Einleitung
Das politische Denken Hannah Arendts ist so faszinierend wie unbequem. Mit der These von der Banalität des Bösen konfrontiert sie uns mit der skandalösen Diskrepanz zwischen der Gedankenlosigkeit eines Adolf Eichmann und der Monstrosität seiner Taten, mit dem beunruhigenden Phänomen, dass aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden können.
Nicht nur in ihrem Buch über den Totalitarismus befasste sich Arendt mit den Elementen und Ursprüngen dieser neuen Herrschaftsweise in der nichttotalitären Gesellschaft; auch in der posttotalitären Demokratie sah sie ernsthafte Gefahren durch Bürokratie und die Macht der Lüge in der Politik und provozierte die bürgerliche Selbstzufriedenheit. Aber auch wer Arendt wegen ihrer Kritik an der Parteiendemokratie und ihren Sympathien für Räte zur Anwältin der Zivilgesellschaft macht, tut sich schwer mit ihrer Neudefinition von Politik.
Es sind vor allem vier Bereiche, in denen Arendt einen entscheidenden Beitrag zum modernen politischen Denken leistet und zugleich über dieses hinausgeht: ihre Definition des politischen Handelns, das eine der grundlegenden Dimensionen der menschlichen Existenz ist und zugleich Offenheit und Risiko in sich birgt; die Ersetzung des modernen Subjektivismus und Individualismus durch einen Intersubjektivismus, der jeglichen Bezug zur Wirklichkeit auf aktive Pluralität gründet; die Bestimmung politischer Phänomene wie Macht, Gewalt und Freiheit ausgehend von Intersubjektivität und Pluralität; das Verständnis von einer freien politischen Gesellschaft als einem durch politisches Handeln ständig lebendig zu haltenden Ort der Zivilisation.
Zugleich folgt daraus, dass Arendt nicht umstandslos als Theoretikerin der Zivilgesellschaft oder eines neuen Republikanismus gelten kann, ihr Verständnis von politischem Handeln mehr ist als das gegenwärtig verbreitete Plädoyer für Good Governance, somit ihre Definition von Politik insbesondere den Blick für die Schwächen der Republik schärft und schließlich deshalb die Rolle verantwortlich Handelnder in den Vordergrund des Nachdenkens über Politik rückt.
Der politische Raum
Entgegen der abendländischen Tradition definierte Arendt Politik nicht als Herrschaft, sondern als Handeln. Seit Plato, so ihre Kritik, wurden Regierungssysteme als Herrschaftsformen verstanden, bei denen einer über alle, wenige über viele oder alle über sich selber herrschen. Die Bestimmung von Politik als Handeln hebt diese Trennungen auf und stellt die damit verbundenen Hierarchien oder Ausschlüsse sowie die implizite Gleichsetzung von Politik und Gewalt infrage. Nicht Individuen oder Gruppen herrschen, sondern Personen treten handelnd miteinander in Beziehung. Als quasi anthropologische Begründung für eine offene und horizontale Sichtweise von Politik dient Arendt die menschliche Pluralität. Diese verstand sie nicht als gleichermaßen negative Toleranz oder gar Gleichgültigkeit, sondern im Gegenteil als positive Zwischenmenschlichkeit, als einzige Möglichkeit des "In der Welt-Seins". In ihrem Buch "Vita Activa oder Vom tätigen Leben" mit den idealtypisch verstandenen Tätigkeiten Arbeiten, Herstellen und Handeln beschrieb sie diesen Weltbezug, der durch gemeinsames Sprechen und Handeln stattfindet und erst durch den intersubjektiven Bezug die Eigenarten der verschiedenen Subjekte hervortreten lässt.
Diesen Intersubjektivismus setzte Arendt nicht nur dem neuzeitlichen Subjektivismus und Individualismus entgegen, sondern sie kritisierte auch die tendenzielle Weltfremdheit des Subjektivismus. An Karl Jaspers schrieb sie, dass das Böse der jüngsten Ereignisse "irgendwie mit den folgenden Phänomenen zu tun (hat): Die Überflüssigmachung von Menschen als Menschen (...). Dies alles wiederum entspringt, oder besser hängt zusammen mit dem Wahn von einer Allmacht (...) des Menschen. (...) Nun habe ich den Verdacht, dass die Philosophie an dieser Bescherung nicht ganz unschuldig ist (...) in dem Sinne, dass die abendländische Philosophie nie einen reinen Begriff des Politischen gehabt hat und auch nicht haben konnte, weil sie notgedrungen von dem Menschen sprach und die Tatsache der Pluralität nebenbei behandelte."
Die Bedeutung dieses Intersubjektivismus bei Arendt ist bislang wenig zur Kenntnis genommen worden. Auch wenn sie ihr Vorhaben, eine Einführung in die politische Theorie zu schreiben, zugunsten anderer Bücher aufgab, zieht sich dieser Aspekt durch ihr Werk: von der Beschreibung des intersubjektiven Wirklichkeitsbezugs über den Föderalismus als politische Konstitution der Pluralität bis zum inneren Zwiegespräch als Voraussetzung des Urteilens und Gewissens. Immer beschreibt sie diese Möglichkeit, diese Position des "Zwischen", als grundlegend für die Orientierung im Denken und Handeln, von wo aus sie dann die schrittweise Reduzierung von Weltbezug und Orientierung erläutert: das individuelle instrumentelle bis gewaltsame Handeln, Nationalismus und Souveränität und die Trugschlüsse des Denkens und dessen politisches und moralisches Versagen.
Mit ihrer Kritik des traditionellen Politikverständnisses entwarf Arendt eine auf die Pluralität gegründete Sicht politischer Phänomene. Demnach existiert Freiheit nicht schon in der bloßen Möglichkeit, frei zu sein, und auch nicht in der viel beschworenen Willens- oder Gedankenfreiheit, sondern erst im Vorgang des Handelns. "Ursprünglich erfahre ich Freiheit und Unfreiheit im Verkehr mit anderen und nicht im Verkehr mit mir selbst. Frei sein können Menschen nur in Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen und des Handelns."
Souveränität, in der politischen Theorie lange der positive Inbegriff außenpolitischer Freiheit, ist aus Arendts Sicht undialogisch, weil sie die Unabhängigkeit über die Gemeinsamkeit mit anderen stellt. Nicht, weil Souveränität in einer Welt wachsender Interdependenzen hinderlich wird oder der Durchsetzung allgemeiner Menschenrechte im Wege steht, ist sie abzulehnen, sondern weil es der menschlichen Bedingtheit der Pluralität, den zwischenmenschlichen Beziehungen und der mit ihr verbundenen Weltlichkeit widerspricht.
Dies trifft ebenso auf alle vorpolitischen Phänomene wie Nationalismus oder moralische Werte zu, weil sie den Spielraum des Sprechens und Handelns von vornherein einschränken. Wenn der politische Raum und damit die Politik von allen vorpolitischen Bindungen befreit wird, bedarf er angesichts der Flüchtigkeit, aber auch potenziellen Grenzenlosigkeit des Handelns der Dauerhaftigkeit und Stabilität, er bedarf des Schutzes, politisch gesprochen der Verfassung. Sie ermöglicht und schützt diesen Raum gleichzeitig. Das aber impliziert auch, so Arendt, die Berechtigung des Dissenses und des zivilen Ungehorsams gegenüber einem Regierungshandeln, das die Verfassung bricht wie beispielsweise das der Regierung der USA während des Vietnamkrieges.
Politische Erfahrungen
Arendts Werk ist ohne ihre Flucht aus Deutschland 1933 und ihre Begegnung mit ihrem zweiten Mann, dem Kommunisten Heinrich Blücher, der 1936 aus der KPD ausgeschlossen wurde, nicht denkbar. Es ist die Begegnung einer Philosophin mit einem Politiker, die beide zeitlebens das Ungenügen einer traditionell politikfernen Philosophie und einer traditionell mit Gewalt behafteten Politik thematisierten. Arendts Buch über die totale Herrschaft ist stark von den Erfahrungen Blüchers geprägt und deshalb ihm gewidmet, und weitere Thesen wie die von der Banalität des Bösen sind in gemeinsamen Diskussionen entstanden. In der Begegnung beider trafen auch zweierlei Erfahrungen und politische Interessen zusammen: Arendts Erfahrung des Antisemitismus und ihre Suche nach einer Alternative, die ihr in einer föderativen Organisation der europäischen Völker, einschließlich des jüdischen, zu liegen schien, weshalb sie den Zionismus als jüdischen Nationalismus ablehnte und nach einer neuen politischen Organisationsform suchte, die sie schließlich in der Gründungstradition der USA fand; Blüchers Begeisterung für das revolutionäre Handeln, wobei er immer mehr die Erstarrung des Denkens und Handelns in der Kommunistischen Partei und ihrer Ideologie kritisierte, dabei aber umso mehr ihre Ursprünge, das spontane Handeln, bewahren wollte.
Was bei Arendt auffällt, ist ihr Standort der teilnehmenden Denkerin, der sich deutlich von der Position einer distanzierten Wissenschaftlerin unterscheidet. Kritiken, sie habe nicht "objektiv" geschrieben, wies sie zurück, denn "die Konzentrationslager sine ira zu beschreiben, bedeutet nicht, objektiv zu sein, sondern sie zu entschuldigen".
Dabei bedeutet Teilnahme nicht, dass Arendt in ihrem Interesse an der Welt zur Moralisierung geneigt hätte. Im Gegenteil, es ging ihr um das Verstehen der Ereignisse und damit in Montesquieu'scher Tradition um das Verstehen der Erfahrungen aller Beteiligten sowie um die Bestimmung der Handlungsmöglichkeiten. In einem Porträt Bertolt Brechts beschrieb sie die Erfahrungen der Heranwachsenden nach dem Ersten Weltkrieg, durch den die ehedem sichere Welt abrupt erschüttert wurde. Sie benennt drei solcher "verlorenen Generationen": diejenige Brechts, die die Welt in den Schützengräben kennen lernte, später im Frieden aber so tun sollte, als sei nichts geschehen; zehn Jahre später die Generation Arendts, die voller Skepsis in die Weimarer Republik hineinwuchs, und die dritte, wieder zehn Jahre später, "die sich gleichsam aussuchen konnte, ob sie ihre erste Welterfahrung in den Konzentrationslagern des Dritten Reichs oder im spanischen Bürgerkrieg oder an den Moskauer Prozessen machen wollte".
Dass viele der Angehörigen dieser Generationen keine modernen Demokraten wurden, sah ihnen Arendt nach, denn ihre Handlungsmöglichkeiten waren begrenzt. Sie veranschaulichte das am Beispiel eines Trotzkisten, der auf ihre Frage nach den Gründen für sein politisches Engagement zu Beginn der dreißiger Jahre antwortete, er habe sich weniger für allgemeine Ziele wie Gerechtigkeit und Freiheit eingesetzt als vielmehr für sich selbst. "(Er) erzählte (...) mir (...) die Geschichte eines Gewohnheitsspielers, der zufälligerweise spät in eine fremde Stadt kam und sich natürlich umgehend zum Spielort begab. Dort trat ein Einheimischer auf ihn zu und warnte ihn, dass das Roulette manipuliert sei, worauf der Fremde antwortete: Aber es gibt kein anderes Roulette in der Stadt. Die Moral der Geschichte aber war (...), dass man in jenen Tagen, wenn man unbedingt etwas tun wollte, nirgendwo anders hingehen konnte; man ging dort nicht wegen des Wohls der Gesellschaft generell hin, sondern wegen des eigenen."
In ihrem Seminaren über "Politische Erfahrungen im 20. Jahrhundert" stellte sie einen idealtypischen Menschen in den Mittelpunkt, der das 20. Jahrhundert durchlebte und auf den "die Ereignisse, so wie sie waren, niederregneten und der auf sie reagierte". Dieser idealtypische Mensch wurde 1890 geboren und war vermutlich ein Franzose. Er ging in den Ersten Weltkrieg und "wurde der Unbekannte Soldat", anschließend wollte er von links oder von rechts die Welt verändern, wurde Berufsrevolutionär und landete unter einer der totalitären Herrschaftsformen, die trotz der Konzentrationslager eine gewisse Anziehungskraft auf ihn ausübten. Im Unterschied zum Ersten Weltkrieg erschien ihm die Teilnahme am Zweiten auf Seiten der Alliierten oder des Widerstandes als sinnvoll, und er kam aus ihm hervor als Philosoph der Rebellion wie Albert Camus oder des Engagements wie Jean-Paul Sartre. Aus beiden Weltkriegen, so Arendt, sei die eine Welt hervorgegangen, in der die Unterscheidung in Innen- und Außenpolitik zunehmend unwirklich wird. In den entwickelten Ländern war eine Massengesellschaft mit naturwissenschaftlichen Entwicklungen wie die der Atombombe entstanden, mit der die Menschheit vernichtet werden kann. Die Seminare dienten Arendt als Einübung in Vorstellungskraft, als Voraussetzung für jegliches Urteilen, weshalb sie fast keine politologische Literatur, sondern literarische Zeugnisse, Erinnerungen und Essays benutzte.
Indem Arendt die begrenzten Handlungsmöglichkeiten der verlorenen Generationen und die verschüttete Tradition politischer Freiheit thematisierte, stellte sie die Frage nach den Bedingungen freien und menschenwürdigen Handelns und Denkens. Unter der totalen Herrschaft war politische Verantwortung nicht mehr möglich, denn "nur diejenigen, die sich völlig vom öffentlichen Leben zurückzogen und jede Art von politischer Verantwortung ablehnten, konnten es vermeiden, in politische Verbrechen verwickelt zu werden"
Macht und Gewalt
Was ist Macht? Für Arendt ist es in einem Jahrhundert der Gewalt mit zwei Weltkriegen, dem Holocaust, Kolonial- und Befreiungskriegen sowie einer gewalttätigen Studentenbewegung erstaunlich, dass "die Rolle, welche die Gewalt seit eh und je in den Beziehungen der Menschen zueinander gespielt hat, (...) so selten zum Gegenstand besonderer Untersuchungen gemacht wurde"
Welche Rolle Macht spielt, zeigt sich an Konflikten, die nicht durch das Potenzial an Gewalt, sondern durch Macht entschieden werden, durch Zugewinn oder Verlust an Zustimmung auf beiden Seiten. So zerstörte zwar der Einmarsch der UdSSR in der Tschechoslowakei 1968 den Prager Frühling, kostete aber das Sowjetregime Unterstützung und damit Macht. "Man kann Macht durch Gewalt ersetzen, und dies kann zum Siege führen, aber der Preis solcher Siege ist sehr hoch; denn hier zahlen nicht nur die Besiegten, der Sieger bezahlt mit dem Verlust der eigenen Macht." Auf die Politik der USA in Vietnam gemünzt fügte Arendt hinzu: "Dies gilt in besonderem Maße, wenn der Sieger sich zu Hause der Segnungen der konstitutionellen Regierungsform erfreut."
Wenn Mittel zum Zweck zum Selbstzweck werden, ist es nicht nur um die Macht geschehen, sondern auch um die Politik. Aber es muss erst gar nicht so weit kommen, um von einer Gefährdung der Politik zu sprechen. Denn bereits dann, wenn das Zweck-Mittel-Denken die Politik beherrscht, verliert sie an Macht. Dieses Denken entspringt der Verführungskraft, die eine auf die Verwirklichung bestimmter Ziele ausgerichtete Politik ausübt, Revolution, geopolitische Neuordnung, bewaffnete Intervention zur Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung, kurz: überall dort, wo für ein übergeordnetes Ziel die Gewalt Einzug in die Politik hält und sie deformiert. Aus dieser Art von Beziehung, die Arendt zwischen Macht und Gewalt aufzeigt, folgt, dass das Gegenteil von Gewalt nicht Gewaltlosigkeit, sondern Macht ist, also nicht eine Frage der Wahl der Mittel, sondern der Politik.
Politik und politisches Handeln, wie von Arendt beschrieben, unterscheiden sich von "automatischen Prozessen oder zur Gewohnheit gewordenen Verfahrensweisen", von einer "Welt, in der sich nichts ereignet"
Gefährdungen der Politik
Vor allem die Unterscheidung von Macht und Gewalt, aber auch die Frage des Wirklichkeitsbezugs schärfen den Blick für die Schwächen von Republiken heute. Dabei geht es nicht bloß um weak states, in denen jede geregelte politische Ordnung zugunsten der Gewaltherrschaft von Warlords verloren zu gehen droht, sondern um subtilere Formen in vermeintlich starken Staaten. Beispiele wie die USA unter der Regierung George W. Bush, Venezuela unter Hugo Chavez und Brasilien nach 20 Jahren Demokratisierung veranschaulichen diesen Zusammenhang. Die hegemoniale Außenpolitik der USA missachtet nicht nur internationale Abkommen und schadet dem Ansehen und damit der äußeren Macht der USA im Arendt'schen Sinn, sondern sie schwächt auch die republikanischen Institutionen. Arendts Auffassung, nach der ein Sieg um jeden Preis zum Verlust der Macht führt, wurde im Fall des Irak-Kriegs durch die Abwesenheit einer Opposition im Kongress, das lange Schweigen der Justiz zur rechtlichen Lage der Gefangenen in Guantánamo und den Abbau der bürgerlichen Rechte begleitet. Die dabei entstehende Übermacht der Exekutive führt nicht zu tatsächlicher Machtsteigerung, sondern zu ihrer Schwächung. "Fast möchte man behaupten", so Arendt während des Vietnamkriegs, "dass der Präsident, angeblich der mächtigste Mann des mächtigsten Landes, in den USA der einzige Mensch ist, dessen Handlungsspielraum von vornherein alternativ determiniert werden kann. Das ist natürlich nur möglich, weil sich die Exekutive von den legislativen Befugnissen des Kongresses emanzipiert hat. Die Manipulierbarkeit des Präsidenten ist die logische Folge seiner Isolierung in einem Regierungssystem, das nicht mehr funktioniert, wenn dem Senat die Macht genommen wird."
Auch in Venezuela fand eine bedenkliche Machtverschiebung zugunsten der Exekutive statt, hier im Gewand des Populismus und im Zusammenspiel mit direktdemokratischen Elementen. Mit der Verfassungsänderung von 1999 wurden Legislative und Judikative geschwächt, fielen die Ämter von Staatsoberhaupt und Regierungschef zusammen, wurde die zweite Kammer im Parlament, die Vertretung der 23 Bundesstaaten, aufgelöst und wurden grundlegende Gesetzesänderungen zur Landreform und Nationalisierung von Fischerei und Bodenschätzen mit einem Ermächtigungsgesetz unter Androhung der Auflösung des Parlaments durchgesetzt. Dass dabei die Bevölkerung gespalten wurde, nahm Chavez in Kauf.
Populistische Regierungen sind im Rahmen der so genannten dritten Welle der Demokratisierung seit den 1980er Jahren keine Seltenheit. Sie verkörpern den verbreiteten Wunsch nach starken Regierungen, um gravierende Probleme wie Armut, Korruption und Ungerechtigkeit zu überwinden. Die Verbindung einer mächtigen Exekutive mit "dem Volk" kennzeichnet "illiberale Demokratien"
Verantwortung und Virtuosität
Die Forschung richtete in den 1980er Jahren ihr Augenmerk auf den Übergang zur Demokratie, dann in den 1990er Jahren auf deren Institutionalisierung, das institution building, und wenig später auf die Fragen der guten Regierungsführung, der Good Governance. Inzwischen treten deutlich die Schwierigkeiten der Konsolidierung der Demokratie in den Vordergrund: Mängel bei der Wahl der Repräsentanten, die ungenügende Durchsetzung der Freiheits- und Bürgerrechte, nicht ausreichende Kontrolle des Regierungshandelns, rechtsfreie Räume - Probleme einer "defekten Demokratie"
Weder die Theorien der Zivilgesellschaft, die die Gesellschaft vom Staat abgrenzen, noch die der Good Governance, die von einer konsolidierten Demokratie und implizit von einem schwachen Handeln ausgehen, nehmen die Arendt'sche Perspektive des Handelns auf. Auch Theorien eines Republikanismus, die bürgerschaftliches Engagement mit einem Pathos des politischen Gemeinsinns und einem politischen Tugendkatalog verbinden, unterscheiden sich von dem Anliegen Arendts. Sie entwickelte kein Verständnis von Politik gegen den Staat und auch kein Modell einer Tugendrepublik. Da ihr Politikverständnis nicht auf moralischen Kriterien beruht und auch keine übergeordneten Ziele wie Demokratisierung oder Fortschritt verfolgt, sondern politisches Handeln als Selbstzweck und als Ausdruck von Pluralität und Weltlichkeit begreift, bleibt bei Arendt der politische Raum offen und den Wechselfällen des Handelns und seiner Möglichkeiten unterworfen.
Politische Verantwortung ist für Arendt keine moralische Kategorie und auch keine republikanische des vorrangigen Interesses am Gemeinwohl, sondern eine existenzielle. Auch wenn Arendt den politischen Raum mit der Weltlosigkeit konfrontiert, so stellt doch politisches Handeln keine moralische Verpflichtung, kein Opfer für die Entstehung und Bewahrung des politischen Raums dar. Es ist vielmehr vorrangig eine Tätigkeit, die der Spontaneität und Lust am Handeln entspringt. Verantwortung ist daher als existenzielle Antwort auf die Herausforderungen der Zeit zu verstehen, als das Interesse an Anderen, als eine Öffnung über die privaten Interessen hinaus auf gemeinsame Belange in einer gemeinsamen Welt, als ein Handeln, das bereit ist, Mühen durchzustehen, weil nur das gemeinsame, öffentliche Leben als lebenswert erscheint. Handelnde Menschen nahmen deshalb bei Arendt einen wichtigen Platz ein. "Die Tat ist immer auch ein Beispiel. Politisches Denken und Urteilen ist exemplarisch (Kant), weil Handeln exemplarisch ist. Verantwortung heißt im wesentlichen: wissen, dass man ein Beispiel setzt, dass Andere folgen werden; in dieser Weise ändert man die Welt."
Wenn wir zwei Fälle korrupter und gewalttätiger Verhältnisse vergleichen, Palermo und Rio de Janeiro, dann können wir nicht nur leicht den Unterschied in der Politik, sondern auch umso schärfer ihre Bedeutung erkennen. In Palermo herrschte die Politik des ehemaligen Bürgermeisters Leoluca Orlando, der mit einem hohen Maß an Mut die rechte Zeit mit den richtigen Mitteln zu nutzen wusste. Er brach das Monopol der Mafia bei den städtischen Versorgungsunternehmen und mobilisierte die Bevölkerung gegen die Mafia und für die Stadt. Der öffentliche Raum wurde geöffnet: durch entschiedene Politik und die Entstehung der Zivilgesellschaft. In Rio de Janeiro herrschen Banden der Drogenmafia in den Favelas, unterstützt von korrupten Polizisten, Politikern und Richtern. Dagegen arbeitet eine starke Zivilgesellschaft mit beeindruckenden Programmen in der Jugendbildung und zur Entwaffnung von Favelabewohnern und Fortbildung der Polizei. Doch die städtische Regierung schwankt zwischen gewaltsamen Maßnahmen zur Eindämmung der Gewalt und populistischen Versprechungen. Die Unterschiede sind deutlich: in Palermo die couragierte und geschickte Politik des Bürgermeisters, die ein hohes Maß an Virtuosität aufwies und die Durchsetzung der Gesetze mit einer kulturellen Dimension verband und damit die "Kultur des Rechts"
Die Rückkehr zu Politik und Virtuosität wirft die Frage nach der Zukunft von Politik auf, eine Frage, die Arendt mit Überlegungen zur Abkehr vom Parteiensystem und Hinwendung zu den Räten, heute den Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs), verband. Ihre provokativ erscheinende Meinung, "Nur wer an der Welt wirklich interessiert ist, sollte eine Stimme haben im Gang der Welt. Von der Politik ausgeschlossen zu sein brauchte keineswegs eine Schande zu bedeuten wie heute die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte"