Einleitung
Die Zeiten, in denen sich die NATO im Rahmen des Ost-West-Konfliktes vor allem auf Europa konzentrierte und dabei weniger auf tatsächliche Kriegführung denn auf "Abschreckung" setzte, sind lange vorbei. Da in der Zeit der Bipolarität ein Krieg zwischen den beiden Militärblöcken extrem hohe Risiken bis hin zur Gefahr der wechselseitigen Vernichtung mit sich gebracht hätte, war die Militärpolitik zwar notwendigerweise auf den jeweiligen Gegner gerichtet, konnte allerdings nur mit Einschränkungen auf den tatsächlichen Einsatz von Soldaten angelegt sein. Militärpolitik war in diesem Sinne im Kern auf die Vorbereitung eines Krieges ausgelegt, der im beiderseitigen Interesse nie beginnen durfte.
Nach Ende des Kalten Krieges hat sich dieses Verhaltensmuster grundlegend geändert. Regionalen Gewaltkonflikten wird durch die westlichen Regierungen (und die NATO) ein weit größeres Gewicht zugemessen, Landes- und Bündnisverteidigung sowie Abschreckung haben stark an Bedeutung verloren. Selbst die Bundeswehr mutierte von einer Abschreckungstruppe zu einer "Armee im Einsatz". Westliches Militär wird leichter, schneller und öfter eingesetzt als während desKalten Krieges, wobei die offiziell vorgebrachten Begründungen ("neue Bedrohungen", "humanitäre Erfordernisse") weniger ins Gewicht fallen dürften als die Tatsache, dass die Hemmschwelle einer Gewaltanwendung niedriger liegt, weil kaum noch eine Eskalationsgefahr auf einer strategischen Ebene besteht - schließlich ist es ja nicht so, dass es ethnische Konflikte und humanitäre Notlagen früher nicht gegeben hätte. Allerdings reagiert man heute anders. Diese Veränderung schlug sich in neuen Einsatz- und Operationsformen der Bündnispartner und der NATO selbst nieder, aber auch in der gegenüber der Fassung von 1991 deutlich veränderten NATO-Strategie vom April 1999.
In Abschnitt 20 der Strategie wird formuliert: "Die Sicherheit des Bündnisses bleibt einem breiten Spektrum militärischer und nichtmilitärischer Risiken unterworfen, die aus vielen Richtungen kommen und oft schwer vorherzusagen sind. Zu diesen Risiken gehören Ungewissheit und Instabilität im und um den euro-atlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses, die sich rasch entwickeln könnten. Einige Länder im und um den euro-atlantischen Raum sehen sich ernsten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Schwierigkeiten gegenüber. Ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten können zu lokaler und selbst regionaler Instabilität führen. Die daraus resultierendenSpannungen könnten zu Krisen führen, die die euro-atlantische Stabilität berühren, sowie zu menschlichem Leid und bewaffneten Konflikten. Solche Konflikte könnten, indem sie auf benachbarte Staaten einschließlich NATO-Staaten übergreifen oder in anderer Weise auch die Sicherheit des Bündnisses oder anderer Staaten berühren." (Alle Hervorhebungen durch den Autor.)
Euphemistisch lässt sich formulieren, dass diese Vorstellung von Sicherheitspolitik höchst flexibel ist, sich auf nichts Substanzielles festlegt und zugleich alle Möglichkeiten der Militär- und Sicherheitspolitik out-of-area offen lässt. Es ließe sich aber auch feststellen, dass solche Programmatik im höchsten Maße vage und unklar bleibt, da sie vonKonjunktiven ("mögliche Entwicklungen könnten entstehen" etc.) nur so wimmelt. Letztlich wird hier eine Allzuständigkeit für die Bewältigung auch unklarer, noch unbekannter und auch "schwer vorherzusagender" Risiken reklamiert. Auch mandatiert sich die NATO hier selbst zur Bearbeitung all dessen, was die "Stabilität" bedrohen (ein bedeutungsoffener Begriff) und "die Sicherheit des Bündnisses oder anderer Staaten berühren" könnte. Wenn aber der Sicherheitsbegriff so weit ausgedehnt wird, gibt es kaum noch Entwicklungen, welche die Sicherheit nicht bedrohen "könnten". Überspitzt formuliert: Die NATO verpflichtet sich hier zu nichts, ermächtigt sich aber zu allem - je nach aktueller Einschätzung der Situation. Selbst das "organisierte Verbrechen" die "Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen" oder "die unkontrollierte Bewegung einer großen Zahl von Menschen" werden in die Zuständigkeit des Bündnisses gestellt.
Sehen wir uns einige der militärischen Einsätze und deren Kontexte der vergangenen Jahre an. Die wenigsten waren offizielle NATO-Einsätze (wie heute in Afghanistan), aber führende NATO-Mitglieder waren uni- oder multilateral daran beteiligt und nutzten dabei durchaus auch die Infrastruktur, welche der NATO zuzurechnen ist. Der Irak (1991), Somalia, Bosnien und Kosovo stellten den Beginn solcher Einsätze dar, Afghanistan und erneut der Irak (2003) bilden aktuelle Fälle. Zahlreiche andere Operationen blieben von beschränkterem Umfang. Es ist deutlich, dass die Gesamtheit solcher Einsätze unter höchst unterschiedlichen politischen, rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen erfolgte, dass sie aber häufig aus zwei Komponenten bestanden: zum einen aus konventionellen militärischen Einsatzformen, einschließlich der Anwendung kriegerischer Gewalt (Luftangriffe, bewaffnete Kampfeinsätze am Boden, etc.) gegen bewaffnete feindliche Kräfte staatlicher oder substaatlicher Art. Zugleich und häufig daran anschließend kam es zum anderen nicht selten zu komplexeren Militäreinsätzen, die nicht primär auf die Zerschlagung eines militärischen Gegners zielten, sondern auf die Gewährleistung von Stabilität und Sicherheit in einem Zielland, auf die Leistung infrastruktureller oder humanitärer Hilfe, die Flankierung politischer Aufbau- oder Umgestaltungsprozesse (z.B. im Kontext von Nation-Building oder State-Building) oder Ähnliches. Das gehört in der US-Militärpolitik zur Kategorie der "Military Operations Other than War". Darauf wird zurückzukommen sein. Hierbei wurden dem Militär häufig politische oder Ordnungsfunktionen übertragen, die administrative, quasi-polizeiliche, infrastrukturelle oder eben politische Komponenten ins Zentrum rückten, während die klassischen militärischen Funktionen des Militärs (Anwendung von Gewalt, Kampfeinsätze) eher Hilfsaufgaben übernahmen oder als Drohpotenzial im Hintergrund blieben. Diese Situation entstand inzahlreichen, durchaus unterschiedlichen Kontexten, etwa im Rahmen humanitärer Hilfeleistung durch Militär, in Post-Conflict-Situationen, bei fragiler oder gescheiterter Staatlichkeit und beim intendierten oder naturwüchsigen Nation-Building. NATO-Truppen - und in wichtigen Einzelfällen auch die NATO insgesamt - gerieten so in oft ungewohnte, von ihnen nicht selten als kompliziert oder unangenehm empfundene Situationen, für die sie nicht vorbereitet oder ausgebildet waren.
Solche unkonventionellen Einsatzformen "Other than War" (bzw. Mischformen dieser mit konventionellen Elementen) nahmen und nehmen an Zahl und Bedeutung zu. Sie sind von der nicht mehr ganz neuen NATO-Strategie durchaus gedeckt - da diese in ihrer umfassenden Unbestimmtheit ja kaum etwas ausschließt (außer biologische und chemische Kampfeinsätze). Allerdings entstehen dabei einige Probleme bzw. offene Fragen: 1. Die NATO insgesamt verfügt für solche Einsatzformen trotz ihrer breiten Zielformulierung bisher über kein gemeinsames und abgestimmtes Konzept, weder auf der strategischen noch auf der taktischen Ebene. 2. Es gibt keine klaren Kriterien, nach denen über solche Einsätze entschieden würde, sondern eher Ad-hoc-Entscheidungen nach politischer Opportunität. 3. Einige NATO-Mitglieder (insbesondere die USA und die ehemaligen Kolonialmächte) verfügen auf dem Gebiet solcher unkonventioneller Militäreinsätze über beträchtliche Erfahrung, Konzepte und Ausbildung, während dies für andere Mitgliedsländer gar nicht oder nur sehr eingeschränkt zutrifft - etwa auch für die Bundeswehr. Dadurch können nicht nur Probleme vor Ort entstehen, sondern auch eine Schieflage bei der Entscheidung und Rahmensetzung über solche Operationen innerhalb des Bündnisses oder bei multilateralen Einsätzen.
Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, sich entsprechende militärische Konzepte der erfahreneren Bündnispartner näher anzusehen, da diese sich mangels fundierter Alternativen mit hoher Wahrscheinlichkeit ohnehin schleichend auch bei anderen durchsetzen dürften. Das gilt insbesondere für Konzepte der NATO-Führungsmacht USA.
Im US-amerikanischen Militär (insbesondere in der US-Army und dem Marine-Corps) wird seit Jahrzehnten an Fragen militärischer Einsätze unterhalb der Kriegsschwelle konzeptionell gearbeitet, auch wenn sich die Begrifflichkeiten immer wieder änderten. Sprach man früher von "Small Wars", in den 1960er Jahren vor allem von Aufstandsbekämpfung ("Counterinsurgency") und unter Präsident Ronald Reagan von "Low-Intensity Conflict" (LIC; auch: "Low-Intensity Warfare"), so ist heute von "Military Operations Other than War" (MOOTW) und "Stability and Support Operations" die Rede.
Viele der Unterkonzepte und ihre Elemente erscheinen auf den ersten Blick unschuldig genug, teilweise verbergen sich hinter ihnen aber doch zahlreiche Punkte, die Anlass zur Diskussion oder zu Einwänden bieten, etwa bei Konzepten zum Umgang und der Zusammenarbeit mit - sowie der versuchten Instrumentalisierung von - Medien und Nichtregierungsorganisationen (NGO) oder bei der Ausfüllung von Praktiken der Psychologischen Kriegführung. Hier ist nicht der Ort, solche Fragen ausführlich zu erörtern. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass die politischen Kerne der Konzepte von "Military Operations other than War" heute vor allem in der Bekämpfung und Förderung von Aufständen bzw. dem Umgang mit failed states liegen. Genau in diesen Fragen bestehen potenzielle Meinungsunterschiede nicht allein zu wichtigen Strömungen der europäischen Öffentlichkeit, sondern auch zu großen Teilen europäischer NATO-Streitkräfte und europäischer Regierungen. So wirft die Unterstützung oder Organisierung fremder Aufständischer in der Regel schwerwiegende völkerrechtliche Probleme auf, da es sich definitionsgemäß um eine bewaffnete Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Landes handelt. Und wenn wir an die Unterstützung etwa der nicaraguanischen Contras oder der afghanischen Mudschahedin in den 1980er Jahren denken, zeigt sich auch, dass diese entweder höchst umstritten oder von zweifelhaftem Wert waren. Schließlich haben viele der von den USA unterstützten "arabischen Afghanen" nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatländer dort wesentlich zur Destabilisierung der eigenen Länder beigetragen und bildeten nicht selten den Kern terroristischer Organisationen. Auch über den Umgang mit festgenommenen Terrorverdächtigen oder Aufständischen - Stichwort Guantánamo - bestehen bei verschiedenen NATO-Regierungen bekanntlich Meinungsverschiedenheiten.
Von besonderer Bedeutung bei militärischen Operationen unterhalb der Schwelle eines konventionellen Krieges sind heute und zukünftig Situationen von Counterinsurgency, also Aufstandsbekämpfung - insbesondere, weil sich manche ihrer Aspekte in anderen Einsatzformen wiederfinden, etwa beim peace keeping. Es sollte daran erinnert werden, dass Counterinsurgency in unterschiedlichen politischen Kontexten erfolgt: einmal - dies ist sozusagen der "klassische" Fall - gegen eine politisch mehr oder weniger geeinte Aufstands- oder Befreiungsbewegung. Historische Beispiele sind die Vietminh in Südvietnam oder die FMLN in El Salvador. Eine andere Möglichkeit besteht in Counterinsurgency-Operationen im Kontext einer fragmentierten Gesellschaft oder eines failed states, bei denen nicht eine Aufstandsbewegung gegen ihre Regierung, sondern - beispielsweise - ethnische Milizen oder warlords vor allem gegeneinander kämpfen und Staatlichkeit ganz oder überwiegend verschwunden ist. Hier kann es erneut zu Überschneidungen mit peace keeping oder peace enforcement kommen. Der libanesische Bürgerkrieg der 1970er bis frühen 1990er Jahre, Somalia und einige west- und zentralafrikanische Staaten (z.B. Sierra Leone, Liberia, Kongo) und Afghanistan in den 1990er Jahren sind Beispiele. Die heutigen Kämpfe in Afghanistan und dem Irak sind Mischformen, in denen sowohl Konfrontationen zwischen staatlichen und substaatlichen Akteuren, als auch zwischen Letzteren zu beobachten sind. Noch komplizierter werden beide Fälle dadurch, dass sie auch Dimensionen des Kampfes lokaler Akteure gegen ausländische Truppen beinhalten.
Betrachten wir vor diesem Hintergrund die amerikanischen Counterinsurgency-Konzeptionen. Nach der offiziellen Definition des US-Militärs handelt es sich um "diejenigen militärischen, paramilitärischen, politischen, wirtschaftlichen, psychologischen und civic action
Das US-Militär nimmt an, dass Aufstände nur dann entstehen, wenn die Bevölkerung (aus sehr unterschiedlichen Gründen) mit dem wirtschaftlichen und/oder politischen Status quo grundlegend unzufrieden sowie eine glaubwürdige, regimefeindliche politische Führungsgruppe vorhanden ist und die Regierung zumindest zum Teil die Kontrolle über die Situation verloren hat. Insgesamt seien Aufstände und Aufstandsbekämpfung nur zum Teil militärisch, vor allem aber politisch geprägt, sie könnten daher letztlich auch nur politisch gewonnen werden. In den Worten der US-Army: "Der Erfolg in Counterinsurgency-Operationen fällt derjenigen Seite zu, die eine größere Unterstützung durch die Bevölkerung erreicht. Diejenige Konfliktpartei wird sich durchsetzen, die die politischen Fragen besser prägt, die Gruppen und Kräfte um sich herum stärker mobilisiert und Programme entwickelt, die das Problem der relativen Deprivation [Entzug von Rechten oder Ressourcen; J. H.] besser löst. Dies erfordert politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung."
Die Counterinsurgency-Konzepte des US-Militärs weisen häufig darauf hin, dass solche notwendigen Reformen allerdings nicht das Ziel der Politik, sondern nur Mittel seien. Letztlich gehe es darum, in den Augen der Bevölkerung als die legitimere Konfliktpartei zu erscheinen; Ziel sei es, den "Krieg um die Legitimität" zu gewinnen. Auch dies sei wiederum kein Selbstzweck. Letztendlich besteht die Strategie darin, die Bevölkerung von den Aufständischen zu trennen - wenn möglich politisch, sonst aber auch physisch oder geographisch. Wer die Bevölkerung kontrolliere, gewinne den Krieg. Gerade dieser letztePunkt impliziert unter schwierigen Bedingungen großes repressives Potenzial vonCounterinsurgency-Strategien, wie es im Vietnamkrieg exzessiv auftrat.
Es lässt sich festhalten, dass die hier nur kurz anzureißenden Counterinsurgency-Konzepte oder entsprechende Einsätze in fragmentierten Gesellschaften einen höchst widersprüchlichen Charakter tragen. Einmal besteht ein Spannungsverhältnis zwischen ihren militärischen Komponenten (die hier kaum angesprochen werden konnten) und den politischen und reformorientierten Aspekten - häufig blockieren sich beide in der Realität gegenseitig. Zweitens bleiben politische und reformorientierte Ansätze oft blass und vage, während die militärischen spezifisch und konkret ausgeführt werden. Drittens sind sich viele militärische Analytiker bewusst, dass die zivilen Komponenten von Counterinsurgency zwar letztlich den Konflikt entscheiden, das Militär aber gerade hier über geringe Kompetenz verfügt. Viertens besteht zusätzlich eine beträchtliche Kluft zwischen den allgemeinen Strategien und der Realität militärischen Handelns vor Ort, wo sich sicherheitspolitische Erwägungen oft gegenüber den politischen Notwendigkeiten durchsetzen. Und fünftens hat die Strategie eine konzeptionelle Achillesferse: ihre Schlüsselelemente zielen fast immer auf die Unterstützung einer lokalen Regierung - wenn eine solche aber Teil des Problems ist (durch Repression, Inkompetenz, Korruption etc.) oder in Kontexten von failed states überhaupt nicht oder nur auf dem Papier existiert, fehlt vielen Aspekten der Counterinsurgency-Konzepte die Voraussetzung zum Erfolg. Gelegentlich wird auf dieses Problem auch in den einschlägigen Strategiepapieren hingewiesen: "In extremen Fällen finden sich die USA und andere Länder in einer Situation, in der sie - anstatt darauf aufzubauen, was vorhanden ist - erst einmal selbst Elemente wie Streitkräfte und Regierungsbehörden in der Gesellschaft schaffen müssen, zu deren Unterstützung sie entsandt wurden. Militärische Einheiten sind dann mit Nation-Building beschäftigt, während sie zugleich versuchen, einen Aufstand niederzuschlagen."
Eine solche Doppelaufgabe erweist sich sehr häufig als ungemein anspruchsvoll und wird in der Regel nur bei besonders günstigen innergesellschaftlichen Voraussetzungen gelingen. In Afghanistan und dem Irak zeigen sich die Probleme externer Aufstandsbekämpfung in Verbindung mit Nation-Building besonders deutlich. Obwohl die USA über ausgereifte - wenn auch problematische - Strategien zur Aufstandsbekämpfung verfügen, die aufgrund der neuen Erfahrungen in beiden Ländern auch kontinuierlich verfeinert werden, gelang bisher weder eine sicherheitspolitische Stabilisierung noch die stabile Etablierung funktionierender nationalstaatlicher Strukturen. Zwar darf man nicht übersehen, dass in beiden Ländern durchaus Teilerfolge beim Nation- und state-building erzielt wurden, aber zugleich gab es schwere Rückschläge. Fast fünf Jahre nach der Eroberung Afghanistans und trotz aller militärischen wie ziviler Bemühungen um Sicherheit und Staatsbildung ist die Sicherheitslage zunehmend schlecht, was auch die politische Zukunft des Landes unsicher werden lässt. Aus dem Irak wurde erst nach dem Krieg eine Brutstätte des Terrorismus, die Sicherheitslage ist dramatisch. Im Sommer 2006 - über drei Jahre nach dem offiziellen Kriegsende - starben allein in Bagdad monatlich schätzungsweise mehr als 1 500 Menschen an politischer Gewalt. Das Land steht am Rande eines Bürgerkrieges - trotz weiterhin rund 130 000 US-Soldaten im Irak, plus britischer und anderer Truppen. In beiden Ländern lässt sich studieren, dass Strategien für Aufstandsbekämpfung deren Erfolg nicht garantieren, nicht einmal nach militärisch siegreich geführten Kriegen. In beiden Fällen fehlt es nicht an Finanzmitteln, nicht an militärischem und zivilem Personal, am politischen Willen der externen Akteure und nicht an durchdachten allgemeinen Konzepten und Strategien für Aufstandsbekämpfung. In beiden Fällen waren die externen Aufstandsbekämpfer - insbesondere die USA und ihr Militär - zu Beginn der Operationen in einer militärisch, politisch und machtpolitisch extrem starken Position, da nach den beiden Kriegen die organisierten Hauptgegner militärisch geschlagen und zum Teil zerschlagen waren. Machtpolitische Alternativen zu den Besatzungstruppen gab es zu Beginn nicht. Deshalb drängt sich die Frage auf, wie trotz dieser scheinbar so günstigen Ausgangsbedingungen das Mischkonzept von Aufstandsbekämpfung und Nation-Building so große Umsetzungsschwierigkeiten haben konnte. Diese Frage ist auch deshalb bedeutsam, weil es sich hier um eine Einsatzform handelt, die in ähnlicher und anderer Form bei Operationen "Other than War" zukünftig immer wieder auftreten dürfte, da sie einen Kernbereich dessen abdeckt, was die NATO in ihrer Strategie als "Stabilisierung" und "Sicherheit" zum Kernbestand ihrer Aufgaben erklärt hat.
Lassen wir hier die Fehler der externen Akteure (schlechte Vorbereitung etc.) einmal außer Acht, die schon an anderer Stelle behandelt wurden,
Widersprüche und Zielkonflikte der externen Politik im Zielland.
In Afghanistan widersprechen z.B. die Ziele gesellschaftlicher Stabilisierung und der Bildung eines funktionierenden Nationalstaates nicht selten den Interessen an militärischer Sicherheit und der Kriegführung gegen die Reste der Taliban und von Al-Qaida. Auch wenn sich beides vom Schreibtisch aus als vereinbar darstellen mag, blockierten sie sich doch oft gegenseitig und wurden gar institutionell in der Doppelstruktur von ISAF und der Operation Enduring Freedom reproduziert. Die gegenwärtige bürokratische Lösung einer schrittweisen organisatorischen Integration beider bei inhaltlicher Akzentverschiebung in Richtung Kampfeinsatz löst dieses Problem nicht, dürfte mittelfristig die Probleme eher noch vertiefen. Ähnliche Zielkonflikte bestanden und bestehen im Irak, wo man zwischen dem Interesse an imperialer Kontrolle und der militärischen Sicherung der eigenen Truppenpräsenz einerseits und dem an demokratischer Staatsbildung unter local ownership andererseits hin und her pendelt. So haben die Besatzungstruppen die Ethnisierung der irakischen Politik, die sich heute als so gewaltträchtig erweist, nach dem Krieg selbst gefördert, weil ihnen nur so die Aufgaben der Sicherheit und einer Machtübergabe erreichbar schienen. Fehlende oder schwache Partner im Zielland. Aufstandsbekämpfung und demokratisches Nation-Building können offensichtlich zwar von außen unterstützt, aber nicht von externen Akteuren getragen werden. Die US-amerikanischen Counterinsurgency-Experten sind sich dieser Problematik zwar im Kern bewusst, was aber nichts daran ändert, dass eine tragfähige soziale Basis für entsprechende Politik vor Ort oft fehlt. In Afghanistan war und ist nicht erkennbar, welche relevanten Sektoren der afghanischen Gesellschaft eigentlich einen demokratischen Staatsbildungsprozess tragen sollen, der von außen unterstützt werden könnte: Die lokalen Warlords kommen ebenso wenig in Frage wie die frühere Nordallianz, die Taliban oder die Mehrheit der Landbevölkerung, die weiter in extrem konservativen und patriarchalischen lokalen Machtstrukturen gefangen ist. Eine zahlenmäßig starke, wirtschaftlich und politisch selbstbewusste Mittelschicht - eine potenzielle Basis für demokratische Staatsbildung - existiert weiterhin nicht, so dass die Staatsbildung im Land selbst nur durch die Staatsbeamten und eine sehr kleine Schicht gebildeter Exilrückkehrer getragen wird. Das ist erkennbar zu wenig, um einen von innen gestützten, selbsttragenden Demokratisierungsschub zu entwickeln. Auch im Irak sieht es nur wenig besser aus. Dort können sich die USA vor allem auf die beiden säkularen kurdischen Parteien stützen, während sie im Rest des Landes inzwischen im besten Fall als notwendiges Übel toleriert werden. Und die kurdischen Parteien haben nur ein taktisches Interesse an irakischer Staatsbildung, da sie nach dem Krieg vor allem an einer kurdischen Eigenstaatlichkeit interessiert sind.
Die NATO und ihre Mitgliedsländer haben durch ihre Strategie von 1999 und ihre Einsätze seit Beginn der 1990er Jahren (insbesondere aber seit Afghanistan) die Tür zu unkonventionellen Einsatzformen geöffnet, die in sehr unterschiedlichen Kontexten und unter sehr unterschiedlichen Bezeichnungen Elemente von Counterinsurgeny und Nation-Building enthalten. Dies gilt für uni- wie multilaterale Einsätze und solche im organisatorischen Rahmen der NATO. Nicht alle der aktuellen und zukünftigen Operationen werden so dramatisch verlaufen wie die im Irak und Afghanistan, aber sie werden zahlreichen der dort zu beobachtenden Probleme in anderer, milderer oder ähnlicher Form wieder begegnen. Sollten sich die NATO oder ihre Mitgliedsländer weiter in entsprechende Situationen begeben, ohne dass die grundlegenden Voraussetzungen für einen Erfolg bestehen (kohärente Politikziele, eine seriöse politische Gesamtstrategie und vor allen eine tragfähige soziale Basis im Zielland), dürften solche Operationen langfristig Konflikte eher verschärfen und das Gewaltniveau der betroffenen Länder noch heben. Das liegt weder im Interesse dieser noch in der Regel der intervenierenden Länder.
Im Irak sind die Folgen einer solchen Politik heute zu beobachten. Deshalb ist es von hoher Bedeutung, dass die NATO-Mitgliedsländer, soweit sie keine imperialen Interessen verfolgen, sondern an konstruktiver Konfliktbearbeitung interessiert sind, erstens eigene Strategien und Konzepte entwickeln, die kohärent, wirksam und konfliktbearbeitend sind, anstatt schrittweise US-amerikanische Counterinsurgency-Strategien zu übernehmen. Dabei lässt sich an solche Konzepte durchaus punktuell anknüpfen. Es käme aber darauf an, ihre politischen und sozioökonomischen Lösungsansätze tatsächlich ins Zentrum der eigenen Politik zu rücken, anstatt sie zu bloßen Instrumenten militärischer Operationen werden zu lassen. Zweitens müssen die NATO-Länder vor entsprechenden Einsätzen ernsthaft und systematisch prüfen, ob im Zielland der Operation überhaupt die grundlegenden inneren Voraussetzungen für einen Erfolg bestehen. Wo sie fehlen, sind Truppeneinsätze nicht verantwortbar, weder für ein fragiles Zielland noch für die Soldaten.
Die NATO ist Ende der 1990er Jahre der Versuchung erlegen, ihre Existenzberechtigung mit einem bunten Katalog von möglichen und wünschbaren Zielen und Absichten nachweisen zu wollen. Eine "Strategie" ist so etwas nicht. Eine solche würde gerade darin bestehen, die Ziele stärker zu gewichten, sie mit den Mitteln in eine konkrete Beziehung zu setzen und zu formulieren, wie man unter Einsatz der Mittel die Ziele zu erreichen gedenkt. Deshalb stehen die NATO und viele Mitgliedsländer vor der Wahl, entweder durch wohlklingende Formulierungen den Mangel weiter zu verbergen, anderswo fertige Konzepte und Strategien von der Stange zu übernehmen - oder sich endlich der Mühe zu unterziehen, für die laufenden und zukünftigen Einsätze seriöse und kreative konzeptionelle Arbeit zu leisten.