Die Frage, wer sich legitimerweise als Erbe der friedlichen Revolution sehen darf und wie die damaligen Ereignisse jeweils eingeordnet und gedeutet werden, war stets umkämpft – bis heute. Mit der Zäsur "1989" wandelte sich in Ostdeutschland zudem generell die Art der Auseinandersetzung um die Deutung historischer Ereignisse: Mit der Entmachtung der SED war auch deren geschichtspolitisches Monopol und Diktat gebrochen, und es wurde möglich, was für pluralistische Gesellschaften charakteristisch ist: über Erinnerungen und die Deutung historischer Ereignisse zu streiten.
Revolution der Vielen
Wechselseitige Distanz und Misstrauen zwischen den Regierenden und den Regierten waren konstitutiv für die DDR-Gesellschaft. Der Staat entstand als Kriegsfolgengesellschaft, auf den Trümmern und im Schatten des "Dritten Reiches". Die Durchsetzung der Herrschaft war von den Folgen des Krieges geprägt. Die neuen SED-Machthaber*innen regierten eine Bevölkerung, die nicht wenige von ihnen im Nationalsozialismus noch als "Volksschädlinge" verfolgt hatte. Das System der militarisierten Herrschaftssicherung stalinistischer Prägung hatte einen entsprechenden und durch die Ereignisse des Arbeiteraufstandes von 1953 gefestigten Stellenwert. Der Grad der Militarisierung der DDR-Gesellschaft
An dieser Militarisierung entzündeten sich spätestens ab den 1970er Jahren erste Proteste. Es entstand zunächst die unabhängige Friedensbewegung als Vorläufer weiterer oppositioneller Bewegungen, die sich bis zum Ende der 1980er Jahre in vier Strömungen auffächerten:
Das Nebeneinander dieser Strömungen war spannungsreich, die Oppositionsbewegung selbst heterogen. Der Unmut in der Bevölkerung war gegen Ende der 1980er Jahre freilich größer als die schmale Mobilisierungsbasis der oppositionellen Gruppen und Szenen. Deren Anspruchshorizonte einer erneuerten reformierten DDR waren weit – die realen Erwartungen auf Veränderungen noch im Sommer 1989 aber eher bescheiden. Der Zeithorizont, in dem oppositionelle Aktivitäten geplant wurden, war groß und Ausdruck dafür, wie man die Stabilität des Systems damals einschätzte: als zementierte Herrschaft, der Verbesserungen mühsam und auf Jahre hin abzuringen sind. Basisdemokratie war eine beliebte wie diffuse Forderung innerhalb der Opposition, wobei oftmals unklar blieb, wie diese mit dem Parteiensystem einer repräsentativen Demokratie vereinbar sein könnte. Die Wiedervereinigung war weder Ziel der Bewegung noch realistisch überhaupt absehbar.
Die Massendemonstrationen ab dem Herbst 1989 entfalteten dann aber eine charismatische wie rasante Eigendynamik.
Streit der Oppositionellen
Der politische Transformationsprozess von 1989/90 lässt sich idealtypisch als Abfolge unterschiedlicher Modi politischer Beteiligung beschreiben. Der Umbruch nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Versammlungsdemokratie der Straßenproteste im Herbst 1989. Aus der Opposition, aber auch aus der elitenkritischen und misstrauisch-politikabstinenten "Halbdistanz"
Innerhalb des offiziellen gesamtdeutschen erinnerungskulturellen "Inventars" variiert der Stellenwert der genannten Phasen. Die Erinnerung an die Runden Tische ist gegenüber den charismatischen Ereignissen des Herbstes weitestgehend marginalisiert. Die Erinnerung an den Aufbau der parlamentarischen Demokratie mit der Wiedervereinigung ist retrospektiv überlagert von den wirtschaftlichen Schieflagen des Transformationsprozesses: Deindustrialisierung, Abwanderung, biografischer Entwertung. Auch erinnerungskulturell ist "1989" und die "Politik der Straße" aufgewertet. Das dominante, geschichtspolitisch opportune Narrativ war und ist zugespitzt dieses: "1989" war die Selbstbefreiung eines gefangenen Volkes.
Der Streit um das Erbe von "1989" begann früh – zunächst vor allem innerhalb der verschiedenen Fraktionen ehemaliger Bürgerrechtler*innen und Oppositioneller, die sich lange Zeit als die legitimen Erben wähnten oder einander diesen Status streitig machten. Besonders eindrücklich waren für solche Statuskonflikte die Debatten um die Kandidatur des einstigen Rostocker Pfarrers Joachim Gauck als Bundespräsident. Dessen Status als Bürgerrechtler wurde von alten Weggefährt*innen aus dem Neuen Forum entweder heftig bestritten, weil Gauck als Anhänger der Wiedervereinigung die Revolution verraten und beendet habe, oder wie von Heiko Lietz, ehemaliger Sprecher des Neuen Forums, an die Bedingung geknüpft, dass Gauck in seinem neuen Amt ein wesentliches, nicht realisiertes Projekt des Zentralen Runden Tisches angehen solle: die Verabschiedung einer Verfassung für das geeinte Deutschland. "So wie im Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR aus dem Jahr 1990, dem ‚Vermächtnis der DDR-Bürgerbewegung‘, müsse laut Lietz die neue Verfassung einklagbare wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte enthalten. Wenn Gauck diese Diskussion vorantreibe, würde er das Etikett ‚Bürgerrechtler‘ inhaltlich füllen, das ihm derzeit zu Unrecht angeheftet wurde."
Es lassen sich somit idealtypisch zwei geschichtspolitische Bezugnahmen auf die friedliche Revolution unterscheiden: Erinnerungskulturell dominant war lange Zeit ein konservatorischer Bezug auf "1989". Er ist das Ergebnis erinnerungskultureller Sedimentierung, die das politische Engagement in den oppositionellen Gruppen auf Widerstand und Protest gegen die SED-Diktatur reduziert. Aus dieser Perspektive hat sich die friedliche Revolution mit der Wiedervereinigung selbst erfüllt – Ende der Geschichte. Dagegen artikulierten Teile der ehemaligen Opposition aktualisierende Bezugnahmen auf "1989".
Missbrauch des Erbes?
Konkurrierende Deutungen des Erbes von "1989" blieben aber nicht nur auf die ehemalige Opposition beschränkt, sie fanden auf verschiedenen Ebenen statt: in den Feuilletons großer Zeitungen, in den Parlamenten, aber eben auch in Straßenprotesten. Die Prägekraft der Ereignisse manifestierte sich dabei auch in den vielfältigen und eigensinnigen Bezugnahmen unterschiedlicher neuerer Protestbewegungen auf die Massendemonstrationen des Herbstes 1989. So rekurrierten seitdem verschiedene Protestbewegungen auf die Form der Montagsdemonstrationen: "Montagsdemonstrationen" gegen die Hartz-IV-Reformen, "Montagsmahnwachen" im Kontext des russisch-ukrainischen Krieges und zuletzt auch die Demonstrationen von Pegida und den zahlreichen Ablegern dieser Bewegung. Die Montagsdemonstrationen gegen die Hartz-IV-Reformen entwickelten sich im Sommer 2004 spontan und daher vorerst ohne feste organisatorische Struktur. Sie gingen auf den Protest eines einzelnen Arbeitslosen in Magdeburg zurück, breiteten sich rasch aus und verfestigten sich. Der Gipfel der Proteste war schließlich der 30. August, als sich allein in Leipzig 30.000 Demonstrierende den Sozialprotesten anschlossen.
Neben der Protestform "Montagsdemonstrationen" lassen sich gerade in Leipzig weitere Arten der Bezugnahme auf den Herbst 1989 finden. Ein zentraler Akteur der Proteste 2004 war das Sozialforum Leipzig, das namentlich und von der Idee her an den Gedanken des "Forums" anknüpfte und das ehemalige Oppositionelle im Organisationsteam hatte. Im Unterschied zum 1989 gegründeten Neuen Forum ging es dem Sozialforum, wie der Name bereits ausdrückt, um das Sichtbarmachen sozialer Anliegen, wobei es in Leipzig mit der Initiierung und Anmeldung der Montagsdemonstrationen eine Schlüsselfunktion für die (überregionale) Organisation der Proteste einnahm. Die Forderung des Sozialforums, Parteien keine Stimme zu geben, knüpfte ebenso an die 1989er Proteste an. Die Organisationsform als Forum führte jedoch auch dazu, dass das Sozialforum eher im Hintergrund blieb und wenig als eigenständiger politischer Akteur in Erscheinung trat. Trotzdem brachten die symbolischen Bezugnahmen den Anti-Hartz-IV-Protesten den Vorwurf des Missbrauchs des Erbes von "1989" ein, was zu kontroversen Diskussionen führte.
Doch auch neben den öffentlich zur Schau getragenen symbolischen Anknüpfungspunkten an die Montagsdemonstrationen lassen sich Vergangenheitsbezüge bei den Protesten gegen die Hartz-IV-Reformen erkennen. Einerseits gab es bereits Anfang der 1990er Jahre Arbeits- und Sozialproteste, die sich gegen Betriebsschließungen und Massenentlassungen richteten und sich in wilden Streiks, Demonstrationen und weiteren Protestformen niederschlugen. Die Stärke der Proteste in Ostdeutschland wird zudem auf andere Erwartungshaltungen an den Staat zurückgeführt, die sich aus den Erfahrungen der Vergangenheit speisen, in der der Staat in der DDR ein besonderes Maß an "Fürsorge" gegenüber der Bevölkerung übernommen hat.
Auch die etwa zehn Jahre später im Oktober 2014 beginnenden Pegida-Demonstrationen bezogen sich explizit auf die Proteste des Revolutionsherbstes von 1989, und nicht zuletzt eigneten sich die Dresdner "Abendspaziergänger" "gegen die Islamisierung des Abendlandes" ebenfalls die Protestform der Montagsdemonstrationen symbolisch an. Teil dieser legitimatorischen Aneignung ist das Rufen der Parole "Wir sind das Volk", die im Kontext von Pegida teils aggressiv und kämpferisch vorgetragen wurde. Auch wenn die Ergebnisse von Befragungen bei den Pegida-Demonstrationen mit Vorsicht interpretiert werden müssen, was vor allem mit der Verweigerungshaltung, teils auch aggressiver Ablehnung der Forschenden durch die Demonstrationsteilnehmer*innen begründet ist, lässt sich aufgrund der (sich größtenteils deckenden) Ergebnisse der insgesamt fünf Studien ein gewisses Bild der Teilnehmenden erkennen:
Neben solchen Straßenprotesten, die sich mit unterschiedlichen Anliegen und Themen aus verschiedenen politischen Richtungen mithilfe symbolischer Bezugnahmen selbst in die Tradition der Proteste gegen das SED-Regime stellen, gibt es diskursive Versuche, Analogien zum Wendejahr herzustellen. Ein Beispiel hierfür ist die Erklärung "Wir haben es satt",
Wie die unterschiedlichen Bewegungen und der Aufruf zeigen, sind die Modi der Bezugnahmen vielfältig und erfolgen aus unterschiedlichen politischen Richtungen. Einerseits erfolgen sie auf Ebene der Straßenproteste – etwa weil sie als Montagsdemonstrationen stattfinden oder die Parole "Wir sind das Volk" skandiert wird, die in verändertem Demonstrationskontext ihre Bedeutung wandelt. Die symbolischen Bezüge orientieren sich besonders an den charismatischen Ereignissen der Massendemonstrationen, also an der Phase der Versammlungsdemokratie des Herbstes 1989. Andererseits werden Kontinuitäten teilweise über Persönlichkeiten der DDR-Opposition und die damit einhergehende Rolle im Protestgeschehen von 1989 erzeugt. So betonen die Autor*innen des Aufrufs "Wir haben es satt!" besonders die Wichtigkeit ihrer eigenen Erfahrungen.
Die geschichtspolitischen Bezugnahmen auf "1989" kreisten zunächst um die Frage nach der Aktualität der Reformanliegen der friedlichen Revolution und erinnerten an die weitreichenden Forderungen vieler oppositioneller Gruppen – ein Diskurs, der letztlich als Deutungskonkurrenz der Revolutionsveteranen marginalisiert blieb. Die symbolischen Bezugnahmen auf die Straßenproteste führten dazu, dass sich die Protestform der Montagsdemonstration in Ostdeutschland etablieren und bald schon von den Trägergruppen ehemaliger Oppositioneller lösen konnte. Damit einher gingen Neuinterpretationen des Erbes von "1989" und teilweise auch Parallelisierungen zwischen der gesellschaftlichen Situation damals und heute.
Diese Protestmobilisierungen hatten aber wenig Einfluss auf das dominante Revolutionsnarrativ, demzufolge sich das "gefangene Volk" selbst befreit hat. Es beherrscht nach wie vor die offizielle Erinnerungskultur. Das Spontane, Ungeplante der Revolution, ihr zunächst ungewisser Ausgang und ihre Vielstimmigkeit sind in eine glatte, hegemoniale Erzählung gegossen, die mit der Wiedervereinigung zu enden scheint.
Erneute Revolution
Wie schnell sich die Machtverhältnisse in solchen geschichtspolitischen Deutungskämpfen verschieben können, zeigt das Beispiel Ungarn.
Auch in Ostdeutschland lassen sich derzeit Tendenzen feststellen, die in eine ähnliche Richtung weisen könnten. Aktuell zeichnet sich ein Kampf um die geschichtspolitische Hegemonie ab – mit ungewissem Ausgang. Die Landtagswahlkämpfe der AfD in Sachsen, Thüringen und Brandenburg sind semantisch vom Widerstandsnarrativ von "1989" geprägt. Sie stehen unter dem Motto "Wende 2.0" beziehungsweise "Wende vollenden".
Dies ist mehr als bloß eine wahltaktische Instrumentalisierung. Im aktualisierten Widerstandsnarrativ verlängert sich jenes Misstrauen zwischen Regierten und Regierenden, das auch für die DDR prägend war; es bedient eine historisch tradierte Distanz und innere Abwehr gegenüber sogenannten herrschenden Eliten. Das Deutungsmuster hat in den vergangenen Jahren an Attraktivität und Resonanz gewonnen, weil es anschlussfähig für kollektivistische Homogenitätsbegehren ("das Volk") und fatalistische Weltsichten ist.
Ein Teil der Resonanz dürfte auch – so unsere These – darin gründen, dass es innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung konkurrierende Vorstellungen von Demokratie gibt, die auf die Erfahrungen in der DDR und auf die Ereignisse von 1989 bezogen sind. Die offizielle, erinnerungskulturelle Dominanz der Befreiungs- und Entmachtungserzählung und die politisch-historische Erinnerung an die Straßenproteste haben die "Politik der Straße" selbst charismatisch aufgeladen und die Erinnerung an die Demokratisierungsprozesse "1989" tendenziell vereinseitigt. Derlei Vereinahmungen blieben vonseiten ehemaliger Oppositioneller nicht unwidersprochen. Schon mit dem Aufkommen von Pegida gab es deutliche Abgrenzungen – ebenso, wie auch zuletzt, gegenüber dem Wahlkampf ostdeutscher AfD-Landesverbände. Allein die Resonanz öffentlicher Abgrenzungserklärungen dürfte bescheiden sein – auch das unterscheidet die heutige Gesellschaft von der DDR, wo ein in westdeutschen Medien veröffentlichter Appell von Oppositionellen ein machtvolles Instrument gewesen war.
Das Jubiläumsjahr 2019 hat damit eine besondere Brisanz bekommen: Es markiert auch die Renaissance einer "Demokratie der Straße",