Einleitung
Dass "gleichwertig nicht gleich" bedeutet, stellte Matthias Platzeck - der Ministerpräsident von Brandenburg - in einer Presseerklärung vom 31. Mai 2004 ebenso prägnant wie resolut fest. Seine Feststellung richtete sich keineswegs an ganz Brandenburg, sondern nur an die Bewohner bestimmter Teilgebiete: die entlegenen Landstriche, welche das Pech haben, nicht die Metropole Berlin zu umsäumen. Entsprechend fuhr erfort: "Wir haben zu konstatieren, dass nicht in allen Dörferngleich gefördert werden kann."
Diese war bisher als Postulat - also als politische Anweisung - verstanden worden, "zurückgebliebene Regionen" so zu entwickeln, dass diese zu den "fortgeschrittenen" aufschließen, am "Prozess der Modernisierung" teilhaben und insbesondere von den Gütern und Verwirklichungschancen
Gleichwertigkeit: Gleichheit und Gleichförmigkeit
In entlegenen Dörfern, in "armen Kommunen" - nicht nur in Brandenburg - scheint dieses Postulat zunehmend brüchig zu werden. Damit wird fraglich, ob künftig noch und vor allem wie "gleichwertige Lebensverhältnisse" gesichert werden können. Wie eng der Zusammenhang zwischen den "Kommunen im Wandel" - so der Titel der Ausgabe von APuZ 21 - 22/2006 vom 22. Mai dieses Jahres - mit dem Grundsatz der "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" verknüpft ist, zeigte sich in den Beiträgen dieses Heft besonders anschaulich. Gleich in zwei Texten wurde der Wandel der Kommunen, der vorwiegend auf den Wegzug von Bewohnern zurückgeführt wird, auf die Konsequenzen für die "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" bezogen. Ulrich Sarcinelli und Jochen Stopper fragten in ihrem Beitrag, "ob das Ziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse (Art. 72 Abs. 2 GG) bei regional sehr unterschiedlich verlaufenden Bevölkerungsentwicklungen noch handlungsleitend sein kann".
Markant an diesen Zitaten ist dreierlei: Erstens beziehen sie sich direkt oder indirekt auf das Grundgesetz, was zeigt, wie politisch und gesellschaftlich präsent die verfassungsrechtliche Garantie einer bestimmten Qualität der Lebensverhältnisse ist. Für andere Verfassungsgebote gilt dies vermutlich nicht so ausgeprägt, was als Indiz für die Gegenwärtigkeit und Bejahung des darin enthaltenen Grundkonsenses angesehen werden kann. Zweitens fällt auf, dass in diesen Zitaten Gleichwertigkeit, ohne dass dies eigens ausgesprochen wird, als weitgehende Gleichheit bzw. Gleichförmigkeit der Lebensverhältnisse aufgefasst wird. Dass Gleichwertigkeit auch anderes meinen kann, etwa gleichgestellte Verschiedenartigkeiten oder die Anerkennung der Gleichberechtigung von Differenz, liegt dem gewohnten Verständnis offenbar fern. Mit dem zweiten Punkt korrespondiert drittens, dass Gleichheit bzw. Gleichförmigkeit bislang mittels Input-Indikatoren gesichert wurde: Pro 1 000 Einwohner sollten x Güter oder y Zugangschancen bereit stehen. Diese Gleichungen geraten bei einem massiven Wandel der Bevölkerungsgröße - bei starkem Wachstum wie bei starkem Rückgang - aus der Balance. Die in den Gleichungen enthaltenen gesellschaftspolitischen Ziele wie dieselbe Zugänglichkeit zum Gesundheits- und Bildungssystem oder identische Erwerbschancen werden mit Rekurs auf die "schrumpfende Bevölkerung" für nicht mehr finanzierbar gehalten und mit diesem Argument zur Disposition gestellt. Anstatt die bisherige Auslegung von Gleichwertigkeit als Gleichheit bzw. Gleichförmigkeit und deren praktische Umsetzung durch eine mehr oder weniger identische strukturelle Ausstattung zu überprüfen, gerät die Legitimität der gesellschaftspolitischen Ziele in Bedrängnis. Damit wird der demographische Wandel dazu genutzt, einen bisher geltenden gesellschaftlichen und politischen Grundkonsens in Frage zu stellen.
So schnell und geräuschlos, wie von Cordula Tutt prognostiziert, wird der Abschied von der Auffassung, wonach unter "Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen" weitgehend gleiche bzw. gleichförmige Lebensumstände verstanden werden, nicht vonstatten gehen: Diese Auslegung repräsentiert augenscheinlich noch immer den gesellschaftlichen Grundkonsens, wie Gleichwertigkeit praktisch umzusetzen ist. Das bekam Horst Köhler überaus deutlich zu spüren, als er wenige Monate nach seinem Amtsantritt in einem Focus-Interview zu Protokoll gab: Es "gibt nun einmal überall in der Republik große Unterschiede in den Lebensverhältnissen. Das geht von Nord nach Süd wie von West nach Ost. Wer sie einebnen will, zementiert den Subventionsstaat ... Wir müssen weg vom Subventionsstaat."
Leicht fällt der Abschied von diesem Verständnis schon deshalb nicht, weil weitgehend offen ist, was an die Stelle von Gleichwertigkeit als Gleichheit treten könnte. So unterstrich Matthias Platzeck in seiner Regierungserklärung vom 27.Oktober 2004, dass "das Ziel allen politischen Handelns (sein) muss und es wird, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse sicherzustellen". Aber die "Menschen wissen längst", "dass ihnen im ländlichen Raum natürlich einiges zugemutet wird: Längere Wege".
Wenn dies stimmt, worauf einiges hindeutet, dann kann auf die Frage, was "Gleichwertigkeit" jenseits von Gleichheit meint, nicht lapidar mit "längere Wege" geantwortet und einer Antwort auf diese Weise geradezu ausgewichen werden. Genau dies geschieht aber aktuell, denn bislang wird kaum und nur äußerst leise darüber politisch debattiert, welche Folgen die quantitative Reduzierung der Infrastruktur auf noch zu definierende, "gegebenenfalls räumlich differenzierte Mindeststandards" haben wird.
Neuinterpretation des Gleichwertigkeitspostulats
Dass eine solche Debatte dringlich geführt werden muss, haben beispielsweise die Autoren des Diskussionspapiers "Leitbilder und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in Deutschland" angemahnt, welches imSeptember 2005 vom Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (BMVBW), dem Bundesamt für Bauwesen und Raumordung (BBR) und vom Büro für Angewandte Geographie (BFAG) herausgegeben wurde.
Um herauszufinden, worauf die Interpretation der "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" als Gleichheit oder Gleichförmigkeit basiert, sind verschiedenste wissenschaftliche Zugänge möglich: etwa politische Ideenlehren, philosophische Kommentierungen, juristische Auslegungen oder andere Herleitungen. Allerdings handelt es sich dabei um vorwiegend normative Quellen, die beileibe nicht wiedergeben, was in der sozialen und politischen Praxis darunter begriffen wird - was empirisch gilt. Um sich dies zu vergegenwärtigen, empfiehlt es sich, sich auf die "Ungleichheitssoziologie" als empirische Wissenschaft zu beziehen. Dafür spricht zudem, dass die Auffassungen von gleichwertigen Lebensverhältnissen ähnlich wie die Vorstellungen von sozialer Gleichheit bzw. Ungleichheit letztendlich auf dem Postulat sozialer Gerechtigkeit basieren. Hinter beiden schwingt somit die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit mit. Deshalb ist zu fragen, wie diese "operationalisiert" wird; welche Lebensumstände als sozial ungerecht - weil ungleich oder ungleichwertig - eingestuft werden.
Gerechtigkeitsmaß
Betrachtet man unter dieser Prämisse die Ungleichheitssoziologie, fällt auf, dass die Mehrzahl der populären Ungleichheitsmodelle
Soziale und räumliche Ordnung
Ausgleich meint aber nicht unbedingt Angleichung; entscheidend ist, dass die soziale Ordnung bzw. der Gesamtraum (der Bundesrepublik Deutschland) gesichert werden. Georg Simmel hat dies am Beispiel der Armenunterstützung veranschaulicht. Diese erfolgt im "Interesse der Gesellschaftstotalität", da sie dazu dient, "extreme Erscheinungen der sozialen Differenziertheit so abzumildern", dass die Sozialstruktur "weiter auf sich ruhen kann". Damit trägt sie zum "Erhaltung der gesellschaftlichen Totalität" bei.
Durch die Abmilderung räumlicher Ungleichgewichte, die zwischen den einzelnen Gebieten stattfindet, welche den Gesamtraum bilden, beweist die "Gerechtigkeitsgemeinschaft" ihre teilräumliche Zusammengehörigkeit in der Horizontalen. Auf diese Weise stellt sie eine gegliederte räumliche Ordnung her - eine territoriale Integration. Auch hier gilt, dass es zu deren Herstellung nicht notwendig ist, die Verschiedenartigkeit der Teilräume in Gleichförmigkeit zu überführen, wohl aber extreme Unterschiede in den Lebensverhältnissen abzubauen sind. Diese werden oft als "Zurückgebliebenheit" qualifiziert. Die Reduktion räumlicher Ungleichgewichte zielt somit darauf, die "entwickelten Lebensverhältnisse" in alle Teilräume auszudehnen.
In der Qualifizierung der Lebensverhältnisse als "zurückgeblieben" ist enthalten, dass die Unterschiede in den Lebensumständen - beispielsweise großstädtische oder ländliche - nicht als Nebeneinander von Verschiedenartigkeit, sondern als Hintereinander von Entwicklungsstufen - also als Ungleichzeitigkeit - beschrieben werden. Darin ist klar der Anspruch inbegriffen, dass sich alle Teilräume in eine bestimmte Richtung zu entwickeln haben. Insofern bedeutet räumliche Integration nicht nur die Bestätigung der territorialen Zusammengehörigkeit, sondern auch das Recht wie die Verpflichtung, am selben Entwicklungsprozess teilzunehmen. So sollten nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl in West- als auch in Ostdeutschland die Prozesse der Industrialisierung und Modernisierung in alle Landstriche getragen werden, unabhängig davon, ob sie nah oder fern der Trassen der großen Produktionsstandorte oder des "großstädtischen Geisteslebens" lagen.
Damit ist ein weiteres Merkmal der "Gerechtigkeitsgemeinschaft" angesprochen: Diese kann sich auf die Gegenwart beziehen und ihr Gerechtigkeitsmaß aus dem aktuellen räumlichen Vergleich gewinnen, oder sie bezieht die Lebensverhältnisse künftiger Generationen mit ein und verantwortet diesen gegenüber ihr Gerechtigkeitsmaß. Im ersten Fall beschränkt sich das Gerechtigkeitsmaß auf die derzeit räumlich verfügbaren Ressourcen und Zugänge, wobei indirekt unterstellt wird, dass sich deren Höhe und Größe geradezu direkt von der Vergangenheit herleiten. Hierbei überwiegt die räumlich gleiche bzw. gleichförmige gegenüber der zeitlichen Verteilung, weil das Gerechtigkeitsmaß gegenwartsorientiert ist. Die Erwartung einer "nachholenden Modernisierung" - das Aufschließen "zurückgebliebener" an die entwickelten Regionen - setzt auf Gleichverteilung in der Gegenwart. Entsprechend gilt die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse als gesichert, sofern die vorhandenen Güter und Zugänge innerhalb der "territorialen Gerechtigkeitsgemeinschaft" weitgehend gleichmäßig verteilt sind. Die oben vorgestellten Gleichungen - x Güter oder y Zugangschancen pro 1 000 Einwohner - sollen dies garantieren.
Im zweiten Fall wird die unbekannte Zukunft in die Bestimmung des Gerechtigkeitsmaßes mit einbezogen, wobei davon ausgegangen wird, dass in der Gegenwart Handlungsalternativen vorliegen und auf die Zukunft mittels Entscheidungen eingewirkt werden kann.
Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse
Nicht nur das Eingangszitat, ebenso die Neufassung des Artikels 72 Absatz 2 GG im Jahr 1994 wie auch die Novellierung des Raumordnungsgesetzes von 1997 zeigen, dass die bisherige Fassung von Gleichwertigkeit als Gleichverteilung, Angleichung oder weitgehender Ausgleich zumindest teilweise aufgegeben und eine andere Auslegung nahe gelegt wird. Andererseits scheinen die Neuauslegungen des Gleichwertigkeitspostulats sich (noch) nicht zu einem neuen, einen daraufhin angepassten Grundkonsens zu formieren. Dies zeigte sich etwa in der scharfen Ablehnung von Horst Köhlers Intervention zu diesem Thema. Auch repräsentative Befragungen belegen dies. So stimmten bei einer Sonderumfrage des "Sozio-ökonomischen Panels" im Jahr 2003 rund zwei Drittel der Befragten "voll" bzw. "eher" dem Statement zu, "soziale Gerechtigkeit" bedeute, "dass alle Bürger die gleichen Lebensbedingungen haben ... - rund zwei Drittel gaben damit eine Präferenz für (mehr) Gleichheit zu erkennen".
Wie bereits angedeutet, berufen sich viele, auch Journalisten, Wissenschaftler und Politiker, wenn sie gleiche Lebensbedingungen einklagen oder in Aussicht stellen, auf die grundgesetzliche Formulierung "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" (Art. 72 Abs. 2 GG) und leiten davon staatlich legitimierte Forderungen an die Garantie bestimmter Lebensumstände ab.
Nicht nur die "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse", auch die "Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse" kann eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich machen - ebenfalls in Artikel 72 Absatz 2 GG geregelt.
In diesen größeren Kontext gestellt, wird deutlich, dass dieser Absatz - soziologisch betrachtet - in erster Linie der territorialen Integration dient. Was gleichwertige Lebensverhältnisse sind, darüber gibt das Grundgesetz keine konkrete Auskunft, auch nicht, was zu den Lebensverhältnissen gehört, sieht man von den vier Aufgaben ab, die explizit benannt werden: Hochschulbau, regionale Wirtschaftsstruktur, Agrarstruktur und Küstenschutz.
Weiterhin wurde in der Neufassung von 1994 das Wort "Wahrung" durch "Herstellung" ersetzt. "Wahrung" zielt auf Erhalt und Sicherung und konzentriert sich auf die Gegenwart. "Herstellung" meint einen dynamischen Prozess, schließt die Zukunft mit ein und trägt auf, das Anrecht künftiger Generationen auf "gleichwertige Lebensverhältnisse" zu berücksichtigen. Gemäß den obigen Ausführungen über die Zeitdimension impliziert dies, einzukalkulieren, dass künftige räumliche Gerechtigkeitsmaße zu einer anderen Definition von Gleichwertigkeit als heute üblich führen können.
Nachhaltige Raumentwicklung
Eine sehr ähnliche Veränderung hat die Novellierung des Raumordnungsgesetzes (ROG) von 1998 gebracht. Dieses Gesetz regelt auf Bundesebene, dass für den "Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland" und "seine Teilräume" Raumordnungspläne aufzustellen, "raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen" aufeinander abzustimmen sind, "Vorsorge" für einzelne Raumfunktionen und Raumnutzungen zu treffen ist etc. Abermals soziologisch betrachtet, enthält es Anleitungen dafür, wie die und welche räumliche Ordnung herzustellen ist. Mit der Novellierung von 1998 wurde insbesondere das Leitbild für die Raumordnung neu bestimmt. Es lautet nun "nachhaltige Raumentwicklung". In mehreren nachgeordneten Teilzielen, die ebenfalls neu gefasst, aufgenommen und angeordnet wurden, wird präzisiert, was unter einer solchen Entwicklung zu verstehen ist. Dabei fällt in Bezug auf das Teilziel "gleichwertige Lebensverhältnisse" auf, dass dieses von Platz vier auf Platz sechs durchgereicht wurde. Die Teilziele "Standortvoraussetzungen für wirtschaftliche Entwicklungen zu schaffen" und "die prägende Vielfalt in allen Teilräumen herzustellen" belegen jetzt die Plätze vier und fünf. Weiterhin - vergleichbar der Neufassung des Artikels 72 Absatz 2 GG - wurde die Einbeziehung der Zukunft durchgesetzt. "Gleichwertige Lebensverhältnisse" sind nun in allen Teilräumen herzustellen, während in der Fassung des ROG von 1991 "gleichwertige Lebensbedingungen" in allen Teilräumen geboten oder herbeigeführt werden sollten. Schaut man die Liste der Begriffe durch, mit denen präzisiert wird, welches Gerechtigkeitsmaß zugrunde gelegt wird, dann stößt man auf folgenden Formulierungen: ausgewogene Verhältnisse, angemessene Ausstattung, Sicherstellung der Grundversorgung etc.
Noch deutlicher ist die Abkehr von Gleichwertigkeit als Gleichheit, Gleichverteilung oder Gleichförmigkeit in dem oben bereits erwähnten Diskussionspapier "Leitbilder und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in Deutschland". Dort wird dafür plädiert, dass künftig nicht mehr "die Sicherstellung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in den Teilräumen" Priorität hat, sondern der "Erhalt der Vielfalt der Städte und Landschaften" in den Vordergrund zu rücken ist.
Gleichwertigkeit jenseits von Gleichheit und Angleichung
Kehren wir zur Ausgangsfrage danach zurück, was Gleichwertigkeit jenseits von Gleichheit und Angleichung meinen könnte. In den drei skizzierten Dokumenten zeichnen sich zwei Auslegungsrichtungen ab. Erstens: weniger Gleichverteilung bzw. Gleichförmigkeit. Die Diskussion um Mindest- oder räumlich differenzierte Standards sowie eine zeitlich und räumlich verringerte Erreichbarkeit gehört zu dieser Richtung. Zweitens: künftigen Ansprüchen und Sichtweisen bereits in der Gegenwart Geltung zu verschaffen. In dieser Debatte wird für eine "nachhaltige Raumentwicklung" plädiert, und es werden die Anrechte künftiger Generationen in das gegenwärtige Verständnis von Gleichwertigkeit integriert.
Die erste Richtung ist bereits sehr nah an der praktischen Umsetzung; so werden in peripheren ländlichen Regionen Kindergärten geschlossen, Schulen zusammengelegt, der öffentliche Nahverkehr zusammengestrichen etc. Wie dagegen erreicht werden kann, sich von den gegenwärtigen Auffassungen von Gleichwertigkeit zu lösen und diese so zu öffnen, dass Zukunft als Entscheidung gedacht wird und Spielräume für Variabilität in den Lebensverhältnissen entstehen, ohne dass die "neuen" Auffassungen das Risiko in sich tragen, von künftigen Entwicklungen abgehängt zu werden, scheint noch weitgehend offen.
Gelänge dies, dann würde sich enthüllen, dass diese Institutionen auf die Industriegesellschaft und den Wohlfahrtsstaat abgestimmt sind, dass sie Ergebnis und Ausdruck der für diese Epoche der Gesellschaft typischen "Gerechtigkeitsgemeinschaften" sind - den industriellen und wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaftsvertrag in die Praxis übersetzen. Für die sich entwickelnde Wissensgesellschaft und eine sich alters- und größenmäßig wandelnde Gesellschaft sind sie vermutlich nicht tragfähig; welche es sein könnten, zeichnet sich noch nicht ab. Genauso wenig ist erkennbar, ob und welche neuen "Gerechtigkeitsgemeinschaften" sich konstituieren werden. Bis dahin sollte die Debatte um gleichwertige Lebensverhältnisse ihren Orientierungsschwerpunkt auf die "unbekannte Zukunft" legen und offen sein für Alternativen. Dies gelingt am besten, wenn sie sich für die Anerkennung der Gleichberechtigung von Differenz einsetzt.
Wenn gleichwertig nicht mehr gleich meint, ist dies jedoch kein Anlass dafür, die in dieser Auslegung enthaltenen gesellschaftspolitischen Ziele - zum Beispiel Bildungspartizipation, optimale Gesundheitsversorgung - aufzugeben. Sie bestehen davon unabhängig weiter.