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Die Macht der Gemeinsamkeit - Essay | Hannah Arendt | bpb.de

Hannah Arendt Editorial Die Macht der Gemeinsamkeit - Essay Politik und Verantwortung Hannah Arendts Jüdische Schriften Der Totalitarismusbegriff im Wandel Hannah Arendt und Uwe Johnson Die Welt und die Revolution

Die Macht der Gemeinsamkeit - Essay

Gesine Schwan

/ 13 Minuten zu lesen

Hannah Arendt war eine Vordenkerin für Global Governance. Unter Berufung auf Arendt können Wege für eine demokratische Politik im Zeitalter des Machtverlustes des Nationalstaats aufgezeigt werden.

Einleitung

Hannah Arendt war eine ungemein vielseitige politische Denkerin und Wissenschaftlerin. Berühmt wurde sie in Deutschland nicht durch ihre bei Edmund Husserl verfasste Dissertation, in der sie Augustinus' Verständnis der Liebe untersucht hat, sondern durch ihre Analyse totalitärer Herrschaft, die zu den wichtigsten Grundlagen der so genannten Totalitarismustheorie zählt. Diese hatte nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst einen Siegeszug durch die westliche Philosophie und Politikwissenschaft angetreten, geriet aber seit den siebziger Jahren zunehmend in die Kritik, weil es schwer fiel, mit ihr Veränderungsprozesse innerhalb totalitärer Regime und ihre Dynamik zu erklären oder zu deuten.



Immer wieder wurde Arendt unterstellt, Nationalsozialismus und Kommunismus gleichzusetzen, was vor allem Marxisten vehement ablehnten. Dabei wurde vielfach übersehen, dass Arendt zwar Übereinstimmungen zwischen Stalinismus und Nationalsozialismus hinsichtlich der Struktur der Herrschaftssysteme, nicht jedoch hinsichtlich deren ideologischer Begründung konstatierte, weil sie natürlich wusste, dass Marx ganz anders in der europäischen Ideengeschichte und den Gleichheitsidealen der Französischen Revolution wurzelte als der Nationalsozialismus. Die sensationelle These der Totalitarismustheorie lag ja gerade darin, dass sie strukturelle Übereinstimmungen zu Tage brachte und trotzdem den ideologischen Gegensatz betonte. Diese "Elemente totaler Herrschaft" sind in ihren soziologischen Analysen, z.B. hinsichtlich des Zusammenhangs von atomisierter Gesellschaft, von verlorenen Individuen und Totalitarismusanfälligkeit nach wie vor anregend. Auch Arendts Beziehung zu Martin Heidegger befruchtet die Forschung seit Jahrzehnten. Hannah Arendt hat das politische Denken des 20. Jahrhunderts wie keine andere Frau beflügelt.

In diesem Essay soll untersucht werden, ob die in Königsberg geborene deutsch-jüdische Philosophin eine Vordenkerin für das war, was wir heute Global Governance nennen. Sind in ihrem Werk Hinweise darauf zu finden, wie im Zeitalter des Machtverlustes des Nationalstaats politische Herrschaft neu begründet und legitimiert werden kann? Unter Berufung auf Arendt sollen Wege für eine demokratische Politik aufgezeigt werden, die es den Menschen weltweit im größtmöglichen Maße und in prinzipieller Gleichberechtigung aller ermöglicht, ihr Leben selbstbestimmt, mit politischer Teilhabe, in Sicherheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu führen.

Solche Politik kommt heute nicht mehr mit dem Nationalstaat und einer von ihm abgeleiteten Demokratie aus, weil die ökonomische Globalisierung und die in ihr wirkende kapitalistische Dynamik die Grenzen nationalstaatlicher Politik sprengen. Um die neue Governance, die an die Stelle der nationalstaatlichen Demokratien treten soll, konzeptionell und praktisch voranzubringen, brauchen wir ein tieferes Verständnis für die Art der Politik, die in einer solchen demokratischen Herrschaftspraxis ausgeübt werden soll und die nicht mehr als letzte Sanktion auf den Zwang des nationalstaatlichen Gewaltmonopols rechnen kann, mithin auf freiwillige Einsicht und Vereinbarung angewiesen ist. Für die Bestimmung einer solchen Politik bietet Arendts politische Philosophie eine wunderbare Inspiration. Im Mittelpunkt stehen Arendts Reflexionen über das Verhältnis von Wahrheit und Politik und - darin eingeschlossen - die Ideen von Wahrhaftigkeit, offener Rede, Vertrauen, Macht und demokratischem Zusammenleben, die auch heute für das politische Denken von grundlegender Bedeutung sind.

Grundlagen der Gerechtigkeit

Es ist bekannt, dass Arendts politisches Denken von der Vorstellung der antiken Polis inspiriert war. Politik ist für sie nicht Technokratie, nicht Verwaltung oder Bürokratie, sondern gemeinsames Sprechen, das Abgleichen von Interessen mit dem Ziel, gemeinsam handeln zu können. In ihrem grundlegenden philosophischen Werk "Vita Activa" benennt sie drei prinzipielle Formen der Tätigkeit: "Arbeit", "Herstellen" und "Handeln". Während "Arbeit" und das "Herstellen" von Produkten auch von Einzelnen praktiziert werden können, gehört das "Handeln" in die Gemeinschaft. Zum Handeln bedarf es anderer Menschen, deshalb ist es die im Kern politische Tätigkeit. Sie weiß natürlich, dass in der Moderne das Idyll einer räumlich begrenzten Agora, eines überschaubaren Marktplatzes unterhalb der Athener Akropolis, auf dem alle Bürger zusammenkommen und miteinander die öffentlichen Angelegenheiten besprechen, nicht mehr realitätstauglich ist. Wenn man Politik trotzdem als gemeinsames Handeln begreifen und bewahren will, kommt es auf Modernisierung und Enträumlichung des Verständnisses von Öffentlichkeit und öffentlicher Rede an.

Hier hat Arendt wichtige Gedanken von Immanuel Kant übernommen. Seine Überlegungen über den "Gemeinsinn", die er in seiner "Kritik der Urteilskraft" entwickelt hat, haben für ihre Philosophie großes Gewicht. Kants drei Maximen für die Urteilskraft - selbst denken, jederzeit mit sich einstimmig denken, jederzeit an der Stelle des anderen denken - sind Wegweiser dafür, aus der Pluralität der Erfahrungen und Meinungen heraus argumentativ zu einer gemeinsamen Orientierung zu gelangen, die das politische Handeln leiten kann. Wichtig ist für Arendt die Einbildungskraft, welche die Menschen befähigt, in nachdenkliche Distanz zu ihren spontanen Vorstellungen zu treten und sie kritisch unter dem Aspekt zu betrachten, wie sie sich aus der Sicht eines anderen, in den ich mich hineinversetze, ausmachen. Auf diese Weise kann ich aus meinem kognitiven oder emotionalen Egoismus heraustreten und mit den anderen einen gemeinsamen Boden zu gewinnen versuchen.

Diese Einbildungskraft hängt eng mit dem Kant'schen Prinzip der Publizität zusammen, das einen Weg zur Gerechtigkeit ebnet. "Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen", zitiert Arendt Kant aus seiner Schrift "Zum Ewigen Frieden". Denn durch die Veröffentlichung werden Ungerechtigkeiten und Privilegierungen offenbar. Das Böse dagegen, das Ungerechte, ist durch den Rückzug aus dem Bereich der Öffentlichkeit gekennzeichnet. Denn das Private, so Arendt an anderer Stelle, verweist dem Wortsinn nach - lateinisch: privare - auf den Zustand der Beraubung. Wenn ich auf der Privatheit meiner Maxime bestehe (im Gegensatz zu Kants Kategorischem Imperativ), dann beraube ich andere ihrer gleichen Rechte, dann schließe ich andere von einem Recht aus, das ich für mich selbst beanspruche. Mir scheint, dass dieser methodische Grundgedanke von Kant und Arendt für eine neue Politik innerhalb von Governance-Strukturen von herausragender Bedeutung ist. Wie häufig wird rhetorisch die Frage nach der Gerechtigkeit gestellt, um dann möglichst schnell zu behaupten, wie schwierig, ja unmöglich es unter der Bedingung der Globalisierung sei, sie zu bestimmen. Gerechtigkeit kann dann als vorgeblich illusorischer Maßstab aus dem Verkehr gezogen werden.

Wenn Politik im Umfeld vielfältiger, pluraler Vorstellungen, Interessen, Perspektiven geschieht, kann Übereinstimmung nicht erzwungen werden. Man kann nur an die Einsicht und an eine mögliche Gemeinsamkeit appellieren. Arendt geht hier zurück auf den von Aristoteles vorgebrachten Gedanken, dass für ein freiheitliches Zusammenleben die Freundschaft unter den Bürgern von hervorragender Bedeutung ist: Das Sprechen miteinander vereinigt die Bürger zu einer Polis. Durch das Gespräch erst entsteht die Welt als das uns Gemeinsame. Wichtig ist dafür, dass wir uns nicht in Vorurteilen verbarrikadieren, dass wir bereit sind und bleiben, die Welt miteinander zu teilen. Doch muss eine solche gemeinsame Welt nicht eine Illusion bleiben? Zum "Handeln" in Arendts Verständnis gehört, dass es mit anderen Menschen, zumindest mit einem anderen, zusammen geschieht. Handeln heißt dabei auch, Neues anzufangen. Denn etwas herstellen kann man als Wiederholung einer schon einmal ausgeübten Tätigkeit, für das Arbeiten gilt das gleiche. Wenn man sich aber mit anderen zusammentut, um zu handeln, dann geht dem angesichts der Vielfalt der Mit-Handelnden eine Entscheidung für etwas Gemeinsames, Neues und dadurch Unbestimmtes voraus. Arendt bringt dies mit unserer Natalität zusammen, mit der Tatsache, dass wir geboren werden. Mit uns tritt ein neuer Mensch in die Welt, der diesen Neubeginn auf sein Handeln zu übertragen vermag: "Handeln als Neuanfang entspricht der Geburt des Jemand, es realisiert in jedem Einzelnen die Tatsache des Geborenseins." Aber sind wir nicht z.B durch eine böse Vergangenheit unwiderruflich gebunden? Wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, wohl aber ihre Wirkung, indem wir verzeihen. Dies ist die zweite große Fähigkeit, die Arendt dem Menschen zuspricht: das Verzeihen.

Wird Handeln so in Bezug auf die scheinbar unauflösliche Bindung an die unwiderrufliche Vergangenheit, die durch Verzeihen doch gelöst werden kann, möglich, so auch hinsichtlich der Zukunft, und zwar durch das Versprechen. Da Zukunft unabsehbar ist, erscheint Handeln, das in einer pluralen Welt auf Gemeinsamkeit angewiesen ist, unmöglich. Denn woher sollte die Verlässlichkeit kommen, die wir für gemeinsames Handeln brauchen? Ohne die Fähigkeit, zu versprechen, blieben wir in der Tat in einem Meer von Ungewissheit, könnten wir auch keine eigene Identität erlangen, weil unsere Mitwelt uns auf unsere Versprechen festlegt und dadurch unsere Identität erst konstituiert. Dabei behauptet Arendt, dass man Versprechen wie Verzeihen nur gegenüber anderen üben kann, nicht gegenüber sich selbst: "Versprechen, die ich mir selbst gebe, und ein Verzeihen, das ich mir selbst gewähre, sind unverbindlich wie Gebärden vor dem Spiegel." Ob man ihr hier folgen muss, ist eine individuelle Gewissensentscheidung. Aber ohne für andere durch gehaltene Versprechen verlässlich zu sein, lässt sich gemeinsames demokratisches Handeln, lässt sich freiheitliche Politik nicht denken.

Wahrheit als Basis von Macht und Gemeinsamkeit

Haben wir in den Kategorien individuellen politischen Handelns gesehen, wie Handeln möglich ist, so bleibt die Frage nach der Konstituierung des gesellschaftliche Zusammenhalts, eine Frage, die uns in der Gegenwart auf den Nägeln brennt. In ihrem in deutscher Sprache veröffentlichten Essayband "Wahrheit und Lüge in der Politik", in dem zwei ursprünglich auf Englisch erschienene Aufsätze zusammengebunden sind, hat Arendt die beiden Seiten der Medaille schon im Titel zum Ausdruck gebracht. Worum es ihr mit dem Begriff Wahrheit geht, ist nicht Philosophie, nicht die der Interpretation offene Meinungswahrheit, sondern die "Tatsachenwahrheit". Denn die Bestreitung von "blanken" Tatsachen ist es, auf die Arendts These zielt, nach der wir für eine gemeinsame Welt und für einen gemeinsamen Boden in der Politik auf die Anerkennung von Tatsachen angewiesen sind.

Dabei weiß sie, wie schwierig es ist, eine Tatsache eindeutig zu bestimmen, weil Tatsachen als wirklich Geschehenes andere Möglichkeiten, die einer Situation inhärent gewesen sein mögen, definitiv aus der Welt schaffen. Politisch Handelnde möchten aber eine solche Definitivität nicht gern anerkennen, weil sie um ihrer eigenen Möglichkeit zu handeln willen die Perspektive nicht aus dem Blick verlieren wollen, dass es in einer vergangenen Situation auch hätte anders kommen können.

Dennoch: Die offenkundige Verdrehung, Verschweigung, Unterdrückung von "Tatsachen" - man denke etwa in einer Gerichtsverhandlung an eine Tatbestandsermittlung -, die insbesondere in totalitären oder diktatorischen Regimen zum Instrumentenkasten von Terror und Unterdrückung gehört, zerstört die Möglichkeit, einen gemeinsamen Boden der Wirklichkeit zu finden, und darauf kommt es Arendt an. Die Frage stellt sich auch für die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Interessen und ihren Vertretern in einer Demokratie. Wenn systematisch, durch die Vormacht bestimmter Interessen, Fakten, die ihnen entgegenstehen, in der Öffentlichkeit verschwiegen werden, dann bricht der für gemeinsames politisches Handeln notwendige gemeinsame Boden ein. Ohne Tatsacheninformationen gibt es, dies unterstreicht Arendt, keine Meinungsfreiheit, und vielfach ist die Anführung von Tatsachen - in Diktaturen sowieso, aber auch in Demokratien - gefährlicher als die Präsentation von Meinungen, von deren Bestreitbarkeit sowieso alle ausgehen. Wer aber Tatsachen für Meinungen ausgibt und so die Trennungslinie zwischen Tatsachen und Meinungen verwischt, praktiziert bereits eine Form der Lüge.

Die Lüge ist ein Kind der Freiheit. Nur weil wir frei sind, weil wir keiner Notwendigkeit der Wirklichkeitsanerkennung unterliegen, können wir lügen. Zugleich aber pervertiert die Lüge die Freiheit, weil sie den politischen Zusammenhalt, in dem Freiheit allein konstituiert werden kann, unterminiert. Als Robinson allein auf einer Insel brauche ich keine Freiheit, weil keiner mich hindert zu tun, was ich will. Allenfalls stößt sich mein Wille an der Realität, aber die kann auch politische Freiheit nicht überwinden. Im Gegenteil: Ihre Anerkennung als eine gemeinsame Welt, als eine, die wir teilen, nicht nur in ihren Ressourcen, sondern ganz grundlegend als einen uns gemeinsamen Boden, ist Voraussetzung aller demokratischen, freiheitlichen Politik. Die Lüge als Täuschung führt aber auf längere Sicht zur Selbsttäuschung, weil die Menschen in der Regel die Schizophrenie der Selbstwidersprüchlichkeit nicht aushalten. Selbstwidersprüchlich werde ich, wenn ich zugleich behaupte, Weiß sei Schwarz, und für mich doch aufrecht erhalte, dass Weiß Weiß ist. In Anknüpfung an Dostojewski weist Arendt darauf hin, "dass nur der kaltblütige Lügner sich noch des Unterschieds zwischen Wahrheit und Unwahrheit bewusst ist", und sie fügt die scheinbare Paradoxie hinzu, dass "der Wahrheit mit dem Lügner besser gedient ist als mit dem Verlogenen, der auf seine eigenen Lügen hereingefallen ist".

Die systematische Aufhebung des Unterschieds zwischen Wahrheit und Lüge führt das Individuum wie das Gemeinwesen ins Bodenlose. In der Diktatur verlangt die herrschaftliche Lüge von den Menschen, sie öffentlich als Wahrheit zu wiederholen und damit fälschlicherweise anzuerkennen. Das nimmt ihnen ihr Selbstwertgefühl. So werden sie eine leichtere Beute herrschaftlicher Manipulation, flüchten sich in eine Trennung zwischen öffentlicher und privater Welt und entwickeln eine grundsätzliche Haltung des Misstrauens gegenüber anderen, was für die politische Kultur der Demokratie ein schweres Handicap darstellt, weil diese auf Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit angewiesen ist.

In der Demokratie mit einer nicht zentral manipulierbaren Öffentlichkeit dagegen ist die Täuschung ohne Selbsttäuschung nahezu unmöglich. Propagandafiktionen werden zu schnell aufgedeckt. Und so lautet das Fazit: "Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, dass es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, dass die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird. (...) Konsequentes Lügen ist im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos und stürzt Menschen ins Bodenlose, ohne je imstande zu sein, einen anderen Boden, auf dem Menschen stehen könnten, zu errichten."

Eine entscheidende Voraussetzung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt liegt also im Bemühen um Wahrheit, jedenfalls um die Aufrechterhaltung der Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit - bei aller Notwendigkeit, die grundsätzliche Perspektivität unserer Erkenntnis und unserer Weltinterpretation und ihre Interessengeleitetheit anzuerkennen. Ohne diese grundsätzliche Unterscheidung verlieren wir den gemeinsamen Boden. Die Aufdeckung der Lüge, der ständige Einbezug von Tatsachen, die drohen, in der Öffentlichkeit u.a. aus Gründen der Übermacht entgegenstehender Interessen unterzugehen, sind ein Dienst am gesellschaftlichen Zusammenhalt, was allen Bürgern, aber insbesondere den Medien und der Politik eine große Verantwortung auferlegt. Dieser Gesichtspunkt verdient es gerade für die unübersichtlichere Politik unter Bedingungen der Globalisierung festgehalten zu werden. Er ist einer der Gründe, weshalb wir neben den traditionellen Institutionen der Demokratie mehr und mehr auf zivilgesellschaftliche Initiativen angewiesen sind, jedenfalls dann, wenn sie sich zu Anwälten von Interessen und politischen Aufgaben machen, die entweder durch ihre Kleinheit oder durch ihre Allgemeinheit - die paradoxe Alternative ist wichtig - für die politischen Entscheidungsträger unterzugehen drohen. Solche zivilgesellschaftlichen Initiativen werden immer wichtiger, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.

Von allen, denen die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge am Herzen liegt, hängt es ab, ob für demokratische Politik genügend Macht entwickelt und eingesetzt werden kann. Damit bin ich beim letzten gedanklichen Stützpfeiler von Hannah Arendts Philosophie angekommen, auf den es mir für die Erhellung demokratischer Politik ankommt. Gemeinhin verstehen wir unter Macht ein Potenzial, über das Menschen verfügen und mit dem sie anderen ihren Willen aufzwingen können. Arendt würde solche "Macht" als Gewalt bezeichnen. In Anknüpfung an ihre Überlegungen, dass die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge notwendig ist, um eine gemeinsame Wirklichkeit zu erhalten, unterstreicht sie zunächst, dass "Macht ihrem Wesen nach niemals imstande ist, einen Ersatz für die Sicherheit und Stabilität der tatsächlichen Wirklichkeit zu bieten". Sie ist eine Kraft, die entsteht, "wenn Menschen sich für ein bestimmtes Ziel zusammentun und organisieren, und verschwindet, wenn das Ziel erreicht oder verloren ist". Auf Macht ist kein Verlass, sie muss immer erneut aufgebracht werden. Kein materieller Reichtum, keine schlagkräftige Armee, auf die zurückgegriffen werden könnte, bezeichnet nach Arendt wirkliche Macht, die etwas Gemeinsames bewegen könnte. Natürlich kann man mit einer Armee etwas zerstören, aber aufbauen kann man nur, wenn Menschen zusammenkommen, wenn sie einander in Wahrheit begegnen, wenn sie Vertrauen zueinander entwickeln, weil sie ihre gegenseitigen Versprechen halten. Solche "Macht" ist "von der niemals ganz zuverlässigen und immer nur zeitweiligen Übereinkunft vieler Willensimpulse und Intentionen abhängig".

Umgekehrt hat eine Gesellschaft nur soviel Macht, wie sie im gemeinsamen Handeln praktizieren kann, und nur in dem Maße, in dem es ihr gelingt, ihren Zusammenhalt im gemeinsamen Handeln zu festigen. Eine gespaltene, eine zerrissene Gesellschaft, eine, in der Ungerechtigkeit und Lüge herrschen, ist eine ohnmächtige Gesellschaft. Auch eine Nation, die ihre Einheit auf Fiktionen, auf Vorurteile, auf Ressentiments gegen andere, mit denen sie die Welt nicht teilen will, aufbaut, ist eine letztlich ohnmächtige, dem Untergang ausgesetzte Nation. Es fällt nicht schwer, die historische Parallele zum nationalsozialistischen Deutschland zu entdecken. Aber man kann daraus auch ein heuristisches Prinzip entwickeln, wenn wir nach einer gelingenden demokratischen Politik in einer globalisierten Welt suchen.

Hannah Arendt hat Bedingungen formuliert, die wir bei der Suche nach neuen demokratischen Governance-Strukturen und -Akteuren beherzigen können, weil unsere globale Wirklichkeit uns den gedanklichen und den faktischen Ausweg, es mit Gewalt hinbekommen zu wollen, nicht mehr lässt. Wir sind angewiesen auf freiwillige Vereinbarung, auf eigene Einsicht, auf grundlegende Solidarität, auf das von Arendt so eindringlich geforderte gemeinsame Reden, auf die Fähigkeit zum Neuanfang dank unserer Natalität, auf das Verzeihen, das uns von der Verkettung an die Vergangenheit löst, darauf, unsere Versprechen zu halten. Das alles brauchen wir, um gemeinsam handeln und mit der daraus erwachsenden Macht unsere Welt zu unserem Gedeihen gestalten zu können. Dadurch gewinnen wir Vertrauen zueinander und in die Welt, dadurch schöpfen wir Hoffnung. Die in der deutschen Kultur mit Bach und Mozart aufgewachsene, von den Deutschen in der NS-Zeit verstoßene Jüdin Hannah Arendt sagt das so: "Daß man in der Welt Vertrauen haben kann und daß man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien 'die frohe Botschaft' verkünden: 'Uns ist ein Kind geboren'."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M. 1955.

  2. Vgl. dies., Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, hrsg. und mit einem Essay von Ronald Beiner, München-Zürich 1985, S. 90.

  3. Vgl. ebd., S. 68.

  4. Vgl. Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1960, S. 39.

  5. Vgl. dies., Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Gedanken zu Lessing, München 1960, S. 40f.

  6. Dies. (Anm. 4), S. 167.

  7. Vgl. ebd., S. 231.

  8. Ebd., S. 232.

  9. Vgl. dies, Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München 1972, S. 64f.

  10. Vgl. ebd., S. 58.

  11. Vgl. ebd., S. 48f., S. 61.

  12. Ebd., S. 80.

  13. Vgl. ebd., S. 82.

  14. Ebd., S. 83 f.

  15. Ebd., S. 85.

  16. Dies. (Anm. 4), S. 195.

  17. Ebd., S. 243.

Dr. phil., geb. 1943; Professorin, Präsidentin der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder. Europa-Universität Viadrina, Große Scharrnstraße 59, 15230 Frankfurt/Oder.
E-Mail: E-Mail Link: president@euv-frankfurt-o.de