Nach den pompösen Feierlichkeiten der SED-Führung zum 40. Jahrestag der Republik begann am 7. Oktober 1989 das 41. Jahr der DDR.
Alternative zum Beitritt?
Ab Frühjahr 1990 schien es nur zwei Szenarien für die Zukunft zu geben: Eine Vereinigung beider deutscher Staaten nach Art. 23 GG ("Beitrittsartikel") und eine Vereinigung nach Art. 146 GG (Ablösung des Grundgesetzes durch eine gesamtdeutsche Verfassung). Die zweite Option wurde bekanntlich ausgeschlagen. Sie wäre mit einer umfassenden Verfassungsdiskussion verbunden gewesen, in die die Erfahrungen der DDR-Bevölkerung hätten einfließen können. Weil die Diskussion ausblieb, sind vor allem die westdeutschen Bürgerinnen und Bürger ihrer Mitwirkungsmöglichkeiten verlustig gegangen. Der damalige DDR-Bildungsminister Hans Joachim Meyer (CDU) brachte es auf den Punkt: "Ich hätte es begrüßt, wenn damals im Westen mehr Leute die Chance gesehen hätten, diese vierzig Jahre alte Bundesrepublik bei der Gelegenheit auch ein wenig rundzuerneuern." Er ergänzte resigniert: "Sieger denken halt nicht über ihre Fehler nach."
Die nicht realisierte Alternative im 41. Jahr meint nicht etwa die Verewigung der deutschen Zweistaatlichkeit, sondern eine langsamere Entwicklung des Vereinigungsprozesses. Letzteres war ursprünglich auch vonseiten der Mitglieder der letzten DDR-Regierung erwartet worden.
Die Argumente gegen diese Alternative sind bekannt: Die DDR-Bürger selbst hätten das nicht geduldet. Sie wollten damals so schnell wie möglich in die reichere Gesellschaft kommen. Andernfalls hätte eine noch stärkere Auswanderungsbewegung gedroht. Als Beleg hierfür gilt zum Beispiel die auf Demonstrationen geäußerte Parole "Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr".
Man kann dieser Sichtweise Folgendes entgegenhalten: Politik ist durchaus in der Lage zu gestalten. Die berechtigten Erwartungen der Bevölkerung auf eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen hätten auch eine andere Antwort finden können. Diese hätte mehr auf die eigenen Anstrengungen gesetzt, zwar einige Zumutungen bedeutet, aber langfristig hätte sie durchaus Erfolg versprochen. Man kann das an dem Erfolg der polnischen oder tschechischen Wirtschaftstransformation ablesen. Es gab Teile der politischen Klasse der DDR im 41. Jahr, die eine weniger hektische Gangart der deutsch-deutschen Annäherung vorgezogen hätten. Hierzu gehörten etwa die besonders Aktiven der DDR-Zivilgesellschaft, die den Wandel in den späten 1980er Jahren vorangetrieben hatten, aber auch die Mitglieder der SED, die sich für eine Demokratisierung und Reform von Staat und Gesellschaft im Herbst und Winter 1989/90 engagiert hatten. Am Zentralen Runden Tisch hatten sich beide Gruppen ab Anfang Dezember 1989 organisiert. In der DDR-Volkskammer waren jene Politiker nach der Wahl im März 1990 in der Minderheit geblieben. Doch immerhin war die SPD der DDR als neue Partei (zunächst SDP), die sich für einen Beitritt nach Artikel 146 GG eingesetzt hatte, bis Ende August Teil der Koalitionsregierung unter Lothar de Maizière (CDU). Und auch in anderen Koalitionsparteien jener letzten DDR-Regierung gab es Politikerinnen und Politiker, die eine sich behutsamer erneuernde DDR bevorzugten.
Als weiteres Argument gegen den zeitintensiveren Vereinigungsprozess wird die internationale Konstellation genannt. So habe eine reaktionäre Wende in der Sowjetunion gedroht, wenn nicht schnell genug gehandelt worden wäre. Tatsächlich putschten im August 1991 in Moskau konservative Mitglieder der KPdSU gegen den sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow – unter anderem mit dem Argument, er sei gegenüber dem Westen zu nachgiebig in der deutschen Frage gewesen. Die politische Führung der Sowjetunion war nicht zuletzt durch die US-amerikanische Regierung und deren Wunsch, das vereinigte Deutschland in der NATO zu halten, unter Druck geraten. De facto verlangten die Amerikaner damit von der sowjetischen Seite, eine Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs zu akzeptieren. Dass Gorbatschow darauf einging, trug im eigenen Land zum Widerstand konservativer Kräfte gegen ihn bei.
Der erfolglose Ausgang des Putsches zeigt, wie schwach die konservativen Beharrungskräfte in der Sowjetunion waren. Sie hätten die Einheit Deutschlands auch bei deren langsamerer Entwicklung nicht verhindern können. Deshalb ist es rückblickend auch abwegig, zu behaupten, dass es nur ein kleines Zeitfenster für die Wiedervereinigung gegeben hätte und die Einheit entweder zeitnah oder gar nicht hätte stattfinden können.
Wendepunkte
Im 41. Jahr der DDR gab es drei entscheidende Ereignisse, die den weiteren Verlauf bestimmten: erstens der Besuch einer DDR-Regierungsdelegation unter dem Vorsitzenden des Ministerrates, Hans Modrow, in Bonn im Februar 1990, in der auch Vertreterinnen und Vertreter der DDR-Opposition mitgereist waren. Im Gedächtnis blieb die würdelose Behandlung jener DDR-Politiker durch Bundeskanzler Helmut Kohl. Ihre Bitte um einen Überbrückungskredit wurde abgeschmettert.
Das zweite Ereignis war das im selben Monat durch Kohl verkündete Angebot einer baldigen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Die Übernahme der Währung ohne wirtschaftlichen Anpassungsprozess ab Juli 1990 hatte weitreichende und widersprüchliche soziale Konsequenzen. Einerseits brachte sie den DDR-Bürgern rasch den Zugang zur ersehnten starken Währung, andererseits leitete sie den Niedergangsprozess der DDR-Wirtschaft ein und schadete so den langfristigen Interessen der Bevölkerung. Die Strategie der Bundesregierung bestand darin, die im März gewählte DDR-Regierung an der kurzen Leine zu führen. Die westdeutschen Beraterinnen und Berater spielten dabei eine wichtige Rolle. Sie sollten nicht zuletzt die nach der Eingliederung der DDR-Wirtschaft durch die Wirtschafts- und Währungsunion möglichen Auswirkungen auf die Bundesrepublik kontrollieren.
Drittes wichtiges Ereignis war der Bruch der DDR-Regierungskoalition Ende August 1990. DDR-Ministerpräsident de Maizière entließ den sozialdemokratisch nominierten parteilosen Landwirtschaftsminister Peter Pollack sowie den sozialdemokratischen Finanzminister Walter Romberg und provozierte damit den Ausstieg der SPD aus der Regierung. Dieser Bruch erfolgte nach Einschätzung damaliger Politiker auf Druck der bundesdeutschen CDU, die sich dadurch bessere Wahlchancen für die anstehende Bundestagswahl ausrechnete.
Die frühe Währungsunion vom 1. Juli reduzierte den Handlungsspielraum der DDR-Regierung erheblich. Die wichtigsten Entscheidungen wurden von nun an im Bonner Finanzministerium getroffen. Zumindest hätte bei einer alternativen Regelung – bei einem Vorrang der Sanierung von bestehenden Unternehmen vor der schnellen Privatisierung – der wirtschaftliche Umbau nicht so sehr als ein "Vermögenstransfer von Ost- nach Westdeutschland" ablaufen müssen.
Lernprozess abgebrochen
Der Sprung aus der "unrenovierten", autoritären DDR in die demokratische Ordnung der Bundesrepublik führte zu einem Freiheitsgewinn für die Ostdeutschen. Die hohe Geschwindigkeit dieses Prozesses entwickelte sich jedoch zu einem zentralen Problem. Dass die anfänglichen autonomen Lernprozesse auf dem Weg von der alten in eine neue DDR abgebrochen wurden, war ein echter Mangel. Demokratie steht für das bewusste Parteiergreifen für und damit auch gegen mögliche Zukunftsentwürfe. Vielfältige Informationen sind nötig, man muss lernen, zwischen sicheren Kenntnissen und wohlmeinenden Vermutungen zu unterscheiden, zwischen ernsthaften Angeboten und hohler Werbung. Demokratie zu lernen, benötigt Zeit. Diese fehlte gerade, als der Weg zur deutschen Vereinigung radikal verkürzt wurde.
Viermal wurde in diesem kurzen 41. Jahr der DDR gewählt: ein wirklicher Wahlmarathon, aber ohne ausreichende Vorbereitung. Zuerst wurden die Parlamentswahlen von Anfang Mai 1990 auf den 18. März vorgezogen. So schon wurde die Zeit, in der sich die Bürger mit den politischen Alternativen vertraut machen konnten, deutlich verkürzt. Die souveräne Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger der DDR wurde auch beeinträchtigt dadurch, dass die Parteien der Bundesrepublik auf den Wahlkampf zur DDR-Volkskammer am 18. März massiv Einfluss nahmen. So wurde die Bildung von Wahlallianzen durch CDU beziehungsweise CSU (zur Allianz für Deutschland aus CDU, DSU und DA) sowie FDP (Bund Freier Demokraten aus DFP, LDP und F.D.P.) vorangetrieben. Auf zentralen DDR-Wahlveranstaltungen traten westdeutsche Spitzenpolitiker, so Helmut Kohl, Willy Brandt und Hans-Dietrich Genscher auf. Der Zentrale Runde Tisch hatte sich am 5. Februar mehrheitlich gegen eine solche Wahlkampfhilfe ausgesprochen.
Demokratie ist mehr als nur die Chance, an freien Wahlen teilzunehmen. Sie wird erst dadurch lebendig, dass sich die Wählenden auf Grundlage solider Kenntnisse sachkundig zwischen Alternativen entscheiden können. Diese Möglichkeit aber war einer Mehrheit der Ostdeutschen aufgrund der Geschwindigkeit der Veränderungen nicht gegeben. Vielleicht hätten die Bürger der alten Bundesländer eine stärker sachpolitisch ausgerichtete Wahlentscheidung getroffen – sie waren aber erst gar nicht gefragt, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt worden.
Transformation und Selbstbestätigung
Warum wurden damals eigentlich die Verwerfungen, die mit den Umbrüchen von 1989/90 verbunden waren, von der Mehrheit übersehen? Meine These ist, dass dafür im Osten ein naiver ethnischer Nationalismus mitverantwortlich ist. Viele Ostdeutsche glaubten offenbar, ihre Zugehörigkeit qua Geburt zu einer mythischen Nation würde eine Art umfassende, familiäre Hilfe der Westdeutschen möglich machen. Jener naive ethnische Nationalismus ("Wir sind ein Volk!") hatte langfristige negative Folgen. Heute wird er in den ethnisch-nationalistischen Überzeugungen einer relevanten ostdeutschen Minderheit reaktiviert: Sie will "unvermischt" deutsch bleiben. Viele Ostdeutsche waren selbst in den Westen migriert, in fröhlicher Hoffnung auf den Schutz durch eine "Einheit der Nation". Allerdings hatte diese erste Migrationsbewegung die Ostdeutschen überfordert. Ab 2015 zeigte sich, dass man sich der Unsicherheit einer weiteren massenhaften Migrationsbewegung nicht aussetzen wollte.
Die Vorstellung, dass alles so werden sollte wie im Westen, war auch mit der Übernahme einer sozialen und wirtschaftlichen Ordnung verbunden, die gerade auf dem Weg hin zu einem anderen Typ Kapitalismus war, den man heute den "neoliberalen" beziehungsweise "marktliberalen" nennt. In der Industrie wurden Millionen Arbeitsplätze vernichtet. Auf dem Land verschwanden bis zu zwei Drittel aller Arbeitsmöglichkeiten.
Auf der anderen Seite, in den alten Bundesländern, wirkte sich die unkritische Selbstbestätigung des eigenen Modells ebenfalls negativ aus. Die einen, die schon länger eine größere internationale Rolle Deutschlands angestrebt hatten, wurden durch die Überwindung der deutschen Teilung und damit der Nachkriegsordnung in diesem Bemühen bestärkt. Die anderen, vor allem linke Intellektuelle, "waren von milder Melancholie angesichts des Ablebens der ‚Bonner Republik‘ erfüllt".
Vergleichsfolie Osteuropa
Das 41. Jahr ist für seine Bürger in beiden deutschen Staaten gegensätzlich gelaufen. Während die Deutschen im Osten sich völlig umstellen und sich in kurzer Zeit in eine über Jahrzehnte gewachsene Ordnung hineinfinden mussten, blieb für die Deutschen im Westen scheinbar alles beim Alten: "Im Westen hat sich nichts verändert, außer vielleicht den Postleitzahlen. Im Osten alles", so Thomas de Maizière.
Eine angemessene Vergleichsfolie für die Entwicklung, die die ehemaligen DDR-Bürger zu durchlaufen hatten, findet sich allerdings nicht im Westen Deutschlands, sondern in den anderen postsozialistischen Transformationsgesellschaften. Während die Transformation Ostdeutschlands als Sprung in die Institutionen des "ready-made-state" der alten Bundesrepublik zu bezeichnen wäre, als Transfer eines fertigen Institutionensystems nach Osten, war der Weg der anderen Staaten des ehemaligen sowjetischen Einflussbereiches eigenständiger und langwieriger.
Wenn man den ostdeutschen und den osteuropäischen Weg vom Staatssozialismus zum neoliberalen Kapitalismus vergleicht, so kann im Großen und Ganzen folgende Bilanz gezogen werden: Die wirtschaftlichen Auswirkungen in Form eines Einbruchs der Wirtschaftsentwicklung und eines radikalen Strukturwandels waren ähnlich drastisch, in Ostdeutschland auf Grundlage der größeren Konsequenz und Geschwindigkeit dabei aber deutlicher spürbar.
Kurzum: Eine ähnliche wirtschaftliche Rezession wurde nicht durch die damit in Osteuropa verbundenen unmittelbaren sozialen Härten begleitet. Damit befanden sich die Ostdeutschen im Verhältnis zu den anderen poststaatssozialistischen Gesellschaften eindeutig in einer komfortableren Lage. Allerdings fanden sie sich schon bald in der unangenehmen Situation eines abhängigen Klienten reicher Verwandter wieder. Oder genauer: Sie mussten lernen, dass diese von ihnen selbst als "Verwandtschaftsbeziehung" betrachteten Verhältnisse sie nicht vor unangenehmen Erfahrungen einer kapitalistischen Eigentumsordnung schützten. Aus einer Gesellschaft des bürokratisierten Staatseigentums kamen sie in eine knallharte Eigentümergesellschaft. Und heute laufen sie, wie der Publizist Wolfgang Engler und die Autorin Jana Hensel zu Recht feststellten, durch wundervoll renovierte Stadtzentren, schauen dabei aber einen Reichtum an, der nicht ihrer ist.
Die Erfahrungen, dass Betriebe zugunsten der westdeutschen Konkurrenz abgewickelt wurden, die entstehende große Gruppe der Langzeitarbeitslosen, der umfassende Elitenwechsel in vielen Bereichen zugunsten Westdeutscher, der Wegzug junger Menschen aus ihrer ostdeutschen Heimat in den Westen und Süden: All das führte in Ostdeutschland ungeachtet der positiven Wirkungen des bundesdeutschen Sozialstaates zu traumatischen Wendeerlebnissen. Insofern kam es in Osteuropa und Ostdeutschland im Ergebnis des Systemwechsels trotz unterschiedlicher Abläufe der Transformation zu einer ähnlichen Verunsicherung. Politische Apathie, ein anhaltendes Misstrauen in die Institutionen der repräsentativen Demokratie sowie der Aufstieg nationalpopulistischer Parteien waren die Folgen.
Schluss
Die Transformation vom Staatssozialismus zum neoliberalen Kapitalismus ist eine abgeschlossene Phase der Geschichte. Wichtig wäre es aber, diese Geschichte besser aufzuarbeiten. Der Vorschlag, der dazu im Buch der sächsischen Staatsministerin für Gleichstellung und Integration, Petra Köpping, gemacht wird, lautet: "Wir müssen über die damals erlittenen Kränkungen, Demütigungen und Ungerechtigkeiten reden – und die Meinungen und Argumente vieler Westdeutscher dabei ernst nehmen."
Dem möchte ich meine Überzeugung hinzufügen, dass viele Ostdeutsche auf die erforderliche Reform des politischen Gemeinwesens gut vorbereitet wären. Das scheint angesichts des Widerhalls rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien in Ostdeutschland eine kühne Behauptung zu sein. Nachvollziehbar wird dieses Urteil, wenn man in den Wahlergebnissen der AfD nicht allein verfestigte rassistische und antidemokratische Haltungen, sondern ebenso den Protest gegen die Vernachlässigung ostdeutscher Erfahrungen erkennt.
Zusammenfassend zwei Schlussfolgerungen aus der Analyse des 41. Jahres und seiner verpassten Gelegenheiten: Erstens ist eine nachhaltige Demokratie nicht reduzierbar auf die von Großparteien reibungslos gemanagten freien Wahlen. Sie entsteht und reproduziert sich nur als politische Praxis, die von immer mehr Menschen bewusst formuliert, ausgehandelt und aktiv verfochten wird.
Zweitens hängt die in Ostdeutschland entstandene Entfremdung vom politischen System nicht allein mit dem Diktatur-Erbe zusammen. Entscheidend ist auch die unzureichende öffentliche Anerkennung ostdeutscher Lebensleistungen nach 1990. Für eine solche Aufarbeitung der Defizite der Transformation nach 1989 fehlte es lange Zeit in der ostdeutschen Gesellschaft, in der fast überall westdeutsche Eliten dominieren, an kulturellen Dolmetschern.