Einleitung
Im Januar 2004 führen seine mazedonischen Bewacher den Deutschen Khaled El Masri in einen Raum. Männer in schwarzen Gesichtsmasken schneiden ihm die Kleidung auf, er wird nackt fotografiert. Dann legen sie ihm eine Art Windel an, stecken ihn in einen Trainingsanzug und stülpen ihm einen Sack über den Kopf. An Händen und Füßen gefesselt, wird er in ein Flugzeug gebracht, mit einer Spritze ruhig gestellt. Was ihm vorgeworfen wird, wohin er ausgeflogen wird, was ihn erwartet - er weiß es nicht. El Masri ist Opfer einer extraordinary rendition, einer außerordentlichen Überstellung, geworden. Schätzungsweise mehrere hundert Menschen sind seit 2001 auf ähnliche Weise heimlich in vorgeblichen Privatflugzeugen über Ländergrenzen hinweg transportiert worden.
Dieser Artikel untersucht Renditions als spezifisches Instrument des "Kriegs gegen den Terror" aus völker- und menschenrechtlicher Perspektive mit Blick auf Europa. Zunächst wird daran erinnert, dass Renditions Teil einer umfassenderen Strategie sind. Besonders beunruhigt, dass zu dieser Strategie auch Folter gehört; eine Menschenrechtsverletzung, die aus gutem Grund zu den wenigen zählt, die völkerrechtlich absolut verboten sind. Renditions sind keine Erfindung des "Kriegs gegen den Terror", wie im Anschluss gezeigt wird. Aber sie haben eine neue Dimension angenommen, wie anhand einiger Einzelfälle schnell deutlich wird.
Europäische Staaten haben bei den Renditions eine wichtige Rolle gespielt, sei es als logistisches Terrain, sei es als Unterstützer dieser illegalen Praxis. Unklar ist, ob dies weiterhin geschieht. Klar ist aber, dass hier ein ernstes Fehlverhalten vorliegt, das vollständig aufgeklärt und gegebenenfalls geahndet werden sollte - um den Opfern gerecht zu werden und auch, um der anhaltenden Erosion der Standards internationalen Rechts zu begegnen.
9/11 und das System Guantánamo
"Mit dem Einsturz der Zwillingstürme hat sich Ihre Rolle erledigt", beschied ein ranghoher US-Regierungsbeamter einer Delegation von amnesty international.
Im Januar 2002 begannen US-Truppen, Gefangene des "Kriegs gegen den Terror" auf den Marinestützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba zu bringen. Sie schufen damit das Symbol für ein komplexes System der Terrorismusbekämpfung, das die Menschenrechte systematisch missachtet. Das "System Guantánamo"
Unter der Regie der US-Streitkräfte und -Geheimdienste wird ein Archipel bekannter und unbekannter Haftzentren betrieben. Nicht einmal das Internationale Rote Kreuz - die einzige internationale Organisation, die bisher Zugang zu den Gefangenen in Guantánamo hatte - kennt alle Haftzentren oder hätte gar Zugang zu ihnen. Die Frage, ob z.B. in Polen und Rumänien solche geheimen Gefängnisse existierten, beschäftigte den Europarat.
Es ist wichtig zu begreifen, dass Renditions integraler Teil dieses Systems und für seine Funktionsweise unentbehrlich sind. Gleichzeitig beinhalten die Renditions selbst alle Elemente, die auch das System charakterisieren: Internationalität, Völkerrechtsbruch, Kooperation mit menschenrechtsfeindlichen Regimen, Geheimhaltung, Demütigung und Misshandlung.
Die Rückkehr der Folter
Als im April 2004 Bilder aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib an die Öffentlichkeit gelangten, führten sie einem entsetzten Publikum vor Augen, was Menschenrechtsorganisationen schon wussten und schon gesagt hatten: Die Folter ist in den Rechtsstaat zurückgekehrt. Etwa zeitgleich wurde auch in Deutschland anlässlich des "Daschner-Falles" weithin über Folter debattiert.
Genau genommen ist die Folter nicht "zurückgekehrt", denn sie war nie wirklich "gegangen". Nicht umsonst ist der Kampf gegen die Folter bis heute ein Hauptarbeitsgebiet vieler Menschenrechtsorganisationen. Obwohl völkerrechtlich seit 1948 eine Menschenrechtsverletzung, hat die Folter als systematische Praxis, mit einer ebenso systematischen und institutionalisierten Forschung und Lehre als Grundlage dieser Praxis, nie aufgehört zu existieren. Nach 9/11 haben die USA nurmehr "die Handschuhe (wieder) ausgezogen"
Wie Alfred McCoy zeigt, hat die CIA während des Kalten Krieges Verhörmethoden getestet und Manuale entwickelt, die für Schulungen in Staaten der Dritten Welt, insbesondere in Lateinamerika und auf den Philippinen, verwendet wurden. Die damals erprobten Methoden kann man heute in den Beschreibungen der Gefangenen im War on Terror wiedererkennen: Die mit dem Euphemismus "Waterboarding" benannte und offenbar in US-Haftzentren angewendete Methode, den Menschen oder nur seinen Kopf so lange unter Wasser zu drücken oder mit Wasser zu überschütten, bis er glaubt, zu ertrinken, wurde bevorzugt von der französischen Armee im Algerienkrieg oder von der CIA selbst im Vietnamkrieg eingesetzt.
Da Folter in Rechtsstaaten erhebliche rechtliche Probleme aufwirft, tendieren diese dazu, als "notwendig" erachtete Folter außerhalb ihrer Territorien - und damit außerhalb rechtsstaatlicher Kontrolle - durchzuführen bzw. durchführen zu lassen. Die USA haben offiziell stets erklärt, sie achteten das völkerrechtliche Verbot von Folter und grausamer Behandlung. Untersuchungen im Zusammenhang mit den Vorfällen von Abu Ghraib sowie Medienrecherchen haben jedoch ergeben, dass nach Januar 2002 Regierungsmitglieder und hochrangige Regierungsbeamte und Militärs mehrfach die Exekutivorgane zumindest ermuntert haben, das Verbot zu umgehen. So wurden erlaubte Verhörmethoden einzeln aufgelistet, die etwa nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Misshandlung und/oder Folter gewertet werden. In Memoranden definierten juristische Berater der US-Regierung die Folter extrem eng, um grausame Verhörpraktiken zu legitimieren. Zwar sind die Misshandlungen gestattenden Erlasse mittlerweile offiziell zurückgenommen. Doch haben die bisherigen Untersuchungen der Vorfälle von Abu Ghraib und anderer Vorwürfe gegen US-Truppen und -Geheimdienste gezeigt, dass die US-Regierung weder an einer unabhängigen Untersuchung noch an der Identifizierung und Bestrafung der Hauptverantwortlichen interessiert ist. Bisher wurden vor allem die unmittelbar ausführenden Soldaten niedriger Dienstränge vor Gericht gestellt. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass eine grundlegende Änderung der Politik stattgefunden hat.
Überstellung in die Rechtlosigkeit
Wenn wir hier von Rendition sprechen, dann ist zunächst jeder Transport von einem Gefangenen ohne jedes rechtstaatliche Verfahren von einem Staat in einen anderen gemeint. Bekannt geworden ist der Begriff extraordinary rendition (oder kurz Rendition) durch das entsprechende Programm der CIA, die schon Mitte der neunziger Jahre begann, Terrorverdächtige im Ausland aufzuspüren, gefangen zu nehmen und in Privatflugzeugen heimlich auszufliegen.
Rendition heißt nicht nur "Überstellung", es kann auch soviel wie "Urteilsverkündung" bedeuten. Im Verschleppungsprogramm der CIA vereinigen sich beide Wortbedeutungen. Wer von der "Special Removal Unit" abtransportiert wird, über den ist ohne Gerichtsverhandlung ein Urteil gesprochen. Das unterscheidet diese Mittel im Kampf gegen den Terror von früheren Entführungen im staatlichen Auftrag. Beispielsweise transportierten 1994 französische Agenten Illich Ramírez Sánchez, genannt Carlos, ebenfalls ohne formelles Auslieferungsverfahren aus dem Sudan nach Frankreich. Dort allerdings bekam er einen Prozess und wurde verurteilt.
Auf ein faires Gerichtverfahren können die Opfer heutiger Renditions dagegen nicht hoffen. Ziel ist es, die Entführten nach Gutdünken mit "kreativen Verhörmethoden" zu befragen oder durch "befreundete Dienste" verhören zu lassen. Die CIA verspricht sich davon Informationen, mit denen künftige Anschläge verhindert werden könnten. Gefahrenabwehr ist das Stichwort, nicht Strafverfolgung. Letztere wird durch Renditions sogar verhindert, etwa im Fall von Osama Mustafa Hassan Nasr, genannt Abu Omar. Seine Entführung durch CIA-Agenten am 17. Februar 2003 in Mailand ist durch die Ermittlungen der italienischen Staatsanwaltschaft gut dokumentiert. "Die Entführung von Abu Omar war nicht nur eine ernste Verletzung der italienischen Souveränität und der Menschenrechte, sie fügte auch dem Antiterrorkampf in Italien und Europa schweren Schaden zu", stellte der leitende Staatsanwalt, Armando Spataro, fest. "Wäre Abu Omar nicht gekidnappt worden, dann säße er jetzt im Gefängnis und wäre in einem ordentlichen Verfahren angeklagt und hätte wahrscheinlich geholfen, seine Komplizen zu identifizieren."
Die USA geben offen zu, dass sie für "außerordentliche Überstellungen" verantwortlich sind. Renditions seien ein "entscheidendes Mittel im Kampf gegen den Terror", sagteAußenministerin Condoleezza Rice bei ihrem Europabesuch Ende 2005. Sie behauptete allerdings, die Gefangenen würden weder gefoltert noch an Folterstaaten ausgeliefert. Details teilt die US-Regierung allerdings nicht mit, geschweige denn lässt sie eine unabhängige Untersuchung der Vorgänge zu.
So wird es noch einige Zeit dauern, bis alle Einzelheiten bekannt sind. Doch aus Zeugenaussagen von ehemaligen Gefangenen und ehemaligen CIA-Mitarbeitern, durch die Auswertung von Flugdaten und aus den Akten europäischer Ermittler lässt sich schon jetzt ein Bild gewinnen - das Bild eines "globalen Spinnennetzes", wie es der Sonderberichterstatter für den Europarat, der Schweizer Dick Marty, in seinem Anfang Juni veröffentlichten Bericht beschreibt.
Überstellungen von Terrorverdächtigen ohne Auslieferungsverfahren betrieben die USA in Einzelfällen schon in den achtziger Jahren. Ziel war damals, die mutmaßlichen Terroristen in den USA anzuklagen und zu verurteilen. Auf diesem Weg kam z.B. Ramzi Yousef, einer der Planer des ersten Bombenanschlags auf das World Trade Center, aus Pakistan vor ein US-Gericht.
Glaubt man Michael Scheuer, der 22 Jahre für die CIA arbeitete, begann das heutige Renditionprogramm 1995.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 stand neben dem Militär auch die CIA unter immensem politischem Druck. Sie sollte schnelle Erfolge vorweisen. Das Renditionprogramm wurde ausgeweitet und erhielt eine neue Dimension: Die CIA begann, selbst Gefängnisse zu betreiben. Einiges spricht dafür, dass auch Polen und Rumänien zeitweise solche Gefängnisse beherbergten.
Folgt man Michael Scheuer, gab es vor 2001 eine genaue Prüfung für jede dieser Überstellungen. Vornehmliches Ziel war es, gefährliche Personen "von der Straße zu holen". Doch jetzt ging es auch um Informationsgewinnung. Entsprechend verfingen sich auch Menschen in dem "globalen Spinnennetz", die irgendwie in den Verdacht geraten waren, mit al-Qaida in Kontakt zu stehen.
Welchen Umfang das Renditionprogramm hatte, kann nur grob abgeschätzt werden. Ehemalige CIA-Mitarbeiter sprechen von mehreren hundert Verschleppten. Der Rechtsberater des State Departments, John Bellinger, weist diese Zahl als übertrieben zurück. Auf einer Pressekonferenz am 4. Mai 2006 in Brüssel sagte er, es habe nur "sehr wenige" Renditions gegeben. Da die US-Regierung sich allerdings nach wie vor nicht zu einzelnen Fällen äußert, lassen sich diese Angaben in keiner Weise überprüfen.
Europa und Renditions
Schon der Blick auf die geographische Lage Europas legt nahe, dass viele der interkontinentalen Renditionflüge über Europa geführt haben. Es ist, wie Dick Marty feststellt, "äußerst unwahrscheinlich, dass die europäischen Regierungen, oder zumindest ihre Geheimdienste, nichts bemerkt haben".
Am 17. Januar 2002 ordnete der Oberste Gerichtshof Bosnien-Herzegowinas die Freilassung von sechs Männern an. Sie waren unter dem Verdacht festgenommen worden, Bombenanschläge auf die US- und die britische Botschaft geplant zu haben. Die dreimonatige Untersuchung hatte keine Hinweise auf eine Verwicklung in terroristische Aktivitäten zu Tage gefördert. Vier der Männer befürchteten, nach ihrer Freilassung ins Ausland verschleppt zu werden. Sie erwirkten noch am gleichen Tag einen Beschluss der Menschenrechtskammer, der die bosnische Regierung verpflichtete, die Männer vor einer solchen Verschleppung zu schützen. Doch die bosnischen Behörden taten das Gegenteil: Polizisten nahmen die sechs Bosnier algerischer Herkunft erneut fest und übergaben sie eine Stunde nach der Entscheidung der Menschenrechtskammer an das US-Militär, das in dem Fall die illegale Überstellung erledigte. Sie wurden nach Guantánamo ausgeflogen. Dort werden sie bis heute ohne Anklage festgehalten.
Allein dieser Vorgang, nachzulesen in einer weiteren Entscheidung der Bosnischen Menschenrechtskammer vom 4. April 2003, hätte die europäische Öffentlichkeit und Politik alarmieren müssen. Dass hier eine europäische Regierung ihre eigenen Bürger gegen jedes rechtsstaatliche Verfahren nach Guantánamo verschleppen ließ, stieß jedoch zunächst auf wenig Interesse. Ähnlich begrenzt war 2004 das Echo auf die Berichte von der Abschiebung der beiden ägyptischen Asylbewerber Ahmed Agiza und Mohammed Alzery aus Schweden. In einem mehr als ungewöhnlichen Verfahren übergab am 18. Dezember 2001 die schwedische Geheimpolizei die beiden Asylbewerber einer amerikanischen Spezialeinheit. Was die Schweden dann in einem abgeschirmten Raum am Stockholmer Flughafen Bromma beobachteten, erstaunte und beeindruckte sie. Einen Grund einzugreifen sahen sie nicht. Die maskierten US-Agenten verständigten sich nur mit Handzeichen. Mit Scheren schnitten sie den Asylbewerbern aus Ägypten die Kleider vom Leib, untersuchten peinlich genau alle Körperöffnungen, steckten sie in Trainingsanzüge und stülpten ihnen einen Sack über den Kopf. In Hand- und Fußschellen führten sie die Gefangenen schließlich zu einem privaten Flugzeug, das sie nach Ägypten brachte. Der schwedische Übersetzer, der die Aktion beobachtete, war überrascht, "wie zum Teufel sie die so schnell anziehen konnten".
Anfang 2005 wurden Details der Verschleppung von Khaled El Masri bekannt. Es folgten Berichte über weitere Fälle, Artikel in "Washington Post" und "New York Times" beschrieben sie als Teil einer Renditionroutine. Im Zusammenhang mit den Verschleppungen tauchen immer wieder die gleichen Flugzeugnummern auf. Im Bewusstsein der Öffentlichkeit entsteht allmählich das Bild eines Spinnennetzes. Die Verschleppungspraxis, vor der amnesty international bereits in einem Bericht von 2001 gewarnt hat,
In Deutschland musste sich schließlich die Regierung in einer Bundestagsdebatte rechtfertigen. Weniger der Drang, die eigene Rolle bei den Verschleppungsflügen offen zu legen, als erneute Indiskretionen in den USA heizten hierzulande die Debatte an. Nach einem Bericht der "Washington Post" war der damalige Innenminister Otto Schily über die Entführung von Khaled El Masri informiert. Unter dem Versprechen der Vertraulichkeit hatte der US-Botschafter demnach Schily von der Verschleppung unterrichtet und die Freilassung angekündigt. Dieses Gespräch wurde später von der Bundesregierung bestätigt. Allerdings sei Schily nicht kurz vor, sondern zwei Tage nach der Freilassung El Masris informiert worden.
Fast alle europäischen Regierungen scheinen die Aufklärung dieser Vorfälle nicht gerade aktiv zu betreiben. Die italienische Regierung stellte sich der juristischen Verfolgung eines Renditionfalls sogar offen in den Weg. Die italienische Staatsanwaltschaft hatte durch ihre Ermittlungen die Entführung von Hassan Mustafa Osama Nasr detailgenau nachgezeichnet. Über Handydaten konnte sie auch die beteiligten CIA-Agenten identifizieren und erwirkte Haftbefehle gegen sie. Das Justizministerium weigerte sich jedoch, ein entsprechendes Auslieferungsersuchen an die USA zu stellen.
Auch die Bundesregierung zeigte wenig eigene Initiative bei der Aufklärung der deutschen Rolle in den Renditions. So versuchte sie, die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses mit dem Argument zu verhindern, sie habe bereits alles aufgeklärt. Eine Behauptung, die schon widerlegt wurde, bevor der Ausschuss mit seiner eigentlichen Arbeit begann. Einem BND-Mitarbeiter kamen bemerkenswerte Erinnerungen, als er erfuhr, dass er als Zeuge vor den Ausschuss geladen werden würde: Ein Unbekannter habe ihm beiläufig in einer mazedonischen Behördenkantine von der Gefangennahme des Deutschen El Masri erzählt. Seinen Vorgesetzten will er davon nichts erzählt haben.
Wenn diese Geschichte stimmt, dann folgte er damit durchaus der Linie der politischen Führung: Erst aufklären, wenn es nicht mehr anders geht. Nicht nur hätte sie bekannt gewordene Fälle aktiv aufklären, sondern sie hätte auch präventiv tätig werden müssen. Anlass gab es dazu längst bevor die CIA-Flüge durch Europa in der Öffentlichkeit breit diskutiert wurden. Nicht nur Menschenrechtsorganisationen hatten schon lange auf die illegale Praxis hingewiesen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats beispielsweise hatte schon im April 2005 seine Mitgliedsstaaten aufgefordert, "sicherzustellen, dass ihr Staatsgebiet und ihre Einrichtungen nicht im Zusammenhang mit geheimer Haft und Überstellungen unter möglicher Verletzung internationaler Menschenrechtsbestimmungen verwendet werden".
Mitschuld und Verantwortung
Die bisherigen Untersuchungen europäischer Institutionen und Menschenrechtsorganisationen haben ernstzunehmende Hinweise, aber keine handfesten Beweise erbracht, dass die CIA Geheimgefängnisse auf europäischem Boden betreibt oder betrieben hat. Dagegen ist in mehreren Fällen nachweisbar, dass Menschen auf europäischen Flughäfen und im europäischen Luftraum willkürlich und ungesetzlich verhaftet und/oder verschleppt wurden. Dies war möglich, entweder weil die Behörden von Mitgliedsstaaten des Europarats ihre Kontrollpflicht stark vernachlässigten oder sich an den Handlungen mehr oder weniger aktiv beteiligten. Der Sonderberichterstatter des Europarats hat daher eine Reihe von europäischen Staaten der möglichen Verletzung von Rechten Einzelner sowie der möglichen illegalen aktiven oder passiven Begünstigung von Renditions beschuldigt.
amnesty international hat dies kürzlich zugespitzt als "Partnerschaft des Rechtsbruchs" zwischen USA und Europa gewertet: "Ohne Europas Hilfe würden einige Männer in Gefängniszellen an verschiedenen Orten der Erde nicht ihre Folterwunden zu versorgen haben. Ohne die Informationen, die europäische Geheimdienste zur Verfügung gestellt haben, wären einige der Opfer von Renditions überhaupt nicht entführt worden. Ohne den Zugang zu europäischen Flughäfen und europäischem Luftraum hätte es die CIA viel schwerer gehabt, ihre menschliche Fracht zu transportieren. Kurz, Europa hat als Partner für diese Rechtsbrüche der USA fungiert."
Die juristische Bewertung im jüngsten ai-Bericht liest sich zusammenfassend so: "Renditions sind illegal; sie unterlaufen die Standards zulässiger Rechts- und Verwaltungsprozeduren und verletzen das Recht des Einzelnen, überall als Rechtsperson anerkannt zu werden. Bei den meisten Opfern war schon ihre Verhaftung und Inhaftierung illegal; einige wurden verschleppt, anderen wurde der Zugang zu Rechtsmitteln verweigert, etwa um ihre Überführung in ein Land anzufechten, in dem ihnen Folter droht. Viele der illegal Verhafteten und illegal in ein anderes Land Verschleppten sind verschwunden." Alle Rendition-Opfer, die amnesty international interviewt hat, sagen, dass sie "gefoltert oder misshandelt worden sind. (...) Jeder Staat, der einem anderen Staat dabei hilft, internationales Recht zu brechen, ist dafür international zur Verantwortung zu ziehen, sofern er im Bewusstsein der Umstände des Rechtsbruches gehandelt hat."
Dick Marty wie Menschenrechtsorganisationen beziehen sich auf ein juristisches Gutachten, das die Venedig-Kommission des Europarats im Auftrag des Komitees für Rechtsfragen und Menschenrechte erstellt hat.
Die Venedig-Kommission stellte darüber hinaus fest, dass Mitgliedsstaaten unautorisierte Verhaftungen durch Beamte ausländischer Staaten auf ihrem Mitgliedsgebiet verhindern müssen. Selbst wenn die verhaftende Stelle eine Berechtigung nach einem Truppenstatut (Status of Forces Agreement, SOFA) oder nach dem NATO-Statut geltend mache, habe das Völkergewohnheitsrecht (ius cogens) Vorrang, zu dem u.a. das absolute Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung nach Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zähle. Für aktive wie passive Beteiligung an illegalen Verhaftungen und Verschleppungen sei der Mitgliedsstaat nach der EMRK zur Verantwortung zu ziehen. Ein Gefangener könne nur durch Abschiebung, Auslieferung oder zum Antritt einer Haftstrafe in ein anderes Land bzw. im Transit auf dem Weg dorthin von einem Mitgliedsstaat des Europarates in das Hoheitsgebiet eines anderen Staates verbracht werden. Für Abschiebung und Auslieferung gelten diverse rechtliche Schutzmechanismen, insbesondere das non-refoulement-Prinzip; dass also niemand abgeschoben oder ausgeliefert werden darf, wenn das Risiko besteht, dass er anschließend gefoltert wird. Die Kommission betont, dass so genannte diplomatische Zusicherungen nicht ausreichten, um dieses Risiko auszuschließen, da sich kaum kontrollieren lasse, ob eine Person gefoltert werde oder nicht.
Sowohl in der juristischen Bewertung als auch in den Handlungsempfehlungen an europäische Regierungen stimmen europäische Institutionen und Menschenrechtsorganisationen weitgehend überein. Sie fordern zunächst, dass die europäischen Regierungen deutlich mehr als bisher tun müssen, um Details und Verantwortlichkeiten der Renditions aufzuklären. Sie fordern die europäischen Regierungen auf, Renditions aktiv vorzubeugen. Inbesondere müssten sie die Aktivitäten ausländischer Geheimdienste besser kontrollieren, ihre Möglichkeiten der Flugkontrolle nutzen sowie die internationalen Flugvorschriften so verbessern, dass sie beim Verdacht auf illegale Zwecke des Fluges ausreichende Handhabe zur Kontrolle haben.
Schlussbemerkungen
Im Mai 2006 legten die USA dem UN-Komitee gegen Folter ihren periodischen Bericht vor. Delegationsführer John Bellinger, Chefjurist des Außenministeriums, stellte klar, dass Renditions fortgeführt würden. Er bestritt aber, dass Renditions im Zusammenhang mit Misshandlung oder Folter stünden, und betonte, dass die Handlungen der USA im Krieg gegen den Terror nach ihrer Auffassung im Einklang mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen stünden. So sei es die Auffassung der USA, dass sich das non-refoulement-Gebot nur auf die Auslieferung von Menschen vom Territorium der USA in andere Länder, in denen ihnen Folter drohen könne, beziehe, nicht aber auf die Auslieferung von Personen (in US-Gewahrsam) vom Gebiet anderer Staaten aus.
Ungeachtet US-amerikanischer Versprechen wie jüngst beim EU-USA-Gipfel in Wien, sich an das Völkerrecht halten zu wollen, wird man daher unterstellen müssen, dass die Regierungen der EU und der USA nicht dasselbe meinen, wenn sie über Folter reden. Dick Marty hat dazu festgestellt: "Die Staaten der Alten Welt begegnen den Bedrohungen (des Terrorismus) vorrangig mit vorhandenen Institutionen und Gesetzen. Die USA scheinen eine grundsätzlich andere Wahl getroffen zu haben. (...) Dieser juristische Zugang ist der Tradition und Sensibilität Europas äußerst fremd."
Das normative und praktische Handeln der derzeitigen US-Regierung hat Konsequenzen, die für die internationale Politik und die Zukunft des Systems multilateraler Beziehungen unter der Ägide der UNO kaum zu überschätzen sind. An die Stelle einer Politik, die auf multilateralem Ausgleich, Gewaltfreiheit, der Bindung an die Grundsätze und Institutionen der UNO und vor allem auf den kodifizierten menschen- und völkerrechtlichen Prinzipien beruht, ist ein System getreten, das auf "feindstrafrechtlichem" Denken basiert.