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Die Aufarbeitung der Diktaturen in Tschechien und der Slowakei

Jan Pauer

/ 17 Minuten zu lesen

Das kommunistische Regime hinterließ in der Tschechischen und Slowakischen Republik trotz der gemeinsamen Staatlichkeit ein unterschiedliches Erbe, das zu verschiedenen Wegen in der Vergangenheitspolitik nach 1989 führte.

Einleitung

In der früheren Tschechoslowakei folgte dem Zusammenbruch des Kommunismus auch die Teilung des gemeinsamen Staates. Die Ablösung der Diktatur und der damit einhergehende Legitimitätswechsel machten den Umgang mit dem Erbe der kommunistischen Herrschaft zum herausragenden vergangenheitspolitischen Thema. Schon in der Phase der gemeinsamen Auseinandersetzung mit der kommunistischen Herrschaft und ihren Folgen in den Jahren 1989 bis 1992 traten landesspezifische Fokussierungen auf, die nationale Differenzen zwischen den Tschechen und Slowaken verstärkten.Das Phänomen des Kommunismus in der Tschechoslowakei wies eine Reihe von Besonderheiten auf, die ihn im mitteleuropäischen Kontext zu einer Ausnahmeerscheinung machten. Die herausragendste war seine relative Stärke. In der Zwischenkriegszeit wurde die Kommunistische Partei (KP) zu einem Teil des parlamentarischen Parteienspektrums und verfügte über ein Wählerpotenzial von ca. zehn Prozent und über erhebliche Sympathien unter einem Teil vor allem tschechischer Intellektueller. Das traumatische Erlebnis von München 1938 untergrub nachhaltig das Vertrauen in westliche Demokratien und die Grundorientierungen der ersten demokratischen Tschechoslowakei. Die Folgen der deutschen Besatzung, die Integration der Sowjetunion in die Anti-Hitler-Allianz und der Kriegsverlauf sowie der Umstand, dass die Rote Armee nach der militärischen Befreiung der Tschechoslowakei 1945 das Land wieder verlassen hatte, waren Faktoren, welche die im Krieg von der Exilregierung Edvard Benes eingeleitete Ostbindung der Tschechoslowakei gestärkt haben. Der Antifaschismus öffnete für die Kommunisten den Weg in die gesamtnationale Politik. Das Versprechen eines spezifischen parlamentarischen Weges zum Sozialismus vernebelte die Differenzen zu demokratischen Parteien. Die im gesamten Nachkriegseuropa aufkommenden antikapitalistischen Impulse begünstigten sozialistische und kommunistische Orientierungen in der Gesellschaft. Rund 80 Prozent der zugelassenen Parteien profilierten sich sozialistisch, und die KP wurde mit 38 Prozent in den Wahlen von 1946 zur stärksten Partei. Nach ihrer Machtergreifung im Jahr 1948 und der Einverleibung der sozialdemokratischen Partei hatte die KPC (Kommunistische Partei der Tschechoslowakei) rund 2,6 Millionen Mitglieder, das heißt fast 22 Prozent der Gesamtbevölkerung. Trotz späterer Säuberungen umfasste die KP kontinuierlich rund 1,5 Millionen Mitglieder, was einem Anteil von 10 bis 12 Prozent der Gesamtpopulation entspricht - doppelt so viel wie in Polen oder Ungarn. Aufgrund von Säuberungen und laufenden Parteiausschlüssen oder Austritten sind rund sieben Millionen Bürgerinnen und Bürgern zeitweilig Mitglieder der KP gewesen. Die Verstrickung der Gesellschaft mit dem Kommunismus war signifikant.

Ebenfalls beeindruckend war die Bilanz der Opfer nach vier Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft. In mehr als 200.000 politischen Urteilen wurden 248 Bürger zum Tode verurteilt und hingerichtet, 4.500 starben in den Gefängnissen und 327 kamen an den Grenzen zu Tode. Fast 7.000 Personen wurden aus der Slowakei in Arbeitslager in die Sowjetunion verschleppt. In Gefängnissen und Internierungs- und Zwangsarbeiterlagern wurden 250.000 Menschen eingesperrt, dreimal so hoch war die Zahl der beruflich und sozial Verfolgten. Rund 500.000 bis 750.000 Menschen wurden aus religiösen Gründen diskriminiert. Die Gesamtzahl der politisch Verfolgten betrug zwei Millionen, so dass mit den Familienangehörigen sechs bis acht Millionen Personen von den Folgen der kommunistischen Repression betroffen waren.

Die Besonderheit des tschechoslowakischen Kommunismus bestand in seinem Doppelcharakter: als politische Bewegung, die in der Landespolitik verankert war, und als ideologisches Herrschaftsinstrument sowjetischer Interessen im Land und damit als Träger eines terroristischen (fünfziger Jahre) und repressiven (siebziger und achtziger Jahre) Regimes. Zweimal, in der unmittelbaren Nachkriegszeit und 1968 während des "Prager Frühlings", wurde die KP besonders im tschechischen Landesteil zum politischen Hoffnungsträger, zweimal folgten Desillusionierung und eine breite politische Unterdrückungswelle durch dieselbe KP.

In der Slowakei war das Verantwortungsgefühl für die Etablierung der kommunistischen Diktatur schwächer ausgeprägt als im tschechischen Landesteil. Die Slowaken gaben in den letzten halbwegs freien Wahlen 1946 ein überzeugendes Votum für eine nichtkommunistische politische Repräsentation (62,5 Prozent) ab. Während im tschechischen Landesteil die Kommunisten mit 40 Prozent das wohl höchste je erreichte Wahlergebnis für eine kommunistische Partei in Europa in halbwegs demokratischen Wahlen erzielten, gelang es der slowakischen KP mit 30,6 Prozent nicht, die politische Hegemonie zu erlangen.

Der slowakische Kommunismus profilierte sich von Anfang an national. In ihrer Rhetorik überbot die slowakische KP in der Zwischenkriegszeit sogar die slowakischen Autonomisten. Im Rahmen des "nationalen Befreiungskampfes des slowakischen Volkes" wurde Mitte der zwanziger Jahre sogar die Parole "Raus mit den tschechischen Okkupanten aus der Slowakei!" herausgegeben. Die slowakischen Kommunisten waren 1947/48 zu schwach, um aus eigener Kraft die politische Macht in der Slowakei usurpieren zu können. Auf die Hilfe des Prager Machtzentrums angewiesen, wurden sie zu Vorkämpfern bei der Einführung eines rigiden Zentralismus, der alle politischen und nationalen Autonomieregungen drakonisch verfolgte. Im Zuge des stalinistischen Terrors wurden in den fünfziger Jahren auch einige herausragende Vertreter der slowakischen Nationalkommunisten - unter ihnen der spätere Parteichef Gustav Husák - verhaftet und 1954 in einem Schauprozess als slowakische "bürgerliche" Nationalisten zum Tode oder zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Der slowakische Nationalkommunismus hatte nun seine Märtyrer. In diesem Kontext entstand die weitverbreitete Legende, die das kommunistische Regime in der Slowakei als eine neue Spielart der nationalen Unterdrückung durch das Prager Zentrum betrachtete.

In den sechziger Jahren erwachte der slowakische Nationalkommunismus erneut. Die Forderung nach der Rehabilitierung prominenter slowakischer Kommunisten und nach einer gleichberechtigten Partizipation beider Nationen bildete eine wichtige Ursache für den Ausbruch des "Prager Frühlings" 1968. Die Föderalisierung des unitären Staates blieb die einzige Reform, welche die politische Restauration überlebte, wenngleich ihre Verwirklichung unter restaurativen Vorzeichen schließlich nur zur Symmetrie der bürokratischen Bevormundung beider Nationen geführt hatte. In historischer Perspektive der gemeinsamen Staatlichkeit ist es paradox, dass die staatsrechtliche Anerkennung der slowakischen Nation nicht unter demokratischen Verhältnissen der Ersten Republik oder in der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern erst unter dem kommunistischen Regime gelang. Das verlieh dem Regime unter Staatspräsident Gustav Husák ein Stück nationaler Legitimität.

Nicht nur der slowakische Kommunismus als Bewegung und Ideologie unterschied sich von seinem tschechischen Zwillingsbruder. Auch die konkreten Auswirkungen des kommunistischen Systems auf die Slowakei waren andere als im tschechischen Landesteil. Die Slowaken haben den größten Urbanisierungs- und Industrialisierungssprung in ihrer Geschichte unter dem kommunistischen Regime nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen. Trotz der Negativeffekte einer Modernisierung von oben nahm auch unter kommunistischen Bedingungen das kulturelle und professionelle Potenzial der Slowakei zu. Neue Generationen von Technikern, Wissenschaftlern, Künstlern etc. wuchsen heran und begründeten neue slowakische Traditionen. Entsprechend positiv wurde 1992 die Zeit des kommunistischen Regimes 1948 bis 1989 in der Slowakei als die beste Periode der nationalen Geschichte bewertet. Da die politische Repression nach 1968 in der Slowakei schwächer ausfiel als im tschechischen Landesteil, gab es dort vor 1989 bis auf die katholische Bewegung und einige ökologische Gruppen keine sichtbare aktive Opposition gegen das kommunistische Regime.

Slowakische Vergangenheitspolitik

Der plötzliche Zusammenbruch des Kommunismus traf die Slowaken relativ unvorbereitet. Das Land wäre 1989 eher reif für eine Perestrojka gewesen als für den plötzlichen Sturz des Kommunismus. Die kommunistischen Eliten gaben daher ihre Macht auch nicht auf, sondern beteiligten sich in reformierter Gestalt an der Ablösung des alten Systems. Der Modus des Regimewechsels schloss Polarisierungen zwischen einer demokratischen Opposition und offiziellen Strukturen aus, denn die spontan entstandene Bürgerbewegung nutzte zwar die Autorität der kleinen Schar von Dissidenten, aber sie rekrutierte sich mehrheitlich aus kritischen Zirkeln der offiziellen Strukturen. Der katholische Teil der Bürgerbewegung setzte zudem deutliche Signale der Vergebung und nationaler Versöhnung nach dem spanischen Muster: Mit der Bitte um eine Amnestie für ihre Verfolger von der Staatssicherheit (StB) oder ihrer ostentativen Teilnahme am Begräbnis Gustav Husáks haben die Dissidenten Frantisek Miklosko und Jan CarnogurskÝ klare Zeichen gesetzt. Die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit stand in der Slowakei nicht im Zentrum des politischen Diskurses. Über die Rehabilitierungen ehemaliger Opfer bestand noch in beiden Landesteilen Konsens. In der Frage der Restitutionen des früheren kirchlichen Eigentums ist die slowakische Politik viel großzügiger vorgegangen als die tschechische. Gegen das im föderalen Parlament 1991 verabschiedete Lustrationsgesetz, das den Wechsel politischer Eliten sichern sollte, regte sich von Anfang an Widerstand in der Slowakei. Der stärkste slowakische Politiker Vladimír Meciar verkündete noch vor den Wahlen 1992, dass das Gesetz in der Slowakei nicht angewandt werde. Diesen Beschluss rechtfertigte Meciar mit der geringen Größe des Landes und der Wandlungsfähigkeit der Menschen. Stolz bemerkte er, dass in der Slowakei die Menschen nicht nach ihrer Parteimitgliedschaft beurteilt würden. Zudem argumentierte er im Geiste der demokratischen Kritik an den Lustrationen. Es sei schlimmer, einen unschuldigen Menschen an den öffentlichen Pranger zu stellen, als zuzulassen, dass einige ehemalige StB-Mitarbeiter in Positionen gelangen, die ihnen nach dem Gesetz verwehrt bleiben sollten. Dabei zeichneten sich die Auswirkungen der stattfindenden "nationalen Revolution" ab, die in der Slowakei der "samtenen" folgte. Meciar, der zum nationalen slowakischen Führer und zum "Staatsgründer" avancierte, forderte, dass alle slowakischen StB-Akten in der Slowakei bleiben sollten. Im Zuge dieser Kampagne gegen den Prager Zentralismus brachen Mitarbeiter seines Ministeriums in ein Gebäude ein und entwendeten StB-Akten, die dem föderalen Innenministerium gehörten. Aus diesen Akten wurden gerade jene Seiten der Register herausgerissen, auf denen ein StB-Kandidat namens "Doctor" registriert war. Ein Vergleich mit der Zentraldatei in Prag ergab, dass sich hinter diesem Decknamen Valdimír Meciar verbarg. Über ihn existierte jedoch auch eine andere Akte, die ihn als "feindliche Person" charakterisierte.

Schlimmer als eine mögliche Verstrickung Meciars in den Fängen der StB war der Umstand, dass ihm diese Akten übergeben worden waren. Die verantwortlichen StB-Offiziere wurden daraufhin befördert, statt bestraft zu werden. Fortan lustrierte Meciar, der die Lustration nach außen generell ablehnte, mit Hilfe seiner "Findelakten" privat. Führende tschechische wie slowakische Politiker bezeugten, dass Meciar bei verschiedenen Anlässen Angaben über StB-Mitarbeiter unter Politikern, Journalisten und kirchlichen Amtsträgern machte und unbequeme Leute aus dem Weg räumte. Auf Fragen antwortete er stets, dass diese Akten anonym auf seinen Schreibtisch gelangt seien. Diese Privatisierung illegal entwendeter Akten durch den Innenminister prägte die gesamte "Rechtskultur" der Meciar-Ära. Später wurden die StB-Akten dem neu geschaffenen Slowakischen Sicherheitsdienst SIS übergeben, der sie in seine operative Agenda integrierte.

Das Lustrationsgesetz, das bis 1996 galt, wurde in der Slowakei nie in die Praxis umgesetzt, aber auch nicht formell aufgehoben. Staatliche Institutionen verzichteten rechtswidrig bei führenden Postenbesetzungen auf Lustrationsbescheide. So waren zehn Jahre nach dem Sturz des Kommunismus drei von vier höchsten Posten im Staat von ehemaligen hohen Parteifunktionären besetzt: der Präsident Rudolf Schuster war Mitglied des Zentralkomitees der KSS (Kommunistische Partei der Slowakei) und wurde im November 1989 sogar zum Parteisekretär gewählt. Der Parlamentsvorsitzende Jozef Migas war Abteilungsleiter des ZK der KSS, und der ehemalige kommunistische Justizminister Milan Cic wurde Vorsitzender des slowakischen Verfassungsgerichts und einer der Verfassungsväter der Slowakischen Republik. Auch Ministerposten und Schlüsselpositionen in den parlamentarischen Ausschüssen waren durchaus von früheren ZK-Mitgliedern besetzt. Alle bisherigen Staatspräsidenten und zwei Drittel der Abgeordneten in der Regierungszeit Meciars waren ehemalige KP-Mitglieder. Eine Mitarbeit beim StB stellte kein Hindernis beim Aufbau einer neuen Karriere dar. Nicht einmal zu den neugeschaffenen Sicherheitsdiensten, die mit geheimen Materialien operieren, wurde ehemaligen StB-Mitarbeitern der Zugang verwehrt. Richter, die in den achtziger Jahren slowakische Bürger wegen der Verbreitung von Samizdat oder der Vereitelung der staatlichen Kirchenaufsicht für mehrere Jahre hinter Gitter gebracht hatten, setzten ihre Karriere fort. Vier solcher Richter arbeiten sogar beim Höchsten Gericht der Slowakischen Republik. Kein Wunder, dass die Tageszeitung "Sme" gemäß eines Gerichtsurteils im Jahr 2004 einem Richter eine Million Kronen Entschädigung zu zahlen hatte, weil sie die Verurteilung eines Priesters, der zu Zeiten des Kommunismus ohne staatliche Lizenz eine Messe abhielt und dafür von jenem Richter für anderthalb Jahre ins Gefängnis geschickt wurde, als einen politischen Prozess bezeichnete. Nach Auffassung der slowakischen Justiz, die sich durch personelle Kontinuität auszeichnet, gab es im Kommunismus auch aus heutiger Sicht nur Straftaten. Bei vielen slowakischen Firmen und Wirtschaftsverbänden sitzen frühere StB-Mitarbeiter in führenden Positionen.

Dennoch verabschiedete das slowakische Parlament 1996 das Gesetz über den unmoralischen und rechtswidrigen Charakter des kommunistischen Systems. Dies sollte kein neues Kapitel der Aufarbeitung eröffnen, sondern - wie der parlamentarische Berichterstatter sagte - einen "Schlussstrich" unter die kommunistische Vergangenheit ziehen. Obwohl das Gesetz die gleiche Klausel über die Aufhebung der Verjährungsfristen für die Zeit der kommunistischen Herrschaft beinhaltet wie das tschechische, verzichtete die Slowakei weitgehend auf eine strafrechtliche Verfolgung früherer Funktionäre. Der ehemalige Chef des Staatssicherheitsdienstes General Alois Lorenz wurde noch in der Tschechoslowakei wegen rechtswidriger Aktenvernichtung und Verhaftung von rund 300 Dissidenten zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, entzog sich jedoch dem Strafvollzug durch die Übersiedlung in seine slowakische Heimat. Dort blieb er frei, und das Verfahren gegen ihn wurde 1998 ausgesetzt. Erst nach dem Sturz von Meciar wurde Lorenz wegen Machtmissbrauchs im April 2002 zu 15 Monaten auf Bewährung verurteilt. Der Altstalinist Vasil Bil'ak, einer der Unterzeichner des berühmten "Einladungsbriefes" an Leonid Breznev 1968, mit dem die Okkupation der Tschechoslowakei als "brüderliche Hilfe" legalisiert werden sollte, lebte jahrelang unbehelligt in seiner Villa in Bratislava, bis er im März 2000 wegen Landesverrats angeklagt wurde. Angesichts der 23 000 Seiten umfassenden Anklageschrift betrachtet der heute 89-Jährige seit Jahren gelassen das unentschlossene Vorgehen der slowakischen Justiz. Die meisten politisch bedingten Straftaten der Funktionsträger des früheren Regimes sind nach der slowakischen Rechtslage bereits verjährt. Auch in Fällen dokumentierter Hinrichtungen an den Staatsgrenzen wurden bisher keine Verantwortlichen vor Gericht gestellt.

Die kommunistische Vergangenheit ist in der Slowakei gleitend in die postkommunistische Gegenwart übergegangen. Die Muster der kommunistischen "Nationalen Front" pflanzten sich in dem Postulat der nationalen Einheit nach 1989 fort und gebaren einen autoritären Kollektivismus unter der Führung "recycelter" Eliten. Der Übergang vom slowakischen Nationalkommunismus zum postkommunistischen Nationalismus erfolgte fließend. Der nationalkommunistische Schriftsteller Vladimír Minác brachte diesen Identitätswechsel auf eine Kurzformel: "AlsKommunist habe ich versagt, als Slowake stehe ich an der Schwelle einer neuen Epoche."

Eine der Folgen dieser politischen Metamorphosen ehemaliger Kommunisten zu Experten und slowakischen Patrioten war der chronische Mangel an moralisch integren Persönlichkeiten und damit die Schwäche glaubwürdiger Gegeneliten zum früheren kommunistischen Establishment. Das erste Jahrzehnt nach dem Sturz des Kommunismus stand im Zeichen des autoritären Nationalpopulismus von Meciar und einer Marginalisierung der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit. Erst nach der Abwahl Meciars im Jahr 1998, die einem zweiten demokratischen Regimewechsel gleichkam, nahm auch die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit zu. So wurde 1999 nach tschechischem Vorbild im Justizministerium ein kleines Amt für die Dokumentation der Verbrechen des Kommunismus gegründet, das sich vor allem auf die Dokumentation der politisch motivierten Verbrechen während des kommunistischen Regimes konzentrierte. Dieses Amt hatte ganze drei Mitarbeiter und war nur eine Abteilung des Justizministers. Ohne eine sichtbare aktuelle Auseinandersetzung in der slowakischen Gesellschaft wurde auf Betreiben einer Gruppe von Abgeordneten unter der Führung des ehemaligen Dissidenten und früheren föderalen Innenministers Ján Langos im Slowakischen Nationalrat im Jahr 2002 ein Gesetz über die Öffnung der Dokumente der Sicherheitsdienste des Staates in der Zeit der Unfreiheit 1939 - 1989 sowie über die Errichtung eines Instituts des nationalen Gedächtnisses wie in Polen verabschiedet. Als letztes mitteleuropäisches Land gab damit die Slowakei die geheim gehaltenen StB-Akten frei, die bis dahin in der Obhut des unter Vladimír Meciar in kriminelle Aktionen verwickelten Sicherheitsdienstes SIS waren. Zum ersten Mal hatten slowakische Bürger Zugriff auf StB-Akten. Das personell mit 79 Mitarbeitern ausgestattete Institut dokumentiert anhand der ihm anvertrauten Akten das Erbe der zwei slowakischen Diktaturen - der faschistischen 1939 bis 1945 und der kommunistischen 1948 bis 1989. So werden nicht nur die Verzeichnisse hauptamtlicher wie informeller StB-Mitarbeiter, sondern auch die Verzeichnisse slowakischer Arisierer, die von den Enteignungen und Deportationen slowakischer Juden in die Vernichtungslager profitiert hatten, veröffentlicht. Anders als das tschechische Amt hat das Institut keine Ermittlungskompetenzen, kann aber Strafverfahren anstoßen. Seine Tätigkeit ist direkt dem Parlament unterstellt. Erst mit diesem Gesetz ist in der Slowakei eine vergangenheitspolitische Institution geschaffen, die eine nachhaltige Auseinandersetzung mit dem Erbe zweier Diktaturen ermöglicht.

Tschechische Dekommunisierungspolitik

Der Kommunismus wird in der Tschechischen Republik rückblickend überwiegend als eine nationale Katastrophe empfunden, als ein zivilisatorischer Regress. Der wirtschaftliche Abstand der Tschechischen Republik zum Westen vergrößerte sich, und die früheren Modernisierungsvorteile gegenüber ihren mitteleuropäischen Nachbarn gingen verloren. Die zweite Sowjetisierungswelle nach der Niederschlagung des "Prager Frühlings" 1968 traf den tschechischen Landesteil besonders hart; die "Normalisierungspolitik" unter Staatspräsident Gustav Husák stellte eine der längsten Perioden der Unterdrückung von Wissenschaft und Kultur in der modernen tschechischen Geschichte dar.

Der "Prager Frühling" 1968 - ein Versuch, Sozialismus und Demokratie zu versöhnen - hinterließ ein widersprüchliches Erbe. Die im tschechischen Landesteil stärker ausgeprägte Demokratisierung im Jahre 1968 führte zu einem Legitimitätszuwachs der Reformkommunisten und damit zur weiteren Verstrickung der tschechischen Gesellschaft mit dem Kommunismus. Sie war stärker als in der Slowakei, wo das Föderalisierungsprojekt und damit die nationale Frage dominierte. Der Demokratisierungsversuch und seine militärische Niederschlagung brachte zudem das Phänomen des "kommunistischen Helden" hervor und damit ein Stück historischer Legitimität des Reformkommunismus in der nationalen Geschichte. Zudem wurden dessen Protagonisten bevorzugte Opfer der repressiven "Normalisierungspolitik" nach 1969 und bildeten eine wichtige Gruppe innerhalb der Bürgerrechtsbewegung "Charta 77". Der öffentliche Streit darüber, ob der "Prager Frühling" ein bloßer Kampf kommunistischer Fraktionen war, dessen Sinn nur in seinem Scheitern zu suchen sei, oder ob das Jahr 1968 ein legitimer Vorläufer der "samtenen Revolution" von 1989 war, trug zur politischen Polarisierung nach 1989 bei.

Nach 1989/92 gehörte die Tschechische Republik in Osteuropa zu den Vorreitern einer konsequenten "Dekommunisierungspolitik". Neben einem reflektierten und einem radikalen Antikommunismus setzte sich nach 1989 in der Gestalt der Demokratischen Bürgerpartei ODS von Václav Klaus ein "Systemantikommunismus" durch. Dieser betonte das grundsätzlich Falsche an der Wirtschaftsplanung, am Zentralismus und der sozialistischen Ideologie. Im Geiste des Ökonomen Friedrich A. von Hayek wurde der Kommunismus als ein gigantisches anmaßendes Experiment, als eine intellektuelle Fehlkonstruktion und Utopie betrachtet, die sich gegen die durch eine lange kulturelle Evolution bewährte "natürliche soziale Ordnung" richtete und deren Institutionen und Organisationen wie die Familie, die Gemeinde, das Privateigentum, den Staat, das Recht und den Markt zerstörte. Der Markt, der eine funktionierende wie akzeptierte Ordnung hervorgebracht hat, wird als Gegenmodell für jede Art von sozialem Konstruktivismus betrachtet, zu dem auch die sozialdemokratischen Bemühungen um eine soziale Zähmung des Marktes gezählt werden. Diese Ausweitung der Kommunismus-Kritik auf jede Spielart des Sozialismus und sozialdemokratischer Politik der dritten Wege bedeutete eine ideologische Zuspitzung und Ausdehnung der "kommunistischen Gefahr". Sie richtete sich in erster Linie gegen das Erbe des "Prager Frühlings" 1968, das in Tschechien anders als in der Slowakei politisch entwertet wurde. Nach dieser Lesart der kommunistischen Diktatur war menschlichem Versagen im Kommunismus mit Nachsicht zu begegnen, was die Mehrheit der Mitläufer von moralischer Verantwortung entlastete. Umgekehrt wurde die schmale aktive Opposition der Charta-Dissidenten dadurch in der Tendenz entwertet, indem ihnen bescheinigt wurde, der Kommunismus wäre auch ohne ihr Zutun zusammengebrochen.

Die Rezeption der kommunistischen Diktatur wurde in Tschechien von Anfang an politisch instrumentalisiert und war Bestandteil der politischen Polarisierung.

In der politischen Praxis der Tschechischen Republik dominierte nach 1992 das Bündnis des radikalen mit dem Systemantikommunismus. Es bestimmte die Grundlagen einer mehrschichtigen Dekommunisierungspolitik. Das Lustrationsgesetz wurde aufgrund seiner Fixierung auf den Registrierungsvorgang, der einseitigen Übernahme der StB-Angaben und vor allem wegen des mangelnden Schutzes der Betroffenen vor öffentlicher Stigmatisierung zum Gegenstand erbitterter Dispute. In den Jahren 1991 bis 2002 wurden vom Innenministerium 365.000 Lustrationszeugnisse ausgestellt. Nur ca. drei Prozent der überprüften Personen wurde der Zugang zu bestimmten öffentlichen Funktionen verwehrt. Die Eigentumsrestitutionen waren stets umstritten und schufen neue Gerechtigkeitslücken, die mühsam korrigiert wurden. Das Gesetz über den verbrecherischen Charakter des kommunistischen Regimes und der Legitimität des Widerstandes gegen dasselbe von 1993 machte den "Prager Frühling" endgültig zur Spielart der kommunistischen Diktatur. Die beabsichtigte pädagogische Wirkung dieses Gesetzes schlug aufgrund seiner ideologischen Radikalität fehl. Auf der anderen Seite ebnete die Aufhebung der Verjährungsfrist für die Zeit der kommunistischen Diktatur den Weg für eine strafrechtliche Auseinandersetzung mit politisch motivierten Verbrechen. Das 1995 errichtete Amt für die Dokumentation und Untersuchung der kommunistischen Verbrechen hat bis zum Jahr 2005 gegen 190 Personen Strafverfahren angestoßen. Bisher wurden nur 29 Personen verurteilt, in 54 Fällen wurden die Verfahren eingestellt, häufig wegen Todesfällen oder Freisprüchen der Angeklagten. Der Umstand, dass die Hauptverantwortlichen für die kommunistische Diktatur nicht zur Verantwortung gezogen wurden, wird besonders von den Opfergruppen als ein großer Mangel empfunden.

Im Jahre 1996 wurde den früher bespitzelten Bürgerinnen und Bürgern der Zugang zu ihren Akten ermöglicht. 2002 ging man noch einen Schritt weiter: Das Innenministerium veröffentlichte Verzeichnisse von rund 75.000 StB-Mitarbeitern und beendete damit den Zustand von inoffiziell zirkulierenden Verzeichnissen, die seit 1992 im Umlauf waren. Es gibt nun einen fast unbegrenzten Zugang für jeden Bürger zu den Akten der Staatssicherheit. Das gilt auch für den Fall, dass man sich über andere Personen informieren will. Die Rolle der StB sollte ebenfalls genauer untersucht und ihre Tätigkeit für die Gesellschaft transparent werden. Es gibt in keinem anderen Land Osteuropas eine vergleichbar radikale Öffnung der StB-Akten wie in Tschechien. Obwohl persönliche Daten im Umgang mit den Akten geschützt werden sollen, bleibt ein Mangel weiter bestehen: Die Spitzelberichte werden unkommentiert der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes der Akten bleibt dem jeweiligen Leser überlassen. Nachdem selbsternannte antikommunistische Kämpfer fremde Akten ins Internet gestellt haben, um gezielt persönliche Rivalitäten auszufechten, erhoben bekannte Historiker und ehemalige Dissidenten im November 2005 Proteste gegen solche öffentlichen Denunziationen. Präsident Václav Havel sprach von einer bizarren "reality show".

Die Anthologie der Zeugnisse von rund 100 Personen, die sich durch die publizierten StB-Mitarbeiterverzeichnisse verleumdet fühlen, zeigt, wie ungenügend der Grad der eventuellen Verstrickungen und Verantwortung nur anhand der StB-Akten zu beurteilen ist. Mehr als 750 Klagen von Bürgerinnen und Bürgern, die sich zu Unrecht in den StB-Verzeichnissen als Mitarbeiter wiederfanden, hatten vor Gerichten Erfolg. Die wohl größte Absurdität der tschechischen Aktenpolitik ist der Umstand, dass nicht die Namen der hauptamtlichen StB-Mitarbeiter, sondern die ihrer Opfer und Zuträger im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen. Hinzu kommt, dass die Archivbestimmungen Angaben über die hauptamtlichen StB-Mitarbeiter als Personal- und nicht als Archivmaterialien qualifiziert haben. Damit sind ihre Daten vor der Öffentlichkeit geschützt. Ihre Akten dürfen nur mit ihrem Einverständnis eingesehen werden.

Die tschechische Dekommunisierungspolitik hat sich auf die Verurteilung, bürgerliche Diskriminierung und Bestrafung der Verantwortlichen - weniger auf die Aufklärung der Funktionsweise der kommunistischen Herrschaft - konzentriert. Die Pathologien der sozialen Anpassung im Alltag der langen Diktatur, bei denen es nicht um Opfer-Täter-Konstellationen ging, wurden weitgehend ausgeblendet. Die Defizite der Aktenpolitik, die Hauptverantwortliche im Schatten beließ und verstrickte und genötigte Zuträger ins Rampenlicht der Öffentlichkeit stellte, sind ebenso evident wie die politische Instrumentalisierung der Vergangenheitspolitik. Generell fand in Tschechien - auch im mitteleuropäischen Vergleich - ein weitgehender Elitenwechsel im unmittelbar politischen Bereich statt. Die Wahlerfolge der nichtreformierten KP, die zeitweilig zur drittstärksten politischen Kraft im Lande wurde, zeigen, dass das Phänomen des Kommunismus in Tschechien nicht primär mit dem Medium des Rechts aufgearbeitet werden kann.

Vergleicht man die Vergangenheitspolitik nach 1989 in beiden Ländern, so fallen trotz des gemeinsamen Erbes der kommunistischen Diktatur Unterschiede auf. Die slowakische Ächtung der kommunistischen Diktatur glich in der Meciar-Ära eher einer "Entsorgung" der Vergangenheit. Auch unter demokratischen Bedingungen findet die slowakische Auseinandersetzung mit dem Erbe der kommunistischen Diktatur in der breiten Öffentlichkeit kaum statt und bleibt in der Praxis weitgehend ohne Folgen. Sie stand nicht im Zentrum slowakischer Vergangenheitsdiskurse, sondern es dominierten stets nationale Themen. In Tschechien hatte die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus einen zentralen Stellenwert und trug zur politischen Differenzierung bei. Die Ächtung des kommunistischen Regimes stützt sich auf einen relativ breiten gesellschaftlichen Konsens.

Fussnoten

Fußnoten

  1. So die Angaben auf der Tafel des Denkmals der Opfer des Kommunismus in Prag. Vgl. Karel Kaplan, Politische Persekution in der Tschechoslowakei 1948 - 1972, Forschungsprojekt: Krisen in den Systemen sowjetischen Typs, Nr. 3, Köln 1983, S. 27f.; Frantisek Miklosko u.a. (Hrsg.), Zlociny komunizmu na Slovensku 1948: 1989, Bd. I-II, Presov 2001.

  2. L'ubomír Lipták, Slovensko v 20. storocí, Bratislava 1998, S. 148.

  3. Vgl. Institut pro vÝzkum verejného mínení IVM-09 - 1992.

  4. Anliegen dieses Gesetzes war es zu verhindern, dass Mitglieder der ehemaligen kommunistischen Führungseliten (auch des Staatssicherheitsdienstes) erneut öffentliche Ämter und politische Mandate ausüben können.

  5. Vgl. Vladimír Meciar, Podracká, Dana, Sajdová, L'uba: Slovenské tabu, Bratislava 2000, S. 344.

  6. Der Begriff Samizdat stammt aus dem Russischen und bezeichnet alle im Selbstverlag hergestellten Texte, Dokumente und Werke der bildenden Künste, die jenseits der staatlichen Zensur in den sozialistischen Ländern verbreitet wurden.

  7. Jan Buncák, Valentína Harmádyová, Zuzana Kusá, Politická zmena v spolocenskej rozprave, Bratislava 1996, S. 203.

  8. Zu den Hintergründen des Gesetzes vgl. das Interview mit dem Initiator Ján Langos, Minulost' treba priznat', in: Domino fórum 18.7. bis 24.7. 2002.

  9. Vgl. Petr Jüngling/Tomás Koudela/Petr ZantovskÝ, Tak pravil Václav Klaus, Praha 1998, S. 43.

  10. Vgl. Zdena Salivarová-Skvorecká, Osocení. Pravdivé príbehy lidí z "Cibulkova seznamu", Brno 2000.

Dr. phil. Jan Pauer, geb. 1950; langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen mit dem Themenschwerpunkt CSSR. Mitherausgeber des Buches "Ringen um Autonomie: Dissidentendiskurse in Mittel- und Osteuropa" (Berlin 2017) und Autor des Buches "Prag 1968 - Der Einmarsch des Warschauer Paktes" (Bremen 1996). Außerdem Verfasser zahlreicher Fachaufsätze zum Thema.