Einleitung
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) beruht auf einem völkerrechtlichen Vertrag, welcher - nach einer bis zu den Nürnberger Prozessen zurückreichenden Entstehungsgeschichte
Der IStGH wurde als ständige Einrichtung in Den Haag errichtet (Art. 1, 3).
Die Anklagebehörde ist eine vom Gericht unabhängige und hierarchische Behörde und wird von dem Argentinier Luis Moreno-Ocampo ("The Prosecutor") geleitet (Art. 42).
Zuständigkeit des IStGH und Auslösung von Ermittlungen
Die materielle Zuständigkeit ("jurisdiction ratione materiae") des IStGH erstreckt sich auf die im Statut aufgenommenen völkerrechtlichen Kernverbrechen (Art. 5),
In zeitlicher Hinsicht ("jurisdiction ratione temporis") erstreckt sich die Zuständigkeit nur auf solche Verbrechen, die nach Inkrafttreten des Statuts zum 1. Juli 2002 (Art. 11 Abs. 1) begangen wurden, wobei für einen nach diesem Zeitpunkt beigetretenen Staat das spätere Inkrafttreten gemäß Art. 11 Abs. 2, 126 Abs. 2 zu beachten ist.
Hinsichtlich der formellen Zuständigkeit ("competence") brachten die höchst kontroversen Verhandlungen ein dreistufiges Zuständigkeitsmodell hervor (Art. 12):
Auf der ersten Stufe akzeptiert ein Staat mit Vertragsbeitritt automatisch ("automatic jurisdiction") die Gerichtsbarkeit des IStGH (Art. 12 Abs. 1); bei Kriegsverbrechen kann eine Vertragspartei jedoch die Zuständigkeit des Gerichtshofs für sieben Jahre aussetzen (sog. "opt-out"). Eine solche Erklärung kann jederzeit zurückgezogen werden (Art. 124).
Auf der zweiten Stufe werden als alternative Anknüpfungspunkte der Tatort- oder der "Täterstaat" (richtig: Tatverdächtigenstaat) anerkannt. Eine Zuständigkeit ist also immer dann gegeben, wenn der Tatort- oder der Tatverdächtigenstaat Vertragspartei ist. Einer gesonderten Zustimmungserklärung bedarf es in diesem Falle nicht (Art. 12 Abs. 2 und 3).
Auf einer dritten Stufe kann ein Staat, der nicht Vertragspartei, aber Tatort- oder Tatverdächtigenstaat im Sinne von Art. 12 Abs. 2 ist, sich der Gerichtsbarkeit in einem konkreten Fall ad hoc unterwerfen (Art. 12 Abs. 3). Eine solche Unterwerfungserklärung ist, wie Art. 12 Abs. 3 S. 1 klarstellt, beim Kanzler des Gerichts zu hinterlegen und muss sich auf ein oder mehrere - konkrete(s) - "Verbrechen" bzw. eine "Situation" (IStGH-Regel 44) beziehen. Es geht nicht um die Verbrechen nur einer Konfliktpartei, sondern um die allgemeine Konfliktlage und alle in ihrem Rahmen begangenen völkerrechtlichen Kernverbrechen. Der anerkennende Staat soll unverzüglich und ohne Ausnahme ("without any delay and exception") mit dem Gericht zusammenarbeiten.
Die genannten Zuständigkeitsvoraussetzungen (siehe Schaubild 2 der PDF-Version) gelten allerdings nur dann, wenn ein Fall durch einen Vertragsstaat an den Gerichtshof überwiesen wird (Art. 13 (a)) oder der Ankläger die Ermittlungen von Amts wegen (proprio motu) aufnimmt (Art. 13 (c)). Im Fall einer Überweisung durch den UN-Sicherheitsrat (Art. 13 (b)) ist die Zuständigkeit des Gerichtshofs ohne weiteres gegeben.
Dies bringt uns zu der Frage, wie ein Verfahren vor Gericht gebracht werden kann (sog. "trigger mechanism").Nach Art. 13 kann dies durch einen Vertragsstaat, den UN-Sicherheitsrat oder aufgrund eigenständiger Ermittlungen der Anklagebehörde geschehen. Eine Vertragspartei kann jederzeit den Ankläger darum ersuchen, eine bestimmte "Situation" in einem begrenzten Zeitraum und Gebiet zu untersuchen (Art. 13 (a) in Verbindung mit Art. 14, sog. Staatenverweis); dies schließt einseitige Ermittlungen gegen eine bestimmte Konfliktpartei aus. Entgegen den Erwartungen ist auf diese Möglichkeit bisher schon häufig zurückgegriffen worden (dazu näher im Folgenden). Dem Ersuchen sollen diejenigen Unterlagen zur Begründung beigefügt werden, über die der ersuchende Staat verfügt (Art. 14 Abs. 2). Es gelten die allgemeinen Zuständigkeits- und Zulässigkeitsvoraussetzungen (Art. 11, 12, 17-19). Allerdings kann man in den bisher praktisch gewordenen Fällen von Staateneigenüberweisungen davon ausgehen, dass der betreffende Staat auf die Geltendmachung der Komplementarität verzichten wird; andernfalls würde er sich dem Einwand widersprüchlichen Verhaltens (estoppel) aussetzen.
Der UN-Sicherheitsrat (SR) kann unter Kapitel VII UN-Satzung (UNS) fallende "Situationen" friedensbedrohender Art, in denen Verbrechen im Sinne des Statuts begangen wurden, an das Gericht verweisen (Art. 13 (b)). Da diese Zuständigkeit unmittelbar aus der UNS folgt, kann der SR auch eine einen Nicht-Vertragsstaat betreffende Situation verweisen. Dagegen hat der Gerichtshof seine Zuständigkeit ratione materiae und temporis (Art. 5, 11) zu prüfen, und zwar selbst dann, wenn der SR-Beschluss darüber hinausgeht (etwa die zeitliche Zuständigkeit vorverlagert). Dies folgt daraus, dass der IStGH ein autonomes Völkerrechtsorgan ist, dessen Aufgaben und Befugnisse sich (nur) aus dem Statut ergeben (Art. 4). Aus Kapitel VII UNS folgt auch die Befugnis des Sicherheitsrats, den Gerichtshof darum zu ersuchen, ein Ermittlungsverfahren nicht zu beginnen oder - für einen (allerdings verlängerbaren) Zeitraum bis zu 12 Monaten - zu unterbrechen (Art. 16). Die darin liegende Einschränkung der Unabhängigkeit des Gerichts wird nur dadurch in ihren praktischen Auswirkungen gemildert, dass es eines mehrheitlich gefassten Beschlusses des Sicherheitsrats (also 9 der 15 Stimmen) - bei keiner Gegenstimme der fünf ständigen Mitglieder - bedarf (Art. 27 Abs. 3 UNS).
Schließlich kann auch die Anklagebehörde von Amts wegen (v.A.w.) auf der Grundlage von Informationen aus verlässlichen Quellen, u.a. auch von zwischenstaatlichen Einrichtungen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Privatpersonen, (Vor-)Ermittlungen aufnehmen (Art. 13 (c) in Verbindung mit Art. 15).Ist sie der Ansicht, dass eine hinreichende Grundlage ("reasonable basis") für ein Ermittlungsverfahren existiert, hat sie die Vorverfahrenskammer ("Pre-trial Chamber") um eine Genehmigung zur Fortführung des Verfahrens zu ersuchen (Art. 15 Abs. 3). In diesem Verfahrensstadium können auch Tatopfer Eingaben machen (Art. 15 Abs. 3 S. 2; IStGH-Regel 50 Abs. 3). Nur wenn die Vorverfahrenskammer eine hinreichende Ermittlungsgrundlage für gegeben hält, kann die Anklagebehörde mit den eigentlichen Ermittlungen beginnen (Art. 15 Abs. 4). Diese gerichtliche Entscheidung lässt spätere Entscheidungen zur Zuständigkeit und Zulässigkeit unberührt. Fehlt es nach Ansicht der Vorverfahrenskammer an einer hinreichenden Grundlage, kann die Anklagebehörde lediglich ein erneutes Ersuchen aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel stellen (Art. 15 Abs. 5). Die Anklagebehörde kann aber auch selbst - vor Befassung der Vorverfahrenskammer - zu dem Schluss kommen, dass die Informationen nicht ausreichend sind und muss dies den Betroffenen dann mitteilen (Art. 15 Abs. 6). Eine Kontrolle der Vorverfahrenskammer findet insoweit nicht statt, doch sind spätere Ermittlungen durch die Anklagebehörde aufgrund neuer Tatsachen oder Beweise nicht ausgeschlossen.
Insgesamt hat sich mit dieser Regelung die Position der gerichtshoffreundlichen Staaten für eine unabhängige, von Amts wegen ermittelnde Anklagebehörde durchgesetzt. Statt ihrer politischen Kontrolle durch den UN-Sicherheitsrat besteht eine gerichtliche Kontrolle, die freilich früher als im nationalen Verfahrensrecht üblich eingreift.
In allen der genannten Fälle hat die Anklagebehörde nach entsprechenden Vorermittlungen über die Einleitung formeller Ermittlungen zu entscheiden (Art. 53).Die laufenden Ermittlungen
Zum 10. Februar 2006 gingen nach einer Pressemitteilung der Anklagebehörde1.732 Anzeigen ("communications") bezüglich 139 angeblicher Verbrechen aus 103 Staaten beim Gerichtshof ein. Ermittlungen gemäß Art. 53 wurden bislang in drei Fällen eröffnet: zweimal aufgrund eines Staateneigenverweises gemäß Art. 13 (a), 14 (Uganda, Dezember 2003 und Demokratische Republik Kongo, März 2004), wobei der Chefankläger im Hinblick auf den Verweis Ugandas "concerning the LRA" - aufgrund seiner Pflicht zur Ermittlung in alle Richtungen - klarstellen musste, dass alle im Norden Ugandas begangenen Verbrechen untersucht würden. Ferner hat der UN- Sicherheitsrat die Situation in Darfur (Sudan) gemäß Art. 13 (b) an den IStGH verwiesen. Bezüglich der Situationen in der Zentralafrikanischen Republik, die sich am 21. Dezember 2004 an den IStGH gewendet hat, und der Elfenbeinküste, die am 15. Februar 2005 - bisher als einziger Nichtmitgliedsstaat - eine Unterwerfungserklärung gemäß Art. 12 Abs. 3 abgegeben hat, hat die Anklagebehörde bisher noch keine Entscheidung gemäß Art. 53 getroffen.
Nach der genannten Presseerklärung der Anklagebehördebefinden sich 80 Prozent der 1.732 Anzeigen offensichtlich außerhalb der Zuständigkeit des IStGH: bei 5 Prozent mangelt es an der zeitlichen Zuständigkeit (Art. 11), denn sie beziehen sich auf Tatsachen vor dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts (1. Juli 2002); 24 Prozent der Vorwürfe fallen nicht in die materielle Zuständigkeit, stellen also keine Statutsverbrechen dar; 13 Prozent betreffen Verbrechen außerhalb der formellen (personalen bzw. territorialen) Zuständigkeit, insbesondere weil sie sich nicht auf dem Gebiet eines Vertragsstaates ereignet haben oder von Angehörigen eines Vertragsstaates begangen wurden (Art. 12); endlich sind 38 Prozent der Hinweise offensichtlich unbegründet, etwa weil eine Verschwörung ohne genauere Angaben angezeigt oder allgemeine politische Ausführungen gegen eine bestimmte Regierung oder Gruppe gemacht wurden. Die verbleibenden 20 Prozent der Anzeigen (346 in absoluten Zahlen) bedürfen nach Ansicht der Anklagebehörde weiterer Ermittlungen.
Die verbleibenden 20 Prozent der Anzeigen wurden nach Situationen geordnet, wobei die Anklagebehörde freilich nicht die genaue Zahl der Situationen angibt. Vielmehr wird unter dem Titel "analysis of situations" pauschal auf insgesamt 23 Situationen verwiesen, also auch auf diejenigen, welche auf die genannten Staateneigenverweisungen (Uganda, Demokratische Republik Kongo und Zentralafrikanische Republik), den genannten Sicherheitsratsverweis (Darfur) und die genannte Ad-hoc-Unterwerfungserklärung der Elfenbeinküste zurückgehen. Die Anklagebehörde hat also offenbar die verbleibenden 346 Anzeigen zu 18 "situations" (23 minus den fünf genannten) zusammengeführt. Von den insgesamt 23 Situationen wurden sechs a limine nicht weiter verfolgt, sieben verbleiben unter "basic reporting" und zehn gelangten auf die nächste Ermittlungsstufe der "intensive analysis".Davon haben drei, wie oben erwähnt, zur Einleitung förmlicher Ermittlungen (Art. 53) geführt (Demokratische Republik Kongo, Uganda und Sudan), bei zweien (Irak, Venezuela) wurde eine Einstellungsentscheidung getroffen und fünf verbleiben unter Beobachtung. Welche dies sind, kann aufgrund der zurückhaltenden Informationspolitik der Anklagebehörde nur gemutmaßt werden: Mit Sicherheit zählen dazu die Situationen der Zentralafrikanischen Republik und der Elfenbeinküste sowie - auf der Grundlage von Anzeigen gemäß Art. 15 - in Kolumbien begangene Taten; für die verbleibenden zwei Situationen kommen in Afghanistan, Burundi, Irak oder Nigeria begangene Verbrechen in Betracht. In jedem Fall kann man feststellen, dass nur wenige Anzeigen als Teil von "Gesamt"-Situationen das Stadium der "intensive analysis" erreicht haben (nämlich nur die Anzeigen, die in den fünf der insgesamt zehn in diesem Stadium befindlichen Situationen zusammengeführt wurden); erst recht wurden keine formellen Ermittlungen gemäß Art. 53 aufgrund von Anzeigen eingeleitet. Grenzen strafrechtlicher Vergangenheitsbewältigung
Auch die hier unternommene Analyse der beim IStGH eingegangenen Anzeigen lässt zahlreiche Fragen offen und kann vor allem nicht zufrieden stellend erklären, warum bisher keine einzige Anzeige zu förmlichen Ermittlungen geführt hat. Man wird ja kaum bestreiten können, dass es neben den drei im förmlichen Ermittlungsstadium befindlichen Situationen (mit den darin enthaltenen Fällen) noch zahlreiche weitere Situationen gibt, die dem Gericht durch Anzeigen zur Kenntnis gebracht wurden und die Aufnahme formeller Ermittlungen rechtfertigen würden. Nehmen wir etwa den Fall von Kolumbien. Dort herrscht seit Jahrzehnten ein bewaffneter Konflikt zwischen Rebellen, der offiziellen Armee und paramilitärischen Gruppen, in dem tausende von Zivilisten getötet, gefoltert oder in sonstiger Weise in ihren Rechten verletzt wurden.Aufgrund der kolumbianischen Ratifikation am 5. August 2002 ist das Statut dort am 1. November 2002 in Kraft getreten (Art. 11 Abs. 2, 126 Abs. 2), wobei die Regierung bezüglich der Kriegsverbrechen aber von der opt-out Klausel des Art. 124 Gebrauch gemacht hat, so dass diesbezüglich der Gerichtshof erst ab dem 1. November 2009 zuständig sein wird. Damit bleibt er aber in der Zuständigkeit für seit dem 1. November 2002 begangenen Genozid oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf kolumbianischem Staatsgebiet, wobei diese Taten unschwer festzustellen sein dürften.
Die Untätigkeit in diesen und ähnlichen Fällen kann aus rechtlicher Sicht eigentlich nur auf das die Beziehungen zwischen Staaten und den IStGH beherrschende Prinzip der Komplemetarität gestützt werden. Danach wird - vereinfacht gesagt- der IStGH nur "komplementär" oder "ergänzend" zu dem jeweils zuständigen nationalen Justizsystem tätig; solange dieses "willens" und "fähig" ist, die in Rede stehenden Verbrechen zu verfolgen, mischt sich der IStGH nicht ein (vgl. Art. 17 - 19 sowie Abs. 10 der Präambel und Art. 1). Der Grundsatz der Komplementarität beruht einerseits auf der Überlegung, dass jeder Staat zur Strafverfolgung völkerrechtlicher Kernverbrechen verpflichtet ist, ja dass die Ausübung des ius puniendi den vornehmsten Ausdruck seiner Souveränität darstellt, insbesondere wenn die Verbrechen auf seinem Staatsgebiet oder durch seine Staatsangehörigen begangen wurden. Andererseits wird der IStGH schon aus Kapazitätsgründen niemals in der Lage sein, die staatliche Strafverfolgung vollständig zu ersetzen oder auch nur substanziell zu übernehmen. Deutlicher formuliert: Der IStGH ist bei seiner gegenwärtigen Kapazität mit drei Großverfahren bezüglich Uganda, der Demokratischen Republik Kongo und Darfur (Sudan) schon ausgelastet - selbst im Hinblick auf diese Verfahren müssen die Ermittlungen auf die Hauptverantwortlichen konzentriert werden. Die Anklagebehörde hat alleine wegen dieser Verfahren mehr als 130 Missionen durchgeführt und plant selbst für 2007 bis 2009 nicht mehr als vier bis sechs Ermittlungsverfahren dieser Art gegen Hauptverantwortliche. Die bisherigen Erfahrungen haben bereits deutlich gemacht, dass der IStGH nur in wenigen Fällen selbst aktiv ermitteln kann; vielmehr kommt ihm in der Regel eine überwachende und beratende Rolle gleichsam als supranationaler Teil eines internationalen Kriminaljustizsystems zu. Dieses wird, ebenfalls auf supranationaler Ebene, durch sog. gemischte internationale Ad-hoc-Tribunale (Irak, Kambodscha, Kosovo, Osttimor, Sierra Leone) und, auf nationaler Ebene, durch die Gerichte der Tatort- und Drittstaaten ergänzt.
Dabei haben die entwickelten Industriestaaten nach wie vor die Hauptlast zu tragen, sind sie doch - wenn überhaupt - als einzige in der Lage, Ermittlungen zu weit entfernten makrokriminellen Ereignissen zu führen. Nur wenn innerhalb dieses Systems die Strafverfolgungslasten nach den Komplementaritätskriterien Fähigkeit und Willen auf der supranationalen und nationalen Ebene angemessen verteilt werden, kann die häufig beklagte Strafverfolgungslücke ("impunity gap") bei internationalen Verbrechen verhindert oder doch wenigstens verkleinert werden. Eine unverzichtbare Voraussetzung dafür ist, ähnlich wie bei der europäischen Strafverfolgung,neben dem Strafverfolgungswillen der supranationalen und nationalen Verfolgungsbehörden die Koordinationund Kommunikation innerhalb des Systems.
Dieser Erkenntnis trägt die maßgeblich von Deutschland mit initiierte Schaffung einer "Justice rapid response capacity" (JRRC) Rechnung.Dabei geht es darum, solche Staaten zu unterstützen, die zwar den Willen zur Strafverfolgung völkerrechtlicher Kernverbrechen besitzen, denen es jedoch an den praktischen Möglichkeiten mangelt, die also - in der Sprache des Komplementaritätsgrundsatzes des Art. 17 - zwar willens, aber nicht (vollkommen) zur eigenen Strafverfolgung fähig sind. Dieser Ansatz ist überzeugend, und zwar nicht alleine aufgrund "realpolitischer" Erwägungen (der Territorialstaat hat bessere Möglichkeiten, die Ermittlungen "vor Ort" durchzuführen; er hat direkten Zugriff auf die Beweise etc.), sondern auch, weil er über die Vermeidung von Straflosigkeit (Menschenrechtsaspekt) hinaus auch auf eine Verbesserung des Strafjustizsystems des Tatortstaates als Ganzes (Justizreformaspekt) zielt. Der Menschenrechtsaspekt kann nicht isoliert betrachtet werden; er ist vielmehr Teil des Justizreformaspekts, denn der Tatortstaat wird nur dann selbständig zur Verfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen in der Lage sein, wenn er ein funktionierendes und rechtsstaatliches Justizsystem mit gleichem Zugang aller Bürgerinnen und Bürger zur Justiz besitzt. Die damit notwendige Blickerweiterung vom Menschenrechts- zum Justizreformaspekt stellt somit auch ein Plädoyer für den Aufbau und die Konsolidierung rechtsstaatlicher Justizsysteme dar und fügt sich in die internationale Debatte zur "good governance" ein.
Aus dieser Sicht wird auch der (scheinbare) Zielkonflikt zwischen Strafgerechtigkeit durch internationale Strafverfolgung und nationaler Versöhnung durch Friedensprozesse erheblich relativiert, geht es doch bei genauer Betrachtung um nachhaltige Friedenssicherung durch den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen, um ein "ius post bellum", das den Namen "Recht" auch verdient.Ohnehin muss die (drohende) Aufnahme von Ermittlungen durch den IStGH nicht immer kontraproduktiv sein; sie kann im Gegenteil gerade dazu führen, dass sich die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch setzen. So kann man den jüngst begonnenen Friedensprozess in Uganda durchaus als das Ergebnis der Ermittlungen des IStGH und des Erlasses von fünf Haftbefehlen gegen Hauptverdächtige ansehen. Die Festnahme des Rebellenführers Thomas Lubanga im März 2006 wurde von der lokalen Bevölkerung auch und gerade im Hinblick auf den Friedensprozess in der Demokratischen Republik Kongo überwiegend begrüßt.
So richtig und wichtig es ist, dass das IStGH-Statut flexible Reaktionen auf ernsthafte Friedensprozesse erlaubt,so vorsichtig sollte man mit dem allzu schnellen Verzicht auf eine Strafverfolgung sein. Natürlich verbieten sich schematische Lösungen, doch spricht es jedenfalls nicht gerade fürdie Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit des Führungspersonals von Konfliktparteien, wenn sie sich erst beim drohenden Erlass von Haftbefehlen zu Verhandlungen bewegen lassen und dann deren Aufhebung zum Bestandteil der Verhandlungen machen.
Schließlich würde sich der IStGH auch zum Gespött all jener machen, die er zu verfolgen beabsichtigt, wenn er bei ihrem ersten Wink mit der Friedenspfeife seine Ermittlungen einstellen würde.Ausblick
Der IStGH ist eine junge, im Aufbau befindliche Institution und kann nicht "über Nacht" jahrhundertealte Probleme der Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen lösen. Die an den IStGH gerichteten Erwartungen müssen sich an der Realität makrokrimineller Großverfahren und der Realität einer internationalen Institution mit unterschiedlichen persönlichen und staatlichen Interessen orientieren. Wer mehr fordert, als der IStGH derzeit zu leisten in der Lage ist, muss sich darüber im Klaren sein, dass dieses "Mehr" nicht umsonst zu haben sein wird, dass es zur Überforderung des Gerichts und damit zum Ende des Traums einer internationalen Strafgerichtsbarkeit führen kann.
Der IStGH kann ein weiterer, wichtiger Akteur bei nationalen Aufarbeitungs- und Versöhnungsprozessen sein, er spielt aber nicht die Hauptrolle und darf sich nicht zum Spielball der Interessen der Konfliktparteien machen lassen. Mittels des Mechanismus der Komplementarität kann es dem IStGH und den ihn tragenden Staaten gelingen, über die Verringerung der Straflosigkeit hinaus zum Aufbau einer rechtsstaatlichen Justiz beizutragen. So gesehen ist der IStGH ein weiteres entwicklungspolitisches Instrument zur weltweiten Stärkung der rule of law.