Einleitung
Dass die Begriffe Schuld und Verantwortung in Deutschland unauflösbar mit Nationalsozialismus und Holocaust verbunden sind, hat das späte Bekenntnis von Günter Grass zu seiner SS-Vergangenheit noch einmal auf eindrucksvolle Weise bestätigt. Gerade weil für Teile der literarischen Intelligenz der Nachkriegszeit die von Deutschen und im Namen der Deutschen begangenen Verbrechen zum prägenden Symbol einer Negativgeschichte der Nation wurden, rührt der Fall Grass noch einmal an der Schuldfrage, ihrer Verdrängung und ihrer Verleugnung.
Wie unterschiedlich man mit der Frage von Schuld und Verantwortung im Kontext politisch motivierter Verbrechen umgehen kann, soll im Folgenden am Beispiel von Hannah Arendt und Uwe Johnson gezeigt werden. Dazu gehe ich zunächst auf das Verhältnis zwischen Arendt und Johnson, die freundschaftlich miteinander verbunden waren, ein, bevor die unterschiedlichen Positionen der deutsch-jüdischen politischen Denkerin und des deutsch-deutschen Schriftstellers zur Frage von Schuld und Verantwortung charakterisiert werden.
Schon bei ihrer ersten Begegnung 1965 in New York entwickelte sich eine wenn auch zunächst vorsichtige und tastende Beziehung zwischen Arendt und Johnson
Johnsons Beziehung zu Arendt war nicht nur von tiefem Respekt und Verehrung geprägt, sondern er sah in ihr auch eine philosophische "Lehrerin". In seinem Nachruf auf Arendt räsoniert er über die Zeit, die er in ihrer Wohnung verbrachte: "Ich bekam Seminare in Philosophiegeschichte, zeitgenössischer Politik, Zeitgeschichte, je nach Wunsch."
Gedankliche Berührungspunkte
Es gibt eine Reihe von Hinweisen darauf, dass Arendt und Johnson nicht nur eine persönliche Sympathie füreinander entdeckten, sondern sich auch gedanklich berührten. Als sie sich kennen lernten, war Arendt inner- und außerhalb Deutschlands längst als außergewöhnliche Denkerin bekannt. Vor allem ihr Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" (1955) war auch in Deutschland auf breites Interesse gestoßen. Sie hatte durch zahlreiche öffentliche Auftritte, Beiträge in deutschen Zeitschriften, Zeitungen und im Fernsehen ihre Positionen im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik vertreten. Thomas Wild kommt in einer Bestandsaufnahme von Arendts Beziehung zur Literatur der Bundesrepublik sogar zu der Einschätzung, dass sie "eine Orientierungsfigur für potentiell alle Schriftsteller (und andere Akteure des literarisch-intellektuellen Feldes) [ist], die sich mit dem Selbstbild Deutschlands vor dem spezifischen Hintergrund von Nationalsozialismus und Holocaust auseinandersetzen."
In ihrer "Unabhängigkeit" des Denkens, welches sich nicht für Vereinnahmungen von Links und Rechts eignete, traf sich Arendt mit Johnson, dem die Zuordnung zu politischen Richtungen genauso fremd und abstoßend war. So fand Johnson eine Gesprächspartnerin, die seine persönlichen und literarisch verarbeiteten Erlebnisse mit der zweiten deutschen Diktatur in einer Weise politisch durchdacht hatte, die ihm neue Horizonte eröffnete. Weder Arendt noch Johnson hegten - im Unterschied zu vielen linken Intellektuellen jener Zeit - Illusionen über den Charakter realsozialistischer Herrschaft sowjetischer Prägung. Im Gegensatz zur häufig geäußerten Meinung, dass sein Hauptwerk "Jahrestage" vor allem als Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gelesen werden kann, bleibt daran zu erinnern, dass Johnson in diesem Roman auf kunstvolle Weise die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Stalinismus zu verknüpfen weiß. "Jahrestage" ist in seiner Grundtendenz einer der wenigen antitotalitären Romane, den die deutsche Literatur hervorgebracht hat.
Übereinstimmungen finden sich auch im Amerikabild Arendts und Johnsons. Beide entwickelten eine durchaus kritische, aber zugleich differenzierte Einstellung zu den USA. Dolf Sternberger charakterisierte Arendts Beziehung zu Amerika folgendermaßen: "Sie ist (...) trotz allen erregenden öffentlichen Erfahrungen (...) in den USA überhaupt im Grunde eine überzeugte 'politische' Amerikanerin, ein 'citizen' von ganzem Herzen geworden."
Auch Johnson entwickelte ein widerspruchsvolles und kritisches, aber in der Grundtendenz positives Bild. "Das Amerikabild in (...) 'Jahrestage'", so Anita Krätzer, "unterscheidet sich von anderen Amerika-Darstellungen in der neueren deutschen Literatur durch die reich facettierte, genaue und - bei aller Schärfe der politischen Kritik - liebevoll-zärtliche Art, mit der der Autor Ausschnitte amerikanischer Wirklichkeit sichtbar und lebendig werden lässt."
So wie Gesine Cresspahl auf der rastlosen Suche nach einer "moralischen Schweiz" ist, in die sie angesichts des überall währenden Unrechts in der Welt "emigrieren" könnte, verharrt auch Johnson trotz seiner Sympathien für Amerika auf der Suche "nach einer 'öffentlichen Heimat', (...) nach einem Staat und einer Gesellschaft, mit deren Struktur und deren Ordnungsprinzipien, mit deren 'öffentlicher Moral'"
Schuld und Verantwortung
Trotz aller freundschaftlichen Bindungen und intellektuellen Berührungen spiegeln sich in der Begegnung der Jüdin Hannah Arendt und des durch und durch deutschen Dichters Uwe Johnson exemplarisch jene Probleme einer intersubjektiven Verständigung, die derZivilisationsbruch von Auschwitz im deutsch-jüdischen Verhältnis hinterlassen hatte - und das, obwohl Johnson "lieber als Jude auf die Welt gekommen wäre"
Mitte der 1960er Jahre schrieb Gershom Scholem: "Über Juden und Deutsche und ihr Verhältnis in diesen letzten 200 Jahren zu sprechen ist im Jahre 1966 ein melancholisches Unterfangen. Noch immer ist die Belastung des Gefühls so groß, daß eine der Sache selbst zugekehrte Betrachtung oder Analyse fast unmöglich scheint, und zu stark sind wir alle von dem Erleben dieser Generation geformt, als daß Unbefangenheit erwartet werden könnte. (...) Die Atmosphäre zwischen den Juden und den Deutschen kann nur bereinigt werden, wenn wir diesen Verhältnissen mit der rückhaltlosen Kritik auf den Grund zu gehen suchen, die hier unabdingbar ist. Und das ist schwierig. Für die Deutschen, weil der Massenmord an den Juden zum schwersten Alpdruck ihrer moralischen Existenz als Volk geworden ist; für die Juden, weil solch eine Klärung eine kritischen Distanz zu wichtigen Phänomenen ihrer eigenen Geschichte verlangt."
Johnson wusste um dieses Grunddilemma. In seiner Büchner-Preis-Rede von 1971 betonte er, "dass die Deutschen noch auf Dekaden hinaus in den Augen der anderen Völker gemessen werden auf ihre Distanz zum versuchten Genozid an den Juden".
Die schuldhafte Verstrickung beschränkt sich keinesfalls auf die unmittelbaren Täter, sondern Johnson zeigt "die Schuld der Menschen, die selbst keine Verbrechen begangen, aber durch Unterlassung und 'normales' Verhalten dazu beigetragen haben, dass die mörderische Maschinerie funktionieren konnte".
Erst ihre Tochter Gesine ist zur Reflexion des Geschehenen fähig, aber auch sie kann der Vergangenheit nicht entrinnen. Der Holocaust bleibt für sie etwas, "das in keinem Aufwachen ganz verschwinden wird".
Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Unbefangenheit sich Johnson und Arendt begegneten. Johnson, der - wie er beklagte - in einer "judenfreien Umgebung" aufgewachsen war, fand in Arendt eine "unersetzliche Lehrerin", die "ihn in den Kreis jüdischer Menschen einführte, ihm deren Erfahrungen und Lebensgewohnheiten vor Augen brachte, den Umgang mit ihnen lehrte".
Ideologien beziehen nach Arendts Auffassung ihre Wirkung und Anziehungskraft auf den modernen Menschen durch dessen "Emanzipation" von Wirklichkeit und Erfahrung: "Je weniger die modernen Massen in dieser Welt noch zu Hause sein können, desto geneigter werden sie sich zeigen, sich in ein Narrenparadies oder eine Narrenhölle abkommandieren zu lassen, in der alles gekannt, erklärt und von übermenschlichen Gesetzen im vorhinein bestimmt ist."
Ihre Analyse des modernen Antisemitismus und des Totalitarismus macht es ihr möglich, an die Frage von Schuld und Verantwortung anders heranzugehen als etwa Karl Jaspers. Dieser unterscheidet in "Die Schuldfrage" die kriminelle, die politische, die moralische und die metaphysische Schuld. Unter Letzterer verstand er eine Schuld, die sich aus der "Solidarität zwischen Menschen als Menschen" ergibt, "welche einen jeden mitverantwortlich macht für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt, insbesondere für die Verbrechen, die in seiner Gegenwart oder mit seinem Wissen geschehen".
Arendt zieht hier eine klare Trennungslinie zwischen kollektiver und individueller politischer Verantwortung auf der einen und moralischer Schuld auf der anderen Seite. Wie wenig der Schuldbegriff in ihrem Verständnis geeignet ist, mit den Verbrechen des Nationalsozialismus umzugehen, drückte sie in einem Brief an Jaspers aus: "Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr fassen; und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr; Göring zu hängen, ist zwar notwendig, aber völlig inadäquat. D. h., diese Schuld, im Gegensatz zu aller kriminellen Schuld, übersteigt und zerbricht alle Rechtsordnung. (...) Ebenso unmenschlich wie diese Schuld ist die Unschuld der Opfer. (...) Mit einer Schuld, die jenseits des Verbrechens steht, und einer Unschuld, die jenseits der Güte oder der Tugend liegt, kann man menschlich-politisch überhaupt nichts anfangen. (...) Denn die Deutschen sind dabei mit Tausenden oder Zehntausenden oder Hunderttausenden belastet, die innerhalb eines Rechtssystems adäquat nicht mehr zu bestrafen sind; und wir Juden sind mit Millionen Unschuldiger belastet, aufgrund deren sich heute jeder Jude gleichsam wie die personifizierte Unschuld vorkommt."
Für Johnson war ein quälendes Schuldbewusstsein nach dem Holocaust Teil seiner personalen Identität. Das unterscheidet ihn von denjenigen, die Scham- und Schuldgefühle nach dem Ende der Terrorherrschaft gar nicht erst haben aufkommen lassen. Arendt dagegen entwickelt eine politische Perspektive, in der nicht in erster Linie die Frage nach der moralischen Schuld, sondern nach der Bereitschaft zur Übernahme von politischer Verantwortung im Zentrum steht. Diese Perspektive ermöglicht es ihr, zwischen Bestrafung und Rache zu unterscheiden und christliche Kategorien wie Vergeben und Verzeihen in diesem Zusammenhang als politische zu denken.
Arendt lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass das Vergeben und Verzeihen dort seine Grenze findet, wo Täter wie Adolf Eichmann sich als Opfer einer grausamen Machtmaschinerie darstellen und weder willens noch bereit sind, politische Verantwortung für das Geschehene zu übernehmen. In anderen Fällen jedoch kann das Vergeben und Verzeihen die Logik von Rache und Vergeltung durchbrechen und politische Anfänge ermöglichen. Dass solche politischen Neuanfänge trotz belasteter Vergangenheit glücken können, dafür ist die inzwischen fast 60-jährige Erfolgsgeschichte der Demokratie in der Bundesrepublik durchaus ein Beispiel.