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Hannah Arendt und Uwe Johnson | Hannah Arendt | bpb.de

Hannah Arendt Editorial Die Macht der Gemeinsamkeit - Essay Politik und Verantwortung Hannah Arendts Jüdische Schriften Der Totalitarismusbegriff im Wandel Hannah Arendt und Uwe Johnson Die Welt und die Revolution

Hannah Arendt und Uwe Johnson

Lothar Probst

/ 16 Minuten zu lesen

Respekt und gedankliche Übereinstimmungen waren die Basis von Arendts und Johnsons Freundschaft. Während Johnson die Schuld "der" Deutschen am Holocaust literarisch verarbeitet, differenziert Arendt zwischen Schuld und Verantwortung.

Einleitung

Dass die Begriffe Schuld und Verantwortung in Deutschland unauflösbar mit Nationalsozialismus und Holocaust verbunden sind, hat das späte Bekenntnis von Günter Grass zu seiner SS-Vergangenheit noch einmal auf eindrucksvolle Weise bestätigt. Gerade weil für Teile der literarischen Intelligenz der Nachkriegszeit die von Deutschen und im Namen der Deutschen begangenen Verbrechen zum prägenden Symbol einer Negativgeschichte der Nation wurden, rührt der Fall Grass noch einmal an der Schuldfrage, ihrer Verdrängung und ihrer Verleugnung.



Wie unterschiedlich man mit der Frage von Schuld und Verantwortung im Kontext politisch motivierter Verbrechen umgehen kann, soll im Folgenden am Beispiel von Hannah Arendt und Uwe Johnson gezeigt werden. Dazu gehe ich zunächst auf das Verhältnis zwischen Arendt und Johnson, die freundschaftlich miteinander verbunden waren, ein, bevor die unterschiedlichen Positionen der deutsch-jüdischen politischen Denkerin und des deutsch-deutschen Schriftstellers zur Frage von Schuld und Verantwortung charakterisiert werden.

Schon bei ihrer ersten Begegnung 1965 in New York entwickelte sich eine wenn auch zunächst vorsichtige und tastende Beziehung zwischen Arendt und Johnson, die langsam in eine Freundschaft hineinwuchs, insbesondere, als Johnson zwei Jahre lang in unmittelbarer Nachbarschaft von Arendt am Riverside Drive in New York wohnte und später ihre Gastfreundschaft in ihrer Wohnung in Anspruch nahm. Die private Korrespondenz wirft einerseits ein erhellendes Licht auf diese Freundschaft und offenbart andererseits doch etwas von dem Heideggerschen "Aneinander-Vorbeigehen". Distanz und Nähe bleiben in einem ausgewogenen Verhältnis und überschreiten zu keinem Zeitpunkt den Rahmen eines von wechselseitiger Achtung geprägten Verhältnisses. Einmal schreibt Arendt: "Ihr Brief - sehr entzückend, sehr charmant, aber dann doch, als ob einer mit geschlossenen Lippen spricht."

Johnsons Beziehung zu Arendt war nicht nur von tiefem Respekt und Verehrung geprägt, sondern er sah in ihr auch eine philosophische "Lehrerin". In seinem Nachruf auf Arendt räsoniert er über die Zeit, die er in ihrer Wohnung verbrachte: "Ich bekam Seminare in Philosophiegeschichte, zeitgenössischer Politik, Zeitgeschichte, je nach Wunsch." Die distanzierte Bewunderung lässt erkennen, dass Johnson sich darüber bewusst war, dass sein Verhältnis zu Arendt allenfalls das des begabten jüngeren Schriftstellers war, der sich ihres Interesses und ihrer Anteilnahme sicher sein durfte. Tatsächlich hat Arendt nicht mit Lob über Johnsons literarisches Werk, welches sie aufmerksam verfolgt hat, gespart. In einem Brief an Johnson schreibt sie über die "Jahrestage": "Ich bin nun der monatelang wohl erwogenen Meinung (...), dass dies wahrhaftig ein Meisterwerk ist. (...) Dies ist ein Dokument, und zwar ein gültiges für diese ganze Nach-Hitler-Zeit. Diese Vergangenheit haben Sie in der Tat haltbar gemacht, und was vielleicht viel unwahrscheinlicher ist, Sie haben sie überzeugend gemacht. Wie es da bei Euch war und ist, das weiß ich jetzt gleichsam bis in dieSpitze des kleinen Zehs. Die Langsamkeit und dies ständige Sich-Besinnen, das ich ja schon sehr an dem Jakob-Buch liebte, ist hier zu dem langen Atem - auch in der Satzbildung - geworden, dem nichts bloß charmierend Dialektisches mehr anhaftet, weil ihm hier das Sujet ganz entspricht. Nur so - von Urahne, Großmutter, Mutter und Kind - im Zusammenspiel der Generationen und in zwei Kontinenten kann man scheint's angemessen sprechen und denken."

Gedankliche Berührungspunkte

Es gibt eine Reihe von Hinweisen darauf, dass Arendt und Johnson nicht nur eine persönliche Sympathie füreinander entdeckten, sondern sich auch gedanklich berührten. Als sie sich kennen lernten, war Arendt inner- und außerhalb Deutschlands längst als außergewöhnliche Denkerin bekannt. Vor allem ihr Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" (1955) war auch in Deutschland auf breites Interesse gestoßen. Sie hatte durch zahlreiche öffentliche Auftritte, Beiträge in deutschen Zeitschriften, Zeitungen und im Fernsehen ihre Positionen im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik vertreten. Thomas Wild kommt in einer Bestandsaufnahme von Arendts Beziehung zur Literatur der Bundesrepublik sogar zu der Einschätzung, dass sie "eine Orientierungsfigur für potentiell alle Schriftsteller (und andere Akteure des literarisch-intellektuellen Feldes) [ist], die sich mit dem Selbstbild Deutschlands vor dem spezifischen Hintergrund von Nationalsozialismus und Holocaust auseinandersetzen."

In ihrer "Unabhängigkeit" des Denkens, welches sich nicht für Vereinnahmungen von Links und Rechts eignete, traf sich Arendt mit Johnson, dem die Zuordnung zu politischen Richtungen genauso fremd und abstoßend war. So fand Johnson eine Gesprächspartnerin, die seine persönlichen und literarisch verarbeiteten Erlebnisse mit der zweiten deutschen Diktatur in einer Weise politisch durchdacht hatte, die ihm neue Horizonte eröffnete. Weder Arendt noch Johnson hegten - im Unterschied zu vielen linken Intellektuellen jener Zeit - Illusionen über den Charakter realsozialistischer Herrschaft sowjetischer Prägung. Im Gegensatz zur häufig geäußerten Meinung, dass sein Hauptwerk "Jahrestage" vor allem als Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gelesen werden kann, bleibt daran zu erinnern, dass Johnson in diesem Roman auf kunstvolle Weise die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Stalinismus zu verknüpfen weiß. "Jahrestage" ist in seiner Grundtendenz einer der wenigen antitotalitären Romane, den die deutsche Literatur hervorgebracht hat.

Übereinstimmungen finden sich auch im Amerikabild Arendts und Johnsons. Beide entwickelten eine durchaus kritische, aber zugleich differenzierte Einstellung zu den USA. Dolf Sternberger charakterisierte Arendts Beziehung zu Amerika folgendermaßen: "Sie ist (...) trotz allen erregenden öffentlichen Erfahrungen (...) in den USA überhaupt im Grunde eine überzeugte 'politische' Amerikanerin, ein 'citizen' von ganzem Herzen geworden." Gerade weil Arendt sich im Unterschied zu anderen deutschen intellektuellen Emigranten nicht wie eine Außenstehende zu ihrer neuen politischen Heimat verhielt, sondern sich mehr und mehr als Mitglied der amerikanischen politischen Gemeinschaft verstand, war sie in der Lage, sich kreativ mit der amerikanischen politischen Tradition zu befassen, wie sie vor allem in ihrem Buch "Über die Revolution" (1963) demonstrierte. Gleichwohl verarbeitete sie ihre politischen Erfahrungen in den USA: den Vietnamkrieg, die Rassenauseinandersetzungen, die Studentenunruhen, die Auswüchse der Jobholder-Gesellschaft oder auch die Watergate-Affäre, die sie zu ihrem Buch über "Wahrheit und Lüge in der Politik" (1972) inspirierte. Sie verteidigte einerseits vorbehaltlos die republikanischen Traditionen der amerikanischen Demokratie und war andererseits skeptisch, soweit es die Zukunft der amerikanischen Gesellschaft betraf.

Auch Johnson entwickelte ein widerspruchsvolles und kritisches, aber in der Grundtendenz positives Bild. "Das Amerikabild in (...) 'Jahrestage'", so Anita Krätzer, "unterscheidet sich von anderen Amerika-Darstellungen in der neueren deutschen Literatur durch die reich facettierte, genaue und - bei aller Schärfe der politischen Kritik - liebevoll-zärtliche Art, mit der der Autor Ausschnitte amerikanischer Wirklichkeit sichtbar und lebendig werden lässt." Gleichzeitig wird der Leser über die sich durch den gesamten Roman hindurchziehende Lektüre der "New York Times" mit der politischen Wirklichkeit der USA konfrontiert. Die Hauptprotagonistin Gesine Cresspahl setzt sich intensiv mit den historischen und politischen Umständen ihrer neuen "Heimat" auseinander. Politisch bleibt sie in einer selbst gewählten Distanz und mag sich "nicht mit einem Land identifizieren, dessen schuldhaftes Vergehen gegen rassische Minoritäten, sozial Schwächere oder das vietnamesische Volk sie scharf kritisiert (...). Durch ihr Beharren auf dem Status des Gastes, der die Vorzüge seines Gastlandes genießen kann, ohne für dessen negative Eigenschaften verantwortlich zu sein, versucht Gesine, einen Zustand politischer Neutralität für sich herzustellen, um so ihre eigene moralische Integrität bewahren zu können." In ihrer Einstellung zu Amerika offenbart sich eines der grundlegenden moralischen Dilemmata der politischen Existenz des modernen Menschen: dem widersprüchlichen und nie vollkommen aufzulösenden Verhältnis zwischen privater Moral und öffentlichen Zwängen.

So wie Gesine Cresspahl auf der rastlosen Suche nach einer "moralischen Schweiz" ist, in die sie angesichts des überall währenden Unrechts in der Welt "emigrieren" könnte, verharrt auch Johnson trotz seiner Sympathien für Amerika auf der Suche "nach einer 'öffentlichen Heimat', (...) nach einem Staat und einer Gesellschaft, mit deren Struktur und deren Ordnungsprinzipien, mit deren 'öffentlicher Moral'" man sich im Einklang befinden könne. Diese Suche führt zu einem permanenten Ortswechsel, der "für Johnson und viele seiner Romanfiguren der einzig sich bietende Weg [ist], gegen politische Systeme, die ihnen keine Möglichkeiten mehr für individuelle Entfaltung geben, um ihrer moralischen Selbstbehauptung willen zu protestieren."

Schuld und Verantwortung

Trotz aller freundschaftlichen Bindungen und intellektuellen Berührungen spiegeln sich in der Begegnung der Jüdin Hannah Arendt und des durch und durch deutschen Dichters Uwe Johnson exemplarisch jene Probleme einer intersubjektiven Verständigung, die derZivilisationsbruch von Auschwitz im deutsch-jüdischen Verhältnis hinterlassen hatte - und das, obwohl Johnson "lieber als Jude auf die Welt gekommen wäre" und Hannah Arendt, trotz aller Distanz zum Nachkriegsdeutschland, im Grunde ihres Herzens immer "eine deutsche Denkerin und Schriftstellerin geblieben ist". Johnson war sich der aus dieser Konstellation ergebenden Probleme bewusst, wie sein Nachruf auf Arendt erahnen lässt: "Einmal hat sie mich ausdrücklich darauf hinweisen müssen [!] auf den Umstand, dass sie eine Jüdin ist: im Umgang mit ihr war es zu vergessen."

Mitte der 1960er Jahre schrieb Gershom Scholem: "Über Juden und Deutsche und ihr Verhältnis in diesen letzten 200 Jahren zu sprechen ist im Jahre 1966 ein melancholisches Unterfangen. Noch immer ist die Belastung des Gefühls so groß, daß eine der Sache selbst zugekehrte Betrachtung oder Analyse fast unmöglich scheint, und zu stark sind wir alle von dem Erleben dieser Generation geformt, als daß Unbefangenheit erwartet werden könnte. (...) Die Atmosphäre zwischen den Juden und den Deutschen kann nur bereinigt werden, wenn wir diesen Verhältnissen mit der rückhaltlosen Kritik auf den Grund zu gehen suchen, die hier unabdingbar ist. Und das ist schwierig. Für die Deutschen, weil der Massenmord an den Juden zum schwersten Alpdruck ihrer moralischen Existenz als Volk geworden ist; für die Juden, weil solch eine Klärung eine kritischen Distanz zu wichtigen Phänomenen ihrer eigenen Geschichte verlangt."

Johnson wusste um dieses Grunddilemma. In seiner Büchner-Preis-Rede von 1971 betonte er, "dass die Deutschen noch auf Dekaden hinaus in den Augen der anderen Völker gemessen werden auf ihre Distanz zum versuchten Genozid an den Juden". Für Johnson war diese Aussage nicht einfach nur intellektuelle Erkenntnis, sondern er quälte sich, wie nur wenige Deutsche nach 1945, mit der schier unauflöslichen Mitschuld aller Deutschen an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegenüber den europäischen Juden. Dass das Verhältnis von Juden und Deutschen vor dem Hintergrund des Holocaust für Johnson ein politisch-moralisches Schlüsselthema ist, lässt sich leicht an "Jahrestage" zeigen. Über drei Generationen hinweg wird das Thema Schuld, Scham und Verantwortung auf einer Vergangenheits- und Gegenwartsebene immer wieder neu akzentuiert. Dabei gilt für seine Figuren jene Ausweglosigkeit des "Bewältigens", die Dan Diner so beschrieben hat: "Angestrengte Mühe, die sich bestenfalls als aussichtsloser Entsorgungsversuch von Schuld erweist - all das gebiert eine Kultur, die von einem durch Auschwitz hervorgerufenen Schuldgefühl geprägt wird, das ständig nach Entlastung sucht. Doch der Versuch solch verstehbaren Entweichens bleibt vergebens; die Allgegenwärtigkeit des Ereignisses führt den Flüchtenden sisyphushaft immer wieder an die mit Auschwitz getränkte Erinnerung zurück."

Die schuldhafte Verstrickung beschränkt sich keinesfalls auf die unmittelbaren Täter, sondern Johnson zeigt "die Schuld der Menschen, die selbst keine Verbrechen begangen, aber durch Unterlassung und 'normales' Verhalten dazu beigetragen haben, dass die mörderische Maschinerie funktionieren konnte". Am radikalsten führt Johnson die Konsequenzen aus dieser Verstrickung am Beispiel von Lisbeth Cresspahl vor. Über verschiedene Stufen, die von der Leugnung über die Sprachlosigkeit bis zum aktiven Eingreifen in das vor ihren Augen geschehende Unrecht an den Juden reichen, mündet bei ihr das sich immer tiefer in das Über-Ich einfressende und selbstquälerische Schuldbewusstsein schließlich in einem autoaggressiven Akt, dem Selbstmord. Dieser, so Peter Bekes, "stellt die radikalste Form der Verweigerung gegenüber den für sie nicht mehr zu entwirrenden Schuldverstrickungen des einzelnen innerhalb der gesellschaftspolitischen Praxis dar".

Erst ihre Tochter Gesine ist zur Reflexion des Geschehenen fähig, aber auch sie kann der Vergangenheit nicht entrinnen. Der Holocaust bleibt für sie etwas, "das in keinem Aufwachen ganz verschwinden wird". Er ist gewissermaßen der im Unterbewussten ständig vorhandene assoziative Background von Gesines politischem Bewusstsein. Obwohl sie nicht zu den Tätern zählt, kann sie nicht vergessen und verdrängen, dass sie Teil des politischen Kollektivs ist, in dessen Namen das unfassbare Verbrechen geschehen ist. Als sie in der "New York Times" eine Nachricht über Elektroschockexperimente an der Universität Princeton liest, sagt sie zu sich: "Die Wirkung hat bis heute nicht aufgehört. Betroffen war die eigene Person: ich bin das Kind eines Vaters, der von der planmäßigen Ermordung der Juden gewusst hat. Betroffen war die eigene Gruppe: ich mag zwölf Jahre alt sein, ich gehöre zu einer nationalen Gruppe, die eine andere Gruppe abgeschlachtet hat in zu großer Zahl." Auch für Johnson, so darf man vermuten, sind aufgrund der Zugehörigkeit zum Tätervolk Schuldbewusstsein und Scham konstitutiv für die personale Identität. Seinen Figuren verbietet sich vor diesem Hintergrund eine vergangenheitslose Unbefangenheit im Umgang mit Juden.

Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Unbefangenheit sich Johnson und Arendt begegneten. Johnson, der - wie er beklagte - in einer "judenfreien Umgebung" aufgewachsen war, fand in Arendt eine "unersetzliche Lehrerin", die "ihn in den Kreis jüdischer Menschen einführte, ihm deren Erfahrungen und Lebensgewohnheiten vor Augen brachte, den Umgang mit ihnen lehrte". Johnson hebt diese Rolle Arendts in seinem Nachruf hervor: "Einmal durfte ich sie in einem überwiegend jüdischen Teil New Yorks spazieren führen, da erklärte sie mir an Passanten deren gesellschaftliche Stellung und Beschäftigung (mit Wohnorten) vor der Emigration aus Deutschland; zuversichtlich wäre ich bereit gewesen zu einer Stichprobe." Dass Arendt Johnson gegenüber eine solche Unbefangenheit an den Tag legen konnte und ihm rasch verzieh, dass er sie zur "Gräfin Seydlitz" gemacht hatte, hängt wohl damit zusammen, dass sie sowohl den Antisemitismus als auch den mit Auschwitz verbundenen Zivilisationsbruch nicht in erster Linie in den Kontext des deutsch-jüdischen Verhältnisses stellt, sondern aus den Grundbedingungen der Moderne herleitet. Der Niedergang des Nationalstaats nach dem Ersten Weltkrieg, der Verlust eines gemeinsamen Weltbezuges und von Sinnhaftigkeit in den Massengesellschaften des 20. Jahrhunderts sowie die daraus resultierende prekäre Natur des öffentlichen Raums sind für Arendt elementare Voraussetzungen für das Entstehen totalitärer Bewegungen, in denen sich ideologische Mobilisierung und Terror wechselseitig durchdringen. Der Terror ist das Wesen, die Ideologie das Instrument der totalen Herrschaft. "Totalitäre Herrschaft", so Arendt, "wird wahrhaft total in dem Augenblick (...), wenn sie das privat-gesellschaftliche Leben der ihr Unterworfenen in das eiserne Band des Terrors spannt. Dadurch zerstört sie einerseits alle nach Fortfall der politisch-öffentlichen Sphäre noch verbleibenden Beziehungen zwischen Menschen und erzwingt andererseits, daß die also völlig Isolierten und Verlassenen zu politischen Aktionen (wiewohl natürlich nicht zu echtem politischen Handeln) wieder eingesetzt werden können."

Ideologien beziehen nach Arendts Auffassung ihre Wirkung und Anziehungskraft auf den modernen Menschen durch dessen "Emanzipation" von Wirklichkeit und Erfahrung: "Je weniger die modernen Massen in dieser Welt noch zu Hause sein können, desto geneigter werden sie sich zeigen, sich in ein Narrenparadies oder eine Narrenhölle abkommandieren zu lassen, in der alles gekannt, erklärt und von übermenschlichen Gesetzen im vorhinein bestimmt ist." Wie sich leicht erkennen lässt, entbehrt Arendts Herangehensweise an das Wesen des Totalitarismus als einer vollkommen neuen menschlichen Erfahrung jeden Versuch, Nationalsozialismus und Antisemitismus in Deutschland aus einem "autoritären" deutschen Charakter oder einer besonderen kollektiven Neurose der Deutschen herzuleiten. Sie sieht im Antisemitismus vielmehr von "vorneherein ein gesamteuropäisches Ereignis" und stellt seine durchschlagende Wirkung in den Zusammenhang mit den politischen und kulturellen Krisenphänomenen der Moderne zu Anfang des 20. Jahrhunderts: "Was aber den Antisemitismus anbelangt, so ist offensichtlich, daß er politisch nur dann relevant und virulent werden kann, wenn er sich mit einem der wirklich entscheidenden politischen Probleme der Zeit verbinden kann."

Ihre Analyse des modernen Antisemitismus und des Totalitarismus macht es ihr möglich, an die Frage von Schuld und Verantwortung anders heranzugehen als etwa Karl Jaspers. Dieser unterscheidet in "Die Schuldfrage" die kriminelle, die politische, die moralische und die metaphysische Schuld. Unter Letzterer verstand er eine Schuld, die sich aus der "Solidarität zwischen Menschen als Menschen" ergibt, "welche einen jeden mitverantwortlich macht für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt, insbesondere für die Verbrechen, die in seiner Gegenwart oder mit seinem Wissen geschehen". Für Arendt dagegen geht es nicht in erster Linie um Schuld, sondern um politische Verantwortung. Schuld ist für sie keine politische Kategorie: "Es gibt so etwas wie Verantwortung für Dinge, die man nicht getan hat, man kann für sie zur Rechenschaft gezogen werden. Aber es gibt kein Schuldigsein oder sich Schuldigfühlen für Dinge, die passierten, ohne daß man selbst an ihnen beteiligt war." Denn nach 1945 diente "der Ausruf Wir sind alle schuldig`, der beim ersten Hören so äußerst nobel und verführerisch klang, in Wirklichkeit nur dazu (...), diejenigen in einem erheblichen Maße zu entlasten, die tatsächlich schuldig waren. Wo alle schuldig sind, ist es keiner. Schuld, anders als Verantwortung, sondert immer aus; sie ist ausschließlich persönlich."

Arendt zieht hier eine klare Trennungslinie zwischen kollektiver und individueller politischer Verantwortung auf der einen und moralischer Schuld auf der anderen Seite. Wie wenig der Schuldbegriff in ihrem Verständnis geeignet ist, mit den Verbrechen des Nationalsozialismus umzugehen, drückte sie in einem Brief an Jaspers aus: "Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr fassen; und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr; Göring zu hängen, ist zwar notwendig, aber völlig inadäquat. D. h., diese Schuld, im Gegensatz zu aller kriminellen Schuld, übersteigt und zerbricht alle Rechtsordnung. (...) Ebenso unmenschlich wie diese Schuld ist die Unschuld der Opfer. (...) Mit einer Schuld, die jenseits des Verbrechens steht, und einer Unschuld, die jenseits der Güte oder der Tugend liegt, kann man menschlich-politisch überhaupt nichts anfangen. (...) Denn die Deutschen sind dabei mit Tausenden oder Zehntausenden oder Hunderttausenden belastet, die innerhalb eines Rechtssystems adäquat nicht mehr zu bestrafen sind; und wir Juden sind mit Millionen Unschuldiger belastet, aufgrund deren sich heute jeder Jude gleichsam wie die personifizierte Unschuld vorkommt."

Für Johnson war ein quälendes Schuldbewusstsein nach dem Holocaust Teil seiner personalen Identität. Das unterscheidet ihn von denjenigen, die Scham- und Schuldgefühle nach dem Ende der Terrorherrschaft gar nicht erst haben aufkommen lassen. Arendt dagegen entwickelt eine politische Perspektive, in der nicht in erster Linie die Frage nach der moralischen Schuld, sondern nach der Bereitschaft zur Übernahme von politischer Verantwortung im Zentrum steht. Diese Perspektive ermöglicht es ihr, zwischen Bestrafung und Rache zu unterscheiden und christliche Kategorien wie Vergeben und Verzeihen in diesem Zusammenhang als politische zu denken.

Arendt lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass das Vergeben und Verzeihen dort seine Grenze findet, wo Täter wie Adolf Eichmann sich als Opfer einer grausamen Machtmaschinerie darstellen und weder willens noch bereit sind, politische Verantwortung für das Geschehene zu übernehmen. In anderen Fällen jedoch kann das Vergeben und Verzeihen die Logik von Rache und Vergeltung durchbrechen und politische Anfänge ermöglichen. Dass solche politischen Neuanfänge trotz belasteter Vergangenheit glücken können, dafür ist die inzwischen fast 60-jährige Erfolgsgeschichte der Demokratie in der Bundesrepublik durchaus ein Beispiel.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Beitrag geht zurück auf meine Veröffentlichung "Mutmaßungen über Hannah Arendt und Uwe Johnson", in: Heinz-Peter Preußer/Matthias Wilde (Hrsg.), Kulturphilosophen als Leser. Porträts literarischer Lektüren, Göttingen 2006.

    Obwohl Uwe Johnson bei seinem Besuch in den USA ganz im Schatten von Günter Grass stand, war schon die erste Begegnung von Arendt und Johnson im Mai 1965 im New Yorker Goethe-House von Neugier und Sympathie geprägt; vgl. Eberhard Fahlke/Thomas Wild (Hrsg.), Hannah Arendt - Uwe Johnson. Der Briefwechsel 1967 - 1975, Frankfurt/M. 2004, S. 303f.

  2. Vgl. ebd.

  3. Soweit es Hannah Arendt betrifft, kann man fast von einem fürsorglichen, ja mütterlichen Verhältnis zu Uwe Johnson sprechen - was sich nicht zuletzt durch den Altersunterschied von fast 30 Jahren erklären lässt. So bot sie ihm u.a. des Öfteren Geld an, um ihm Reisen zu ermöglichen - Angebote, die Johnson dankbar ablehnte.

  4. E. Fahlke/T. Wild (Anm. 1), S. 157.

  5. Ebd., S. 163.

  6. Ebd., S. 66f.

  7. Vgl. www.hannaharendt.net/research/Wild.html (10.6. 2005, S. 2).

  8. Dolf Sternberger, Die versunkene Stadt, in: Merkur, 341 (1976), S. 941.

  9. Anita Krätzer, Auf der amerikanischen Seite der Sprache. Komplexität und Perspektiven des Amerikabildes in Uwe Johnsons Romanwerk "Jahrestage", in: die horen, 4 (1984), S. 63.

  10. Ebd., S. 69.

  11. Oliver Voss, Die "moralische Schweiz" - und wie man ohne sie lebt. Ein Blick auf die Lebensentwürfe der Bewohner der Jerichow-Welt in Uwe Johnsons "Jahrestage", in: Internationales Uwe-Johnson-Forum: Beiträge zum Werkverständnis und Materialien zur Rezeptionsgeschichte, 7 (1998), S. 107.

  12. Peter Bekes, "Gefällt dir das Land nicht, such dir ein anderes". Zum Verhältnis von Moral und Politik in Johnsons "Jahrestage", in: Text+Kritik, 65/66 (1980), S. 64.

  13. Willi Winkler, Rezension von E. Fahlke/T. Wild (Anm. 1), in: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 17.7. 2004, S. 14.

  14. D. Sternberger (Anm. 8), S. 941.

  15. E. Fahlke/T. Wild (Anm. 1), S. 164.

  16. Gershom Scholem, Juden und Deutsche, in: Neue Rundschau, 77 (1966), S. 547f.

  17. Uwe Johnson in der Druckfassung seiner Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1971, zit. nach E. Fahlke/T. Wild (Anm. 1), S. 260.

  18. Dan Diner, Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz, in: ders. (Hrsg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt/M. 1987, S. 186.

  19. Michael Hofmann, Dr. med. vet. Arthur Semig. Ein Jude in Jerichow. Zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus in Uwe Johnsons "Jahrestage", in: Norbert Oellers (Hrsg.), Vom Umgang mit der Shoah in der deutschen Nachkriegsliteratur, Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie, 114 (1995), S. 66.

  20. P. Bekes (Anm. 12), S. 73.

  21. Uwe Johnson, Jahrestage, Frankfurt/M. 2000, S. 212.

  22. Vgl. Bernd Auerochs, "Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick". Zum Holocaust und zum Verhältnis zwischen Deutschen und Juden in Uwe Johnsons Jahrestage`, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie, 112 (1993). S. 608.

  23. U. Johnson (Anm. 21), S. 209f.

  24. E. Fahlke/T. Wild (Anm.1), S. 209.

  25. Ebd. S. 165.

  26. Ursprünglich hatte Johnson Arendt mit ihrem Klarnamen in die "Jahrestage" eingearbeitet. Arendt ließ ihn jedoch wissen: "Nur nicht Namen nennen. Dagegen bin ich allergisch." Johnson teilte ihr in einem langen, "gequälten" Brief mit, dass er sie nun durch "Gräfin Seydlitz" anonymisiert habe - ein erneuter Fauxpas, denn Arendt antwortete: "Aber, bitte schön, zur Gräfin machen Sie mich nicht! Bis Sie so etwas dürfen, müssen Sie noch viele reizende Briefe schreiben. Von allem andern abgesehen, scheint es Ihnen nicht aufgefallen zu sein, daß ich jüdisch bin. Aber so oder anders, auf die Idee, daß Sie mich ärgern` wollen, wäre ich nie verfallen." (vgl. E. Fahlke/T. Wild [Anm. 1], S. 32 und S. 39).

  27. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München-Zürich 1986(2), S. 727.

  28. Ebd., S. 723.

  29. Ebd., S. 77.

  30. Ebd., S. 67.

  31. Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg-Zürich 1946, S. 31.

  32. Das Zitat stammt aus einem Vortragsmanuskript von Hannah Arendt, das 1968 im Rahmen eines Symposiums der American Philosophical Association über "Collective Responsibility" entstand. Der Hannah Arendt Verein Bremen ließ 2000 eine Übersetzung des Textes anfertigen; vgl. www.hannah-arendt.de/verein/publikationenarendt1.html (6.9. 2005).

  33. Zit. nach D. Diner (Anm. 18), S. 187. Man kann diese Überlegungen auch als kritische Auseinandersetzung mit Jaspers' "Die Schuldfrage" (Anm. 31) verstehen. Arendt verfasste ihren Brief an Jaspers nach dessen 1946 erschienenen Text.

  34. Vgl. Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München-Zürich 1999(11), S. 307f.

Dr. phil., geb. 1952; Vorstands- und Jurymitglied des Vereins "Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken"; Geschäftsführer des Instituts für Interkulturelle und Internationale Studien, Institut für Politikwissenschaft der Universität Bremen, FB 8, Linzer Straße 4, 28359 Bremen.
E-Mail: E-Mail Link: lprobst@iniis.uni-bremen.de