutschland 1991 - 2006; Schweiz 2003; Frankreich 2006; EU 2006);
"Cultural Products and Services Industry" (z.B. Studie von Euclid für die EU 2003);
"Cultural Industries Cluster" (Barcelona/Spanien 2004);
"Kulturgüter"/"Cultural Goods" (traditionell UNESCO);
"Creative Industries" (z.B. Großbritannien 1998 - 2005; Österreich 2000 und 2006);
"Creative Capital" (Konferenz Amsterdam 2005; Dänemark 2006);
"Creative Class" (R. Florida 2002; Niederlande 2005);
"Copyright Industries" (z.B. USA 2000, Singapur 2004);
"Knowledge Economy" (z.B. Kanada 1997/2005; Finnland 2006);
"Experience Industry" (Schweden 2003);
"Kreativsektor"/"Creative Sector" (z.B. Konferenz UNESCO in Austin/Texas 2003; Europäische Kulturstiftung 2005).
Nachdem sich hinter solchen Begriffen zum Teil sehr unterschiedliche Konzepte verbergen, überrascht es vielleicht, dass sich dennoch so etwas wie ein Konsens über die Kultur- oder Kreativwirtschaft daraus abzeichnet, über den noch zu reden ist.Akademische und politische Hypotheken
Eine verständliche Debatte über Definitionen und Begrifflichkeiten im Verhältnis Kultur und Wirtschaft konnte sich in Deutschland und in anderen Teilen Europas vor allem deshalb nur unzureichend und erst spät entwickeln, weil die wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Aspekte des Kultursektors über Jahrzehnte unterschätzt bzw. ignoriert wurden. Das erklärt sich auch daraus, dass in der europäischen akademischen Tradition Wirtschafts- und Kultursphären meist getrennt voneinander gesehen wurden - und diese Trennung lässt sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften bis heute nachweisen, etwa bei Pierre Bourdieu oder Jürgen Habermas.Auch die von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer schon in den späten vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts formulierten Thesen zur "Kulturindustrie", wonach die intellektuelle oder ästhetische Produktion zunehmend Maßstäbe des industriellen Warenverkehrs übernimmt und entsprechend gesellschaftliche Befindlichkeiten beeinflusst, förderten und fördern weiterhin eher ein Abwehrverhalten gegenüber stärker integrierten Kulturmodellen, denen gerne die Nähe zu schnödem Kommerz vorgehalten wird.
Generell ist wohl zu sagen, dass die Empirie in dieser Art der Kulturerforschung etwas zu kurz kommt. Vielleicht wäre sonst früher aufgefallen, dass weite Teile des Kulturbetriebs schon seit jeher in privatwirtschaftlicher Form organisiert waren, so etwa das Verlagswesen; davon, dass dies zum Beispiel Vertreter der "Kritischen Theorie" daran gehindert hätte, ihre Thesen zu publizieren, ist nichts bekannt.
Das Ökonomische wurde also lange der Ökonomie überlassen, die ihrerseits die Kultur als Interessenfeld ebenfalls relativ spät entdeckte.Selbst in den USA wurden "Kulturmanagement"-Studiengänge erst seit den siebziger Jahren populär, in Europa sogar erst gut ein Jahrzehnt später. Heute hat sich die Kulturökonomik zu einer Spezialdisziplin entwickelt, die zwar an Einfluss gewinnt, der es aber nur in Ausnahmefällen gelingt, künstlerische oder kulturpolitische Maßstäbe in ihre Konzepte zu integrieren.
In der Kulturpolitik zeigen sich ebenfalls deutliche Engführungen: Obwohl das Kultur-Sponsoring in den meisten europäischen Ländern statistisch kaum ins Gewicht fällt, wird auf das Thema "Kultur (und) Wirtschaft" oft reflexartig mit der Frage reagiert, durch welche Maßnahmen vielleicht mehr private "Sponsoren" für die Kunst und vor allem für (öffentliche) Kulturinstitutionen zu gewinnen seien, denen allmählich die gewohnten Förderetats abhanden kommen. Andererseits konzentrieren sich Diskussionen über die Kulturfinanzierung nach wie vor auf die staatlichen und kommunalen Haushalte, deren Dimensionen meist überschätzt werden.
Die Unverhältnismäßigkeit solcher Debatten wird gerade am Beispiel Deutschland augenfällig: Zwar ist kaum zu übersehen, dass wir zum Beispiel das weltweit größte System voll ausgestatteter öffentlicher Theater und Opernhäuser mit jährlichen Fixkosten von rund zwei Milliarden Euro unterhalten. Dennoch sind auch in Deutschland, bleibt man einmal bei rein finanziellen Maßstäben, die primär durch Konsum generierten Umsätze der privaten Kulturwirtschaft weit bedeutender als die öffentlichen Kulturausgaben. Mit knapp 80 Milliarden Euro übertreffen sie die Gesamthöhe der öffentlichen Kulturausgaben um das Zehnfache - und Privatspenden oder Kultursponsoring sogar um das Hundertfache.Wer sind die "Kreativen"?
Im Rahmen dieses kurzen Überblicks können wir die unterschiedlichen Bedeutungen und Ambivalenzen der Begriffe "Kultur" und "Kreativität" nicht ausführlich diskutieren. Selbst wenn, anthropologisch gesehen, Kultur die meisten menschlichen Ausdrucksformen, Wertesysteme und sogar institutionellen Gebilde umfasst, so sollten wir doch zunächst versuchen, von einer stärker praxisbezogenen Definition auszugehen, wie sie inzwischen in Europa gebräuchlich ist, und die man vielleicht auf die Formel bringen könnte: "Kultur & Medien PLUS". Diese müsste die Künste, die Medien einschließlich ihrer neuesten Entwicklungen und natürlich das kulturelle Erbe umfassen, und zwar ohne qualitative Vorbewertung (etwa im Sinne von "Hoch-" oder "Unterhaltungskultur").Mit dieser Definition könnten dann auch alle beruflichen Tätigkeiten in öffentlichen, privaten und freigemeinnützigen Betrieben oder Einrichtungen erfasst und, je nach Fragestellung, auch wieder unterschieden werden.
Der Begriff "Kreativität" kann ähnlich eingegrenzt werden; er würde freilich - und tut es tatsächlich - auch auf jede Form komplexer Innovation oder intellektueller Flexibilität passen, ob auf den Schauplätzen der Wissenschaft oder des Geschäftslebens. Im Rahmen unserer Begriffsklärung ist jedoch die Frage relevant, ob es gerechtfertigt ist - wie derzeit zum Beispiel in einem Salzburger Entwicklungskonzept vorgeschlagen-, die Kunst und damit die Künstlerinnen und Künstler gänzlich aus dem Kontext einer "Kreativwirtschaft" auszublenden. Traditionelle Anschauungen, nach denen sie es sind, die quasi in ihrer Person die Ressource Kreativität in einer Gesellschaft verkörpern, werden hier auf den Kopf gestellt: Wenn nur noch Designer, Management-Berater oder Werbeleute das Attribut von "Kreativen" für sich beanspruchen (dürfen), wären in der Tat die schlimmsten Befürchtungen der Gegner allzu enger Verbindungen zwischen Kultur und Wirtschaft eingelöst - und die Kreativität auf die Bereitstellung eines funktionalen oder erlebnisträchtigen Ambientes reduziert.
Eigentlich ist doch kaum zu übersehen, dass künstlerische Arbeitsergebnisse heute, vermittelt nicht zuletzt über das Design, ständig in Wirtschaftszweige aller Art einfließen und oft geradezu als Motor für Innovationen und auch technische Neuerungen gelten können. Einige Beobachter meinen, dass nur die Künste, die Wissenschaft und die Technologie gemeinsam die Basis für Kreativität, Erneuerung und Produktivität in jeder Gesellschaft bilden konnten; andere sehen eine besonders innovative Rolle bei Medienkünstlern, seitdem neue Informations- und Kommunikationstechnologien es ihnen erlaubten, nichtlineare, interaktive und netzwerkartige Formen der Kommunikation zu erforschen.Stephen Wilson weist darauf hin, dass die Macht der künstlerischen Arbeit in einem frühen Stadium einer neuen Technologie teilweise auf dem kulturellen Akt beruht, "sie für die eigene kreative Produktion und Kommentierung in Besitz zu nehmen. So erinnert etwa die frühe Geschichte der Computergrafik und -animation in mancher Hinsicht an die Verhältnisse bei der Entwicklung der Fotografie und des Kinos."
Die Politik, aber auch multinationale Firmen der Kultur- und Medienwirtschaft beginnen, diese potenzielle Macht der künstlerischen Forschung und Produktivität zu erkennen: "Technologie beeinflusst Musik und Musik beeinflusst Technologie. Der beste Beweis dafür ist der iPod" - so der Chef des Warner-Konzerns, Edgar Bronfman, auf einer Tagung in Aspen im Jahr 2005.
Die so Gepriesenen sind da oft bescheidener. So weist der Schriftsteller Salman Rushdie (in der F.A.Z. vom 16. Juli 2005) zwar darauf hin, dass Bücher und ihre Autoren durchaus die Macht hätten, "Liebe oder Hass" zu erzeugen, legt gleichzeitig aber Wert auf die Feststellung, dass es die Leser sind, welche die Wahrheit einer literarischen Aussage in ihren Köpfen und Herzen erfahren, das Buch also selber individuell fertig stellen müssen."Kulturwirtschaftsberichte" - Brücken zwischen Politik, Kultur und Ökonomie
Definitionsprobleme und die komplexen Fragen der statistischen Abgrenzung - wozu die ungenügende europaweite Harmonisierung der Kulturstatistik beiträgt - haben punktuelle oder vergleichende Analysen zur wirtschaftlichen Bedeutung und Struktur derKulturwirtschaft nicht verhindert. In Deutschland wurden sie vor allem auf regionaler Ebene erarbeitet. Das muss nicht unbedingt ein Manko sein, wenn es etwa darum geht, vorhandene Probleme oder Potenziale und mögliche Synergien der Kulturwirtschaft auch mit öffentlichen und 'freien' Trägern kultur- und medienbezogener Aktivitäten möglichst konkret zu benennen und Fördermaßnahmen besser darauf auszurichten.
Maßstäbe haben zunächst die Berichte der Arbeitsgemeinschaft Kulturwirtschaft für das Land Nordrhein-Westfalen gesetzt (1992, 1995, 1998, 2001, 2006 in Vorbereitung).Zur "Kulturwirtschaft" zählen hier Privatbetriebe und selbständige Berufsangehörige, die in Teilmärkten der Künste und der Medien sowie angrenzenden Tätigkeitsfeldern arbeiten. Dabei lassen sich grob folgende Segmente - mit zum Teil recht heterogener Binnenstruktur - unterscheiden: Kulturwirtschaft im engeren Sinne (Buchmarkt, Musikwirtschaft, Musical, die wirtschaftliche Aktivität freischaffender Künstler/innen);
Kultur-/Medienwirtschaft im weiteren Sinne (z.B. Architektur- und Designateliers) sowie
ergänzende Teilbranchen mit großer Relevanz für Kultur und Medien - je nach aktuellen Untersuchungszielen (in bisherigen NRW-Berichten wurden u.a. der "Kultur-Tourismus" oder die "Kultur-Bauwirtschaft" vom Kirchenbau bis zu Handwerksbetrieben in der Denkmalpflege besonders thematisiert).
Hinsichtlich der Datenaufbereitung weitgehend vergleichbare Berichte wurden etwa in Bremen-Nordniedersachsen (1999), Sachsen-Anhalt (2002) und Schleswig-Holstein (2004)sowie in einigen Städten realisiert. Berichte mit anderer, eher dem Konzept der "creative industries" folgender und damit um zusätzliche Branchen wie etwa Telekommunikation oder Werbewirtschaft erweiterter Methodik wurden unter anderem für die Länder/Stadtstaaten Hessen (2003 und 2005), Hamburg (2006), Berlin (2006) und die Region Stuttgart (2005) vorgelegt. Zwei Trends zeichnen sich dabei ab: Eine Reihe von Berichten widmet sich ganz oder überwiegend bestimmten Spezialthemen, die gelegentlich sogar vom Kernthema der Kulturwirtschaft wegführen können.
Einige Berichte, so die in NRW oder ähnlich in Berlin, verstehen sich weniger als behördliche Information (oder PR) und eher als Ressourcen für die Zusammenarbeit breiterer Initiativen innerhalb der Kulturwirtschaft, etwa im Sinne eines "work in progress".
Kein Zweifel: Beim Thema "Kulturwirtschaft" sind noch eine Reihe von Methodenfragen mit Statistikern, Wirtschafts- und Behördenvertretern, Verbänden sowie anderen Fachleuten zu klären. So ist es unter anderem wegen der vielfach geringen Einkünfte von Künstlern und seit der Einführung einer neuen Wirtschaftssystematik in die amtliche Statistik (1993) schwieriger geworden, erwerbswirtschaftlich definierte Betriebe und Existenzen präzise mit amtlichen Daten abzubilden. Grundsätzlich gilt zwar, dass für spezielle Branchenanalysen neben den Daten der Statistischen Ämter häufig noch besondere Fachstatistiken etwa von Verbandsseite vorliegen, die wesentlich differenziertere Aussagen über die jeweiligen Teilmärkte zulassen, doch diese sind bislang nur eingeschränkt vergleichbar und werden zum Teil unregelmäßig erhoben.Einige zentrale Ergebnisse der Berichte
Trotz ihrer Unterschiede in Definitionen und Vorgehensweisen belegen deutsche und ausländische Kulturwirtschaftsberichte doch relativ einheitlich einige wirtschaftlich wie auch kulturell relevante Tatsachen, darunter etwa:eine im Vergleich zu anderen Sektoren erstaunliche wirtschaftliche Dynamik der privaten Kultur- und Medienbetriebe;
die wichtige Rolle der Kulturwirtschaft als Arbeitsmarktfaktor, teilweise auch gegen allgemeine Trends;
geringe Betriebsgrößen, eine Vielzahl von Neugründungen und in aller Regel tätige Inhaber;
die entscheidende Rolle selbständiger Künstler/innen, Autoren/innen, Designer/innen etc. für die Produktion und teilweise auch die Vermittlung von Inhalten ("content") sowie für die Lancierung von Innovationen in komplexen Märkten;
eine in den meisten Branchen/Betrieben vergleichsweise geringe Kapitalintensität (was naturgemäß auch negative Auswirkungen haben kann, etwa für Investitionen oder Marketingaktivitäten);
intensive Verbindungen oder Komplementärverhältnisse mit dem öffentlichen und gemeinnützig getragenen Kulturleben;
eine große Offenheit der meisten Akteure für die Integration neuer Technologien und
zunehmend europäisch-grenzüberschreitende Kooperationsbeziehungen in vielen Branchen.
Es ist vor diesem Hintergrund wohl kein Zufall, dass die Initiative für Kulturwirtschaftsberichte in Deutschland zunächst von Wirtschaftsbehörden ausging. Obwohl es keine Patentrezepte für ihren Erfolg gibt, erkannte man mit Hilfe dieser Berichte die Kulturwirtschaft zunehmend als eine interessante Kategorie in der regionalisierten Strukturpolitik. Vor allem arbeitsmarktpolitische Fragen des Kultur- und Medienbetriebs stoßen immer wieder auf großes Interesse, wobei die künstlerische Mobilität teilweise - und nicht ganz zutreffend - als Indikator für allgemeine Trends in Richtung auf mehr Flexibilität gewertet wird.
Einige Berichte verdeutlichten auch, dass Betriebe der Kulturwirtschaft wichtige Voraussetzungen oder Verbundleistungen für die Entwicklung anderer Branchen schaffen, dabei unter anderem für den Fremdenverkehr ("Kulturtourismus") und die Konsumgüterindustrie. Inzwischen finden solche Fragen sogar Beachtung in der regionalen, bundesweiten und europäischen Kulturpolitik und lösten vielfältige Aktivitäten in der Forschung aus - mit unterschiedlichen Ergebnissen und Positionen.Empfehlungen - nicht nur für die Schublade
Sicher wäre es verfehlt, eine Umsetzung aller Vorschläge in den diversen Berichten im Verhältnis 1 : 1 zu erwarten; manche sind ohnehin "programmbegleitend", reagieren also mehr auf politische Maßnahmen, als dass sie neue empfehlen würden, andere betreffen eher Fragen einer grundsätzlichen Neuorientierung der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Kulturpolitik. Letzteres gilt teilweise für die NRW-Kulturwirtschaftsberichte, für deren Inhalt ja nicht das Ministerium selbst, sondern eine unabhängige Gruppe von Fachleuten aus Universitäten und Forschungseinrichtungenverantwortlich zeichnet. Dennoch lassen sich auch für NRW beispielhaft einige Projekte nennen, die entweder direkt auf Empfehlungen der Berichte zurückgehen oder Defizite aufgreifen, die dort benannt wurden:
1. An der StartART- Gründungsinitiative des Landes NRW für Kunst und Kulturwirtschaft, die den Weg in die Selbständigkeit durch betriebswirtschaftliche Beratung und Qualifizierung fördern sollte, beteiligten sich 2001 bis 2003 in drei Wettbewerbsrunden 333 Existenzgründerinnen und -gründer mit insgesamt 227 Unternehmenskonzepten. Die meisten davon (55 Prozent) zielten auf kulturwirtschaftliche Dienstleistungen (wie Vermittlung, Marketing oder Veranstaltungsmanagement), 22 Prozent auf Existenzgründungen für künstlerische und Designtätigkeiten. 21 Konzepte wurden prämiert (Zuschuss für Gründungsaktivitäten bis zu 50 000 Euro). Das Programm erhielt in der Fachpresse gute Noten: "Die Besetzung der Jury, die Höhe der Zuschussgelder, die hohen Anforderungen an die Erstellung eines Businessplanes als Teilnahmevoraussetzung, verbunden mit dem Fokus auf innovative Vorhaben unterstrichen den besonderen Anspruch der in dieser Branchenausrichtung bundesweit einzigartigen Initiative."
2. Mit ähnlicher Zielsetzung, aber primär an kommunale Träger gerichtet, wurde 2001 ein Landeswettbewerb zur Einrichtung Kultureller Gründerzentren ausgelobt. Drei Vorhaben erhielten Zuschüsse von 50 Prozent der Planungs- und Managementkosten.
3. Modellprojekte zur Nutzung kulturwirtschaftlicher Angebote für den Tourismus werden vor allem in den strukturschwächeren Regionen Ruhrgebiet und Ostwestfalen-Lippe gefördert.
4. Kulturwirtschaftstage und Branchenforen werden mit dem Ziel einer Verbesserung von Information, Know-how und Kommunikation in verschiedenen Branchen veranstaltet.
5. Die Förderung einer Beteiligung an Auslandsmessen ist intensiviert worden (so z.B. für vier Jahre bei der Leitmesse der Kunstfotografie Paris Photo).
6. Endogene Potenziale werden durch Schwerpunkte in der Kultur- und Kreativwirtschaft (" Clusterbildung") unterstützt. Beispiel: Ausbau der Zeche Zollverein als Design-Kompetenzzentrum.
Mit diesen Beispielen soll nicht der Eindruck erweckt werden, es ließe sich mit Statistiken über eine dynamische Kultur- und Medienwirtschaft und ihrer Fortschreibung in offiziösen Berichten nahezu alles an politischen Strategien und Fördermaßnahmen begründen, was jeweils gerade auf dem Markt en vogue ist oder von Interessengruppen hartnäckig gefordert wird. Grundsätzlich gilt wohl, dass nur dort eine öffentliche Förderung gerechtfertigt ist, wo an reale Marktpotenziale bzw. besondere Erfahrungen bei den Erwerbstätigen - ein "kulturelles Kapital" im Sinne von Pierre Bourdieu - angeknüpft werden kann oder Nachteile und Wettbewerbshemmnisse auszugleichen sind. Eine leistungsfähige Kulturwirtschaft lässt sich also nicht schematisch für alle Branchen und Regionen aus dem Boden stampfen.
Zu dieser Einsicht kam etwa der 1. Kulturwirtschaftsbericht für das Land Sachsen-Anhalt.Dessen wirtschaftliche Lage und vor allem die auch durch hohe Arbeitslosigkeit bedingte geringe Kaufkraft ließen keine Empfehlungen für einen flächendeckenden Aufbau kulturwirtschaftlicher Infrastrukturen etwa im Buch-, Kunst- oder Musikmarkt zu. Allerdings wurde ein großes Potenzial im Kulturtourismus, bei der Produktion von Designgütern (Bauhaus-Tradition) und in der Medienwirtschaft ausgemacht. Letzteres galt insbesondere für Betriebe mit Aufgaben in der Gestaltung, der Produktion und beim Management von "Content" für die Neuen Medien - auch andernorts eine wichtige, Ressourcen schonende Entwicklungschance. Ein Vorschlag zur Diskussion: der "Kreativsektor"
Obwohl es künftig noch schwieriger wird, den privatwirtschaftlichen Bereich statistisch sauber von anderen Kultur- und Medienaktivitäten abzugrenzen, bleibt gerade dies eine wichtige Aufgabe entsprechender Berichte. In Deutschland existiert traditionell eine stärkere Arbeitsteilung zwischen Kulturangeboten mit öffentlichem Auftrag und privatwirtschaftlichen Aktivitäten als in vielen anderen Ländern - und dies soll nach den Vorstellungen sowohl der betroffenen Einrichtungen und des größten Teils der Kulturwirtschaft wie auch breiter Bevölkerungskreise so bleiben.
Hier könnten wir sogar vom Musterland der "creative industries", dem Vereinigten Königreich, etwas lernen: Dort stellen sich nämlich die Verhältnisse durchaus nicht so einseitig dar, wie die Rezeption dieses Begriffs es nahe legt. Dies zeigt spätestens der Blick in die Londoner Regierungsmannschaft: Dem für Kultur, Medien und Sport zuständigen Kabinettsmitglied unterstehen sowohl ein "Minister für Kreativwirtschaft und Tourismus" mit Verantwortung für hauptsächlich marktorientierte Aktivitäten wie andererseits auch ein "Kulturminister", zuständig u.a. für die Künste, Denkmalpflege, Museen und Bibliotheken, Architektur oder kulturelle Aspekte der Bildungs-, Regional- und Sozialpolitik, also für Aufgaben, wie sie viele andere Kulturminister in Europa kennen.
In der Londoner Konstruktion wird also die wachsende Relevanz von Marktkräften für die Entwicklung im Kultur- und Medienbereich ebenso anerkannt wie die Tatsache, dass dadurch die Rolle staatlicher oder geförderter Einrichtungen und die Mitwirkung zivilgesellschaftlicher Akteure nicht verdrängt werden kann, teilweise sogar noch gestärkt werden sollte.
Vor dem Hintergrund empirischer Studien und internationaler Konferenzen kann damit für die Diskussion und weitere Begriffsklärung eine Abgrenzung des "Kreativsektors" vorgeschlagen werden (vgl. Schaubild der PDF-Version). Abgesehen von einem relativ flexiblen "kreativen Kernbereich" unterscheidet das Schaubild acht Arbeitsfelder (die Größe der Grafikelemente ist ein grober Anhaltspunkt für ihre Bedeutung im Arbeitsmarkt dieses Sektors). Die Grundelemente der Grafik sind wohl für die meisten europäischen Länder zutreffend, und die große Anzahl öffentlicher Theater und Medieneinrichtungen (Radio und Fernsehen, häufig finanziert durch Gebühren) markiert den auffälligsten Unterschied zwischen europäischen Traditionen und Bedingungen in den USA, wo diese Einrichtungen privatwirtschaftlich organisiert sind.
Die - wohl noch zunehmende - Verknüpfung dieser Felder untereinander (z.B. Musikverlage oder Instrumentenbauer mit öffentlichen Musikschulen) und darüber hinaus (z.B. Design mit Wirtschaftszweigen wie Mode und Werbung) ist im Schaubild angedeutet, gelegentlich wird hier auch von "creative clusters"und teilweise von "Komplementärbeziehungen" gesprochen (wie etwa zwischen staatlichen Opernhäusern und den zumeist privaten Musical-Spielstätten). Ein näherer Blick auf einzelne Branchen oder Wertschöpfungsketten führt zusätzlich vor Augen, dass die Berührungspunkte der einzelnen Felder unterschiedlich ausgeprägt sind - so hat der Buchmarkt viel weniger mit öffentlichen Zuwendungsgebern zu tun als die Filmproduktion.
Definitionen müssen so offen und flexibel sein, dass sie Querverbindungen angemessen berücksichtigen und, je nach Art der Fragestellung oder Aufgabe, erweiterungsfähig bleiben. Dies betrifft etwa die zunehmenden grenzüberschreitenden Austauschbeziehungen, Konzentrationstendenzen und ebenso neue, ökonomisch relevante Arbeitsfelder. Als Beispiel sind die "kreativen" Aktivitäten bei der Entwicklung von Computerspielen zu nennen: Nachdem dafür eigene statistische Kategorien fehlen, ist es besonders wichtig, dem Design einen prominenten Platz in kultur- oder kreativwirtschaftlichen Konzepten zuzuweisen und die hier Berufstätigen möglichst vollständig zu erfassen.
Weniger wichtig ist, ob wir dann etwa von einem "Kultursektor" oder einem "Kreativsektor" sprechen, solange nur alle mit Kultur und Medien im weiteren Sinne verbundenen Aktivitäten berücksichtigt werden. Private, öffentliche und informelle Angebote, ihre unterschiedlichen Aufgaben, Maßstäbe und Probleme, müssen auch in Zukunft möglichst klar erkennbar bleiben, möglicherweise sogar jeweils noch stärker überprüft werden. Geschieht dies nicht oder nicht ausreichend, wie in manchen der erwähnten Berichte und Bestandsaufnahmen, könnten einige Angebote bald mangels "Unterscheidbarkeit" in Gefahr geraten und eine bislang noch vielfältige kulturelle Öffentlichkeit Schaden nehmen.
In seiner eingangs erwähnten Nobelpreisrede wies Wole Soyinka noch darauf hin, dass Ogun nicht nur als "Gott der Kreativität" gelten kann, sondern auch als "Gott der Zerstörung". Mehr Transparenz im kulturellen oder "Kreativsektor" kann dazu beitragen, dass diese Zweitrolle möglichst wenig zum Tragen kommt.