Einleitung
Die demokratische Gesellschaft ist als eine Kommunikationsgemeinschaft gleichberechtigter und mündiger Menschen angelegt. Das spiegelt sich gleichermaßen in der Verfassung wie in den Institutionen unseres Staates wider. Der Ausgleich der Interessen soll als offener und fairer Streit erfolgen. Das notwendige Wissen und damit die Urteilskraft, um die Argumente in diesem Streit bewerten zu können, beziehen wir vor allem aus den Massenmedien. Sie haben die Aufgabe, eine öffentlich zugängliche Sprache für eine hochkomplexe Welt und die darin auftretenden Probleme und Konflikte zu finden. Zugleich dienen sie den politisch Herrschenden als Plattform ihrer Legitimation und damit zur Loyalitätsbeschaffung.
Öffentlichkeit ist das Prinzip der Demokratie. Darum sehen die Gesetze seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland eine Reihe von Privilegien für jeden vor, der sich publizistisch betätigt: Die Strafprozessordnung räumt den Journalisten das Sonderrecht ein, Auskünfte über Informanten zu verweigern (Zeugnisverweigerungsrecht) und schützt die Redaktionen im besonderen Maße vor Durchsuchungen durch Strafverfolgungsbehörden. Die Presse- und Mediengesetze der Länder gewähren das für die Redaktionsarbeit bedeutsame Auskunftsrecht der Medien gegenüber den Behörden. Damit sind die äußeren Bedingungen für die Pressefreiheit geschaffen. Doch schon die Aufzählung dieser Privilegien zeigt: Die realen Kommunikationsverhältnisse sind nicht so.
Bedrohungen für die Pressefreiheit
Der Einfluss der Massenmedien als quasi "vierte Gewalt" im Staat wird oft als unzulässige Macht der Medien interpretiert, die ihrer Aufgabe moralisch nicht gewachsen seien. Immer wieder greifen staatliche Stellen unberechtigt in die Freiheit der Presse ein. Und in scheinbar zunehmendem Maße missbrauchen tatsächlich viele Medien ihre Privilegien zugunsten eines rein ökonomischen Kalküls.
Die schärfer werdende Konkurrenz der Medien hat so vor allem in den vergangenen zwei Jahrzehnten den Journalismus in Misskredit gebracht: Die gefälschten Hitler-Tagebücher, die Affäre um den Tod von Uwe Barschel, das Gladbecker Geiseldrama, die Auswüchse des so genannten "Borderline-Journalismus" von Michael Born und Tom Kummer, die Berichterstattung über den Concorde-Absturz von Paris sowie über den angeblichen Mord in Sebnitz und die Terroranschläge vom 11. September 2001 - all das scheinen erschreckende Belege dafür zu sein, dass der Journalismus nur noch den schnellen Erfolg sucht und offenbar nicht in der Lage ist, der ihm übertragenen Verantwortung für die Kommunikation der Gesellschaft gerecht zu werden. Nicht zuletzt die Unterstellung, Medienaussagen übten eine große Wirkung auf ihr Publikum aus, veranlasst diejenigen zur Journalistenschelte, die von ihrem öffentlichen Image abhängig sind und die Medien vor allem zur Beschaffung von Massenloyalität benötigen. Der Journalismus wird heute gewissermaßen von zwei Seiten zugleich eingeengt: Einerseits wird ihm vorgeworfen, er ließe die notwendige Objektivität vermissen, durch eine eingeschränkte Themenwahl werde die Wirklichkeit verzerrt dargestellt. Andererseits versorgen nahezu alle Organisationen und Unternehmen mithilfe raffinierter Techniken und Instrumente den Journalismus mit ihrer einseitigen Sicht der Dinge. Öffentlichkeitsarbeit ist auf dem Weg zur fünften Gewalt. Denn in einer immer unübersichtlicher werdenden, global vernetzten Gesellschaft werden PR-Mitteilungen und -Inszenierungen zu einer wesentlichen Quelle des Journalismus.
Doch wie schützen sich diejenigen, die im Sinne der Allgemeinheit von ihren publizistischen Privilegien Gebrauch machen, vor den schwarzen Schafen in den eigenen Reihen? Die Antwort ist denkbar einfach und äußerst konsequent: Wer im Namen der Öffentlichkeit auftritt, muss seine Arbeit auch im Licht genau dieser Öffentlichkeit überprüfen und rechtfertigen können. Das ist die Idee der freiwilligen publizistischen Selbstkontrolle. In den Publizistischen Grundsätzen, dem Kodex des Deutschen Presserats und seiner kontinuierlichen Arbeit wurde dieser Gedanke verwirklicht. Gegenwärtig wird die publizistische Selbstkontrolle von einer Reihe weiterer, für unterschiedliche Medienbereiche zuständiger Organe (z.B. Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia (FSM), Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), Deutscher Werberat und Deutscher Rat für Public Relations) ausgeübt.
Geschichte der Selbstkontrolle
In Deutschland wurde der erste Schritt in Richtung einer publizistischen Selbstkontrolle bereits mit der Verabschiedung des Reichspressegesetzes von 1874 unternommen. Dessen Verfasser prägten erstmals den Begriff des "verantwortlichen Redakteurs" und gestanden der Presse damit eine selbst verwaltete und selbst kontrollierende Tätigkeit zu. Es folgten verschiedene Versuche, eine Art Standesgerichtsbarkeit für Journalisten zu initiieren. Der Reichsverband der Presse, die damalige journalistische Standesorganisation, entwickelte 1924 den ersten, bedeutsamen Vorschlag, Presseräte auf gesetzlicher Grundlage einzurichten, der allerdings am Widerstand der Verleger scheiterte. Bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hielt die Diskussion um eine Standesgerichtsbarkeit für die Presse an. Noch im April 1933 legte der Reichsverband der deutschen Presse den Entwurf eines Pressegesetzes vor, in dem die Journalisten ihre Selbstverwaltung festzuschreiben versuchten. Doch angesichts der bereits vollzogenen Machtübernahme durch die Nationalsozialisten taugte der Entwurf lediglich als Vorlage für das Schriftleitergesetz vom Oktober 1933. Darin ist zwar die journalistische Selbstkontrolle als Begriff noch enthalten, doch tatsächlich war sie der totalen Kontrolle des Staates unterworfen. Der Zugang zum Journalismus wurde von staatlicher Seite geregelt, die nationalsozialistische Gesinnung wurde zur journalistischen Pflicht und die Medien insgesamt wurden gleichgeschaltet und einer strengen Zensur unterworfen.
Nicht zuletzt deshalb ist der Beruf heute von nahezu jeder staatlichen Reglementierung frei. Und nach 1945 wurde mit der Neuorganisation der Presse in den Besatzungszonen auch die Idee der Selbstkontrolle in Form von Presseräten schnell wieder lebendig. In einzelnen Bundesländern schufen die Landespressegesetze ab 1948/49 eine neue rechtliche Basis: Verleger, Journalisten und regionale Verbände verfassten Ehrengerichtsordnungen zur Durchsetzung ihres Berufsethos. Mit dem Grundgesetz von 1949 wurde der Pressefreiheit dann endlich jener hohe Stellenwert eingeräumt, der ihr in einer demokratisch verfassten Gesellschaft angemessen ist. Und die Verbände der Verleger und Journalisten stellten erneut Überlegungen an, gemeinsam die Pressefreiheit gegen Angriffe von außen zu schützen und Missstände innerhalb der Presse aufzudecken. Am 20. November 1956 wurde schließlich in Bonn der Deutsche Presserat nach britischem und schwedischem Vorbild gegründet. Er besteht seitdem in seiner paritätischen Struktur je zur Hälfte aus Journalisten und Verlegern.
In den vergangenen 50 Jahren sind diese Aufgaben im Kern erhalten geblieben. Denn speziell nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur ist die äußere Pressefreiheit, die Freiheit des Journalismus gegenüber dem Staat, zwar institutionell gewährleistet. Doch der freie Zugang zu jeder publizistischen Tätigkeit als eines der wesentlichen Elemente der Pressefreiheit macht den Journalismus nicht nur unabhängig gegenüber dem Staat. Er schwächt ihn zugleich gegenüber den eingangs geschilderten Formen der Einflussnahme von innen und außen.
Selbstkontrolle als Lernprozess
Darum müssen die publizistisch Tätigen und Verantwortlichen eine klare Vorstellung von dem entwickeln, was guten Journalismus ausmacht und was ihn von einem Journalismus unterscheidet, der nur unter dem Kalkül des Erfolgs operiert. Im Pressekodex des Deutschen Presserats sind diese Vorstellungen beispielhaft formuliert. Wer sich freiwillig zu diesen Maximen bekennt, folgt den hohen moralischen Ansprüchen, die unsere Verfassung für die Medien schützt: - Die Ziffern und Richtlinien des Kodex verpflichten den Journalismus auf eine wahre und wahrhaftige Berichterstattung gegenüber der gesamten Öffentlichkeit (Ziffer 1), die beispielsweise exklusive Informationsmonopole einzelner Medien ausschließt. - Sie halten den Journalismus zur Transparenz an, indem er die Quellen und Hintergründe seiner Aussagen und Behauptungen sorgfältig durch Recherchen begründet, sie in der Darstellung nicht verfälscht und gegebenenfalls auch korrigiert (Ziffern 2 bis 5). - Eine sowohl in positivem als auch im negativen Sinne unangemessen sensationelle Berichterstattung verbietet der Kodex (Ziffern 11 und 14). - Ebenso untersagt er die Vermischung journalistischer und wirtschaftlicher Interessen, seien es die eigenen oder die des Verlags (Ziffern 7 und 15). - Er schützt die persönliche Ehre derjenigen, die zum Gegenstand der Berichterstattung werden, verbietet deren Vorverurteilung in juristischen Verfahren und bewahrt gesellschaftliche Gruppen und Minderheiten vor öffentlicher Diskriminierung (Ziffern 8 bis 13). - Nicht zuletzt werden alle in der Presse tätigen Personen verpflichtet, das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Presse zu wahren, indem sie ihre Informanten durch das Zeugnisverweigerungsrecht schützen sowie im Rahmen einer fairen Berichterstattung die öffentlich ausgesprochenen Rügen des Presserats abdrucken (Ziffern 6 und 16).
Das Kernanliegen dieser praktischen Ethik ist in der Präambel des Pressekodex formuliert: Das Ansehen der Presse zu wahren, bedeute zugleich, "für die Freiheit der Presse einzustehen". Darin steckt die Chance der freiwilligen Selbstkontrolle als einer höchst liberalen Form der demokratischen Kontrolle. Denn der Kodex erhebt die demokratische Norm einer im Wesentlichen durch freie Medien gestalteten, vom Staat unabhängigen Öffentlichkeit zum freiwilligen Prinzip für die ethische Kontrolle des eigenen Handelns: "Die im Grundgesetz der Bundesrepublik verbürgte Pressefreiheit schließt die Unabhängigkeit und Freiheit der Information, der Meinungsäußerung und der Kritik ein. Verleger, Herausgeber und Journalisten müssen sich bei ihrer Arbeit der Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit und ihrer Verpflichtung für das Ansehen der Presse bewusst sein. Sie nehmen ihre publizistische Aufgabe nach bestem Wissen und Gewissen, unbeeinflusst von persönlichen Interessen und sachfremden Beweggründen wahr." Und in den einzelnen Bestimmungen des Pressekodex selbst ist schließlich das Normen- und Wertesystem festgeschrieben, das die publizistischen Akteure für sich fixiert haben - angelegt als ein permanenter Lernprozess, der durch die so genannte Spruchpraxis immer wieder hinterfragt, aktualisiert und verbessert werden muss.
Kritik und ethischer Wildwuchs
Dass dieser Lernprozess ins Stocken geraten ist, wird von Außenstehenden deutlich kritisiert. So konstatiert man in der Branche: "Der Presserat gerät unter Beschuss" und stellt die Grundsatzfrage: "Wer ist für Ethik zuständig?"
Angesichts dieser Tendenz zum ethischen Wildwuchs wundert es nicht, dass ausgerechnet der Axel-Springer-Verlag schon vor drei Jahren eigene "journalistische Leitlinien" für die Redakteure seiner Blätter formuliert hat, die den Pressekodex für den verlagseigenen Journalismus "konkretisieren" sollen - und dabei beispielsweise den Trennungsgrundsatz für die eigenen Belange zurechtbiegen oder das im Pressekodex fatalerweise bereits verankerte Gebot zur Autorisierung von Interviews noch einmal verschärfen.
In diese normative Lücke stoßen inzwischen Institutionen vor, die ohne Mandat, aber marketingwirksam ethischen Ratschlag anbieten. So macht die Akademie für Publizistik (AfP) seit 2003 das Angebot, Fragen der journalistischen Ethik durch Mitglieder des so genannten "Ethikrats" elektronisch beantworten zu lassen.
Neben dem höchst erfolgreichen "Bild"-Blog, einem Internettagebuch von Journalisten, das tagesaktuell alle journalistischen Fehlleistungen der "Bild"-Berichterstattung problematisiert,
Perspektiven
Ein öffentliches Werben für die Ideen und Aufgaben des Presserats würde freilich eine Flut von Eingaben und Beschwerden nach sich ziehen, die wahrscheinlich binnen kurzer Zeit die Kapazitäten seiner Bonner Geschäftsstelle sprengen müssten - ein Kostenaufwand und zugleich ein Bedeutungszuwachs für den Presserat, den seine Trägerverbände scheuen. Hier drängt sich schließlich der Verdacht auf, dass die Verbände der Journalisten und Verleger, die den Deutschen Presserat aus der Taufe gehoben haben, heute an einer allzu großen gesellschaftlichen Relevanz ihres Selbstkontrollgremiums nicht interessiert sind. Denn die Reputation eines allzu starken Presserats würde wohl die Interessen der ihn tragenden Korporationen bald in den Schatten stellen.
Damit gewinnt er eine Leitbildfunktion auch über den Pressejournalismus hinaus, indem er die Regeln für gutes professionelles Handeln fest- und im Dialog mit den Betroffenen fortschreibt. Dazu gehört nicht zuletzt, dass der Presserat und seine Mitglieder nicht länger passiv und abwehrend gegenüber Dialogangeboten bleiben, sondern aktiv die Auseinandersetzung vorantreiben. Der Presserat sollte unabhängige Beobachter und Berater zu seinen Gremiensitzungen einladen; er muss neue Medientechnologien nutzen, um in Internetforen oder Weblogs Journalisten und alle Interessierten über seine Normen und seine Spruchpraxis diskutieren zu lassen; und er sollte sich dafür einsetzen, dass auf allen Ebenen der Bildung die Gedanken der Medienethik und ihrer (Selbst-)Kontrolle thematisiert werden.