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Die nukleare Nichtverbreitungspolitik in der Krise

Oliver Thränert

/ 17 Minuten zu lesen

Die nukleare Nichtverbreitungspolitik befindet sich in einer Krise. Sollte sie nicht gelöst werden, können immer mehr Staaten oder sogar nicht-staatliche Akteure Kernwaffen erwerben.

Einleitung

Seit dem Beginn des Atomzeitalters besteht die Gefahr, dass Kernwaffen in die Hände von immer mehr Staaten oder sogar nichtstaatlichen Akteuren gelangen. Dies würde - so wurde schon bald befürchtet - globale Instabilität verursachen und früher oder später zu einem Atomkrieg führen. Um dieser Gefahr zu begegnen, wurde Ende der sechziger Jahre der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) oder Atomwaffensperrvertrag verhandelt, der 1970 in Kraft trat.

Das Abkommen erkennt fünf Staaten als Kernwaffenmächte an: die USA, die Sowjetunion bzw. Russland, Frankreich, Großbritannien und China. Nur wenige Staaten verfügen außerhalb des Vertrages über Atomwaffen. Indien und Pakistan haben durch Nuklearexplosionen ihre Fähigkeiten demonstriert. Israel besitzt nach allgemeiner Auffassung ebenfalls Kernwaffen, hat sich dazu offiziell aber nie bekannt. Nordkorea hat erklärt, über Kernsprengsätze zu verfügen, doch bestehen hier große Unsicherheiten.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts könnte sich diese relativ stabile Situation schon bald dramatisch ändern. Denn das internationale Regime zur Verhinderung der Verbreitung von Nuklearwaffen steckt in einer tiefen Krise. Das Nutzenkalkül mancher Nichtkernwaffenstaaten, die im Ausgleich für ihren Atomwaffenverzicht nukleare Abrüstung der Kernwaffenmächte und Zugang zur zivilen Kerntechnik erwarten, gerät aus der Balance. Einige dieser Länder könnten das Vertragsregime verlassen, falls sich in ihrer Region neue Atommächte etablierten. Sollte die Krise nicht überwunden werden, könnten daher immer mehr Staaten diejenige Waffe erwerben, mit der die Menschheit die bislang größte Zerstörungswirkung entwickelt hat. Damit wäre auch die internationale Ordnung gefährdet. Denn neue Kernwaffenstaaten könnten versucht sein, regionale Konstellationen in Frage zu stellen. Auf jeden Fall ist das Funktionieren der nuklearen Abschreckung, wie wir sie aus dem Kalten Krieg kannten, kein immerwährendes Naturgesetz. Eher ist es wahrscheinlich, dass in einer Welt mit immer mehr Atommächten diese Waffen irgendwann eingesetzt werden. Ob die internationale Staatengemeinschaft danach erneut wie seit 1945 jahrzehntelang ein nukleares Tabu beachten würde, ist fraglich. Schließlich bedeuten mehr Kernwaffenstaaten auch eine größere Gefahr unautorisierten Zugangs zu Waffen und waffenfähigem Material. Terrorgruppen, die über Kernwaffen verfügen, würden von deren Einsatz wohl kaum abgehalten werden können.

Der Atomwaffensperrvertrag

Neben dem zentralen Ziel der nuklearen Nichtverbreitung basiert der Atomwaffensperrvertrag auf zwei weiteren Säulen: dem nuklearen Abrüstungsversprechen der durch den Vertrag anerkannten fünf Kernwaffenmächte sowie der Zusage der internationalen Kooperation bei der zivilen Nutzung der Kernenergie für alle Vertragsparteien. Durch die Konstituierung der nuklearen Nichtverbreitungsnorm wurden die politischen Kosten eines Kernwaffenbesitzes erhöht. Die zivile Nutzung der Kernenergie hätte ohne den Vertrag und die damit verknüpfte Transparenz durch Inspektionen, die sichtbar machten, dass zivile Nuklearprogramme nicht zu militärischen Zwecken missbraucht wurden, zu enormem internationalen Misstrauen geführt. Außerdem ermöglichte es der NVV mit seinen durch die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) ausgeübten Verifikationsmaßnahmen, dass Staaten wie Südafrika oder zuletzt auch Libyen international überprüfbar und damit glaubwürdig auf nukleare Optionen wieder verzichteten.

Als problematisch erwies sich schon früh die diskriminierende Anlage des Vertragswerkes, die zwischen anerkannten Kernwaffenmächten einerseits und Nichtkernwaffenstaaten andererseits unterschied. Das Spannungsverhältnis zwischen den drei Säulen "Nichtverbreitung - Nukleare Abrüstung - Zivile Nuklearkooperation" führte zu häufigen Kontroversen. Sie haben sich in den vergangenen Jahren massiv verschärft. Dies wurde durch die gescheiterte NVV-Überprüfungskonferenz 2005 sichtbar. Angesichts tatsächlicher oder noch nicht abschließend nachgewiesener Vertragsverstöße durch Nordkorea und den Iran und alarmiert durch die Existenz des pakistanischen Khan-Netzwerkes, das illegal Staaten bei ihren Kernwaffenprogrammen unterstützte, pochen vor allem die USA, aber auch viele andere Staaten auf die Einhaltung der Nichtverbreitungsnorm. Andererseits fordern Nichtkernwaffenstaaten das nukleare Abrüstungsversprechen der Kernwaffenmächte ein. Auf ihr Missfallen stößt ebenfalls die geplante Zusammenarbeit bei der zivilen Nutzung der Kernenergie mit Indien, das dem NVV nie beitrat. Schließlich ist umstritten, wie der Zugang zu zivil nutzbarer Nukleartechnologie künftig gehandhabt werden soll, wenn diese zugleich auch den Bau von Atomwaffen ermöglicht.

Vertragseinhaltung durch die Nichtkernwaffenstaaten

Das zentrale Problem aller Bemühungen um nukleare Nichtverbreitung ist, dass immer wieder Staaten ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Trotz illegale Kernwaffenprogramme betreiben. Dies galt beispielsweise für Saddam Hussein. Unter ihm strebte der Irak in den siebziger und achtziger Jahren nach Atomwaffen. Hätte der irakische Herrscher nicht 1990 den Nachbarn Kuwait überfallen und damit eine internationale Militäroperation zur Wiederherstellung der internationalen Ordnung provoziert, wäre Irak vermutlich etwa 1993 Kernwaffenbesitzer geworden. Erst die umfassenden Inspektionen der IAEO, die nach Beendigung des Golf-Krieges 1991 möglich wurden, deckten den vollen Umfang des irakischen Kernwaffenprogramms auf.

Auch Libyens Herrscher Muammar Ghaddafi strebte nach atomarer Bewaffnung. Zu diesem Zweck arbeitete er mit dem pakistanischen Khan-Netzwerk zusammen. Tripolis erhielt sogar Konstruktionspläne für Nuklearsprengköpfe. Nach geheim gehaltenen Verhandlungen mit den USA und Großbritannien verzichtete Libyen Ende 2003 auf sein Kernwaffenprogramm.

Für die größte internationale Aufmerksamkeit sorgen derzeit die Atomprogramme Nordkoreas und des Iran. Pjöngjang war von seinem damaligen Verbündeten Sowjetunion 1985 gedrängt worden, dem NVV beizutreten. Die nordkoreanischen Herrscher hatten offenbar jedoch nie wirklich vor, auf ihr Kernwaffenprogramm zu verzichten. Als im Zuge von Inspektionen berechtigte Zweifel an der Vertragstreue Pjöngjangs aufkamen, lehnte Nordkorea weiterführende Untersuchungen ab und erklärte sogar seinen Austritt aus dem NVV. Diese akute Krise konnte zwar 1994 zunächst überwunden werden - Nordkorea stellte seinen NVV-Austritt zurück, fror sein Atomprogramm ein und erhielt im Gegenzug wirtschaftliche Unterstützung -, nachhaltig gelöst wurde das Problem aber nicht. Im Jahre 2002 gab Nordkorea - amerikanischen Angaben zufolge - zu, die Vereinbarungen von 1994 mit einem geheimen Urananreicherungsprojekt umgangen zu haben. Auch dabei hatte das Khan-Netzwerk, wie im Falle Libyens, geholfen. Im Januar 2003 erklärte Pjöngjang erneut seinen Austritt aus dem NVV. Zwei Jahre später, im Februar 2005, gab das stalinistische Regime sogar bekannt, es verfüge bereits über Atomwaffen. Diplomatische Bemühungen unter Beteiligung der USA, Chinas, Japans, Russlands und Südkoreas mit dem Ziel der Beendigung des nordkoreanischen Atomwaffenprogramms führten bislang zu keinen greifbaren Ergebnissen.

Iran war dem NVV noch unter dem Schah beigetreten. Sein damals begonnenes Atomprogramm verfolgte aber nicht nur zivile Absichten. Nach dem Sturz des Schahs wurde das Nuklearprojekt zunächst eingestellt. Doch schon bald begann das neue islamistische Regime - ebenfalls unter Mithilfe des Khan-Netzwerkes -, einen vollständigen nuklearen Brennstoffkreislauf anzustreben. Die dafür erforderlichen, im Bau befindlichen Urananreicherungsanlagen, die offiziell nur zivil genutzt werden sollen, können jedoch leicht militärisch zweckentfremdet werden.

Iran ist über viele Jahre seinen Meldepflichten der IAEO gegenüber nicht nachgekommen. Daher hat die Wiener Behörde bis heute kein umfassendes Bild über das iranische Atomprogramm. Vor diesem Hintergrund forderten zunächst die EU-3, also Frankreich, Großbritannien und Deutschland, Teheran dazu auf, das selbst verspielte internationale Vertrauen wieder herzustellen. Bis dies der Fall wäre, müsste der Iran auf dieFortsetzung des Urananreicherungsprogramms verzichten. Im Ausgleich sollte Iran wirtschaftliche Vergünstigungen, darunter auch Unterstützung bei der ausschließlich zivilen Nutzung der Kernenergie, erhalten. Dieser Politik schlossen sich auch die USA, Russland und China an. Am 31. Juli 2006 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1696,welche die Einstellung aller Aktivitäten in Iran, die zu einem vollständigen nuklearen Brennstoffkreislauf führen würden, völkerrechtlich verbindlich anordnete. Doch Teheran kam dieser Forderung bis zur vom Sicherheitsrat festgelegten Frist am 31.August 2006 nicht nach. Die iranische Atomkrise harrt also weiterhin einer Lösung.

Wie die Geschichte der libyschen, iranischen und nordkoreanischen Atomprogramme zeigt, waren diese Projekte sehr eng mit dem Beschaffungsnetzwerk des Pakistaners Abdul Q. Khan verknüpft. Die Existenz dieses Händlerringes zum illegalen Vertrieb von Bestandteilen nuklearer Programme stellt eine neue Qualität dar. Erstmals haben global auftretende, private Akteure aus Profitinteresse Staaten bei Atomwaffenprogrammen unterstützt. Zwar wurde Khan inzwischen in Pakistan unter Hausarrest gestellt, doch ist fraglich, ob sein Netzwerk zerstört wurde. Auch ist es durchaus möglich, wenn nicht wahrscheinlich, dass andere Personen seine Vorhaben kopieren werden.

Um illegale Kernwaffenprogramme zu verhindern, sind effektive Überprüfungsmaßnahmen erforderlich. Sie erwiesen sich in der Vergangenheit oft als nicht ausreichend. Im Irak fanden in den achtziger Jahren IAEO-Inspektionen statt, ohne einen Hinweis auf ein dortiges Nuklearwaffenprogramm zu geben, da dieses keinerlei Berührungspunkte mit den gemeldeten Nuklearaktivitäten hatte.Ähnlich erging es der IAEO später in Iran. Dort für Urananreicherungsexperimente genutzte Einrichtungen waren nicht gemeldet und somit auch nicht von der IAEO inspiziert worden. In Libyen schließlich hatten IAEO-Inspektoren Zugang zu einem gemeldeten Forschungsreaktor, nicht aber zu den nicht gemeldeten Einrichtungen, in denen Gaszentrifugen als Teil des libyschen Kernwaffenprogramms für die Urananreicherung vorbereitet worden waren.

Um die Verifikationsmöglichkeiten zu verbessern, hat die IAEO inzwischen ein Zusatzprotokoll zu den bisherigen Sicherungsabkommen angenommen. Diese modernen Verifikationsregeln basieren auf zwei Säulen: mehr Information und mehr Zugang. Mit Hilfe der erweiterten Informationspflicht sollen möglichst alle Aktivitäten in den Blick genommen werden, die mit dem Brennstoffkreislauf in Verbindung stehen. Künftig soll es nicht mehr möglich sein, dass militärische Programme, die parallel zu zivilen Projekten durchgeführt werden, unentdeckt bleiben. Um die Vollständigkeit und Korrektheit der Meldungen überprüfen zu können, wurden die Zugangsrechte der IAEO-Inspektoren wesentlich erweitert. Die Inspektoren können jetzt an jedem beliebigen Ort - also auch außerhalb gemeldeter Einrichtungen - Umweltproben nehmen.

Leider haben sich bisher weniger als die Hälfte der NVV-Vertragsstaaten dazu entschlossen, die modernen Verifikationsregeln in Kraft zu setzen. Abseits bleiben wichtige Länder wie Brasilien und Argentinien, Ägypten, Algerien und Syrien. Iran hatte sich im Zuge der Verhandlungen mit den EU-3 zunächst an die modernen Verifikationsregeln gehalten. Nachdem das Iran-Dossier an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen weitergeleitet wurde, schränkte Teheran die Kooperation mit den Inspektoren jedoch wieder drastisch ein. Es sind vornehmlich zwei Argumente, die von der Verweigerungsfront immer wieder vorgetragen werden: Einmal greife das Protokoll zu sehr in nationale Souveränitätsrechte ein; zum anderen sei nicht einzusehen, warum solche weitgehenden Verifikationsmaßnahmen akzeptiert werden sollten, solange die Kernwaffenstaaten ihren Abrüstungsverpflichtungen nicht nachkämen.

Vertragseinhaltung durch die Kernwaffenstaaten

Das Versprechen der durch den NVV als Kernwaffenstaaten legitimierten Mächte, diese Waffen abzurüsten, bildet die zweite Säule des Abkommens. Im Vertragstext blieb diese Vereinbarung vage. In Artikel VI heißt es, Verhandlungen mit dem Ziel der Beendigung des nuklearen Rüstungswettlaufes und der nuklearen Abrüstung sollten so früh wie möglich in guter Absicht geführt werden. Trotz dieser wenig konkreten Formulierungen gingen viele Nichtkernwaffenstaaten bei ihrer Vertragsunterschrift davon aus, dass die Unterscheidung in Kernwaffenstaaten und Nichtkernwaffenstaaten nicht in alle Ewigkeit fortgeschrieben, sondern eines Tages durch die vollständige nukleare Abrüstung aufgehoben würde. Vermutlich gab es bisher aber nur einen obersten politischen Entscheidungsträger in einem Kernwaffenstaat, der dieses Ziel wirklich ernst nahm: Ronald Reagan. Dieser oft als "Kalter Krieger" beschriebene amerikanische Präsident wollte Nuklearwaffen durch den Aufbau eines Raketenschutzschildes im Weltraum obsolet machen.

Der NVV-Überprüfungskonferenz des Jahres 2000 gelang hinsichtlich der nuklearen Abrüstung ein großer Fortschritt. Sie konkretisierte die Umsetzung von Artikel VI des NVV und formulierte 13 Schritte der nuklearen Abrüstung. Diese betrafen Aktivitäten wie das möglichst frühzeitige Inkrafttreten des 1996 fertiggestellten nuklearen Teststoppabkommens oder Verhandlungen über einen "Cut-Off", also der Beendigung der Produktion spaltbaren Materials zu Waffenzwecken. Leider konnte dieser Prozess während der folgenden NVV-Überprüfungskonferenz 2005 nicht fortgesetzt werden. Vielmehr schieden sich die Geister diesmal in der Abrüstungsfrage deutlich. Um den Kritikern entgegenzutreten, bemühten sich die USA und Russland zwar, die bereits erreichten Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung zu erläutern. Dabei stand der im Mai 2002 unterzeichnete Moskauer Vertrag über nukleare Reduzierungen im Vordergrund. Doch der Unwille der USA und anderer Kernwaffenmächte, darunter auch Frankreich, die dreizehn Schritte inden Überprüfungsprozess einzubeziehen, stieß auf herbe Kritik. Zudem zog sich die Bush-Administration den Zorn vieler Nichtkernwaffenstaaten zu, da sie ihre Abkehr von den dreizehn Schritten offen eingestand. So zeigte sich Washington nicht bereit, das Projekt des vom US-Senat im Oktober 1999 abgelehnten nuklearen Teststoppabkommens weiter zu verfolgen und erneut zur Ratifikation vorzulegen. Dies alles führte dazu, dass das vierwöchige Zusammentreffen über die Behandlung prozeduraler Fragen kaum hinaus kam.

Außerdem verursacht die amerikanische Verteidigungspolitik viele Irritationen und rief Kritik hervor. Die Wahrnehmung der amerikanischen nationalen Sicherheitsstrategie und mehr noch der Überprüfung der Nukleardoktrin ("Nuclear Posture Review") spielen dabei eine wichtige Rolle. Tatsächlich machen die USA darin deutlich, dass Kernwaffen weiterhin einen zentralen Stellenwert in ihrer nationalen Verteidigungsstrategie einnehmen. Aber auch andere Kernwaffenmächte kommen den Erwartungen der Nichtkernwaffenstaaten nicht nach. Russland wird bis auf weiteres daran festhalten, seine strategischen Nuklearstreitkräfte als Symbol der - in Wirklichkeit schon lange nicht mehr gegebenen - strategischen Gleichrangigkeit mit den USA anzusehen. Präsident Wladimir Putin hat die Entwicklung einer neuen strategischen Kernwaffe angekündigt. Auch China modernisiert und erweitert seine Nuklearstreitmacht. Frankreichs Präsident Jacques Chirac drohte in einer Aufsehen erregenden Rede im Januar 2006 Staaten, die den Einsatz von Massenvernichtungswaffen in Erwägung zögen oder vitale französische Interessen bedrohten, mit einem atomaren Gegenschlag. Schließlich wird Großbritannien seine auf U-Booten stationierten Atomraketen modernisieren. Dies alles muss auf diejenigen Länder, die selbst auf Kernwaffen verzichteten und nach Ende des Kalten Krieges Hoffnungen auf eine weit reichende nukleare Abrüstung hegten, deprimierend wirken.

Es stellt sich somit die Frage, ob der NVV in einer Welt, in der es nach wie vor Nuklearwaffenarsenale gibt, die von ihren Besitzern als essenziell für ihre nationale Sicherheit angesehen werden, langfristig überlebensfähig ist. Die von den Nichtkernwaffenstaaten bei ihrem NVV-Beitritt erwartete vollständige nukleare Abrüstung ist jedenfalls nicht zu erwarten. Jedoch darf nicht übersehen werden, dass das Abrüstungsargument von einigen Nichtkernwaffenstaaten nur vorgeschoben wird. Entscheidungen über Nuklearprogramme in einigen dieser Länder wie beispielsweise Iran dürften weniger mit dem Abrüstungsverhalten der Kernwaffenstaaten als mit Fragen der jeweiligen nationalen Strategien zusammenhängen.

Vertragszugehörigkeit

Diejenigen Staaten, die durch den Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag auf die Option des Kernwaffenbesitzes verzichteten, taten dies in der Erwartung, dass möglichst alle anderen Staaten es ihnen gleichtäten. Diese Erwartung wurde nahezu erfüllt. Lediglich drei Staaten bleiben abseits: Israel, Indien und Pakistan. Dass diese drei jedoch über Kernwaffen verfügen, stellt für das Abkommen eine schwere Belastung dar. Denn diejenigen Länder, die dem NVV als Nichtkernwaffenstaaten beitraten, hatten keineswegs an die Tolerierung von Kernwaffenstaaten außerhalb des NVV gedacht.

Die Option, Indien, Pakistan und Israel als weitere anerkannte Kernwaffenstaaten nach dem NVV zu akzeptieren, ist nicht praktikabel. Dies würde eine Änderung des Artikels IX voraussetzen, der Kernwaffenmächte als solche Staaten definiert, die vor dem 1. Januar 1967 eine Kernwaffe oder einen sonstigen Nuklearsprengkörper zündeten. Eine Änderung dieser Bestimmung kann nur im Konsens der Vertragsstaaten erreicht werden, was nahezu unmöglich erscheint. Besonders die amerikanische Bereitschaft, mit Indien die Zusammenarbeit bei der zivilen Nutzung der Kernenergie zu suchen, erscheint problematisch. Damit verlässt Washington den bis dahin geltenden internationalen Konsens, mit Nichtmitgliedern des Atomwaffensperrvertrages keinerlei nuklearen Handel zu treiben.

Doch zunächst müssen drei wichtige Schritte erfolgen, um das Abkommen in die Realität umzusetzen.

Erstens muss Indien eine Vereinbarung mitder internationalen Atomenergiebehörde über die künftige Durchführung von Inspektionen in als zivil deklarierten Atomanlagen schließen. Zweitens muss der US-Kongress dem Abkommen zustimmen. Damit ist zwar zu rechnen. Offen ist aber, wann dies geschehen wird, und ob die Senatoren und Abgeordneten ein Nachbessern der Vereinbarung fordern. Drittens muss die "Gruppe der nuklearen Lieferländer" (NSG), ein Zusammenschluss von 45 Staaten zur Kontrolle des Handels mit Atomtechnologie, entscheiden, wie sie Indien in Zukunft behandeln möchte. Nach den derzeitigen Regeln der Gruppe ist Indien von jeglicher Nuklearkooperation ausgeschlossen, da es keine umfassenden Inspektionen der IAEO zulässt. Die USA haben vorgeschlagen, für den Atomwaffenbesitzer Indien einen gesonderten Status zu vereinbaren. Lieferungen von Kernkraftwerken und anderer ziviler Nukleartechnologie sollen unter bestimmten Bedingungen zugelassen werden. In Europa hat diese Entwicklung ein gespaltenes Echo gefunden. Während Frankreich und Großbritannien den amerikanischen Überlegungen aufgeschlossengegenüberstehen, bleiben andere EU-Mitgliedsländer skeptisch. Sie fürchten negative Auswirkungen auf das nukleare Nichtverbreitungsregime.

Da Indien dem amerikanischen Begehren nach Beendigung seiner Produktion von Plutonium und hoch angereichertem Uran für Waffenzwecke nicht nachgegeben hat, befürchten Kritiker, Indien könnte den Import von Uran für die Verwendung in Kernkraftwerken nutzen, um die ihm zur Verfügung stehenden Kapazitäten vermehrt für den Bau von Nuklearwaffen einzusetzen. Außerdem hatten die Nichtkernwaffenstaaten laut Atomwaffensperrvertrag die Kooperation der Vertragsstaaten bei der zivilen Nutzung der Kernenergie als Preis für ihren Atomwaffenverzicht zugestanden bekommen. Nun soll Indien beides erhalten: praktische Anerkennung als Nuklearmacht außerhalb des Vertrages und Zugang zu ziviler Kerntechnik.

Allerdings würde Delhi durch die geplante Nuklearkooperation wenigstens schrittweise an das nukleare Nichtverbreitungsregime herangeführt. Nach derzeitigem Stand könnte die IAEO ab dem Jahr 2014 in 14 von 22 Atomanlagen Inspektionen durchführen. Außerdem wird laut den amerikanischen Vorschlägen von Indien eine Fortsetzung seines seit 1998 geltenden Moratoriums für Kernwaffentests verlangt. Darüber hinaus soll Indien aktiv in anderen Nichtverbreitungsregimen mitwirken, bei denen es um die Angleichung und Durchsetzung von Exportkontrollen geht.

Zivile Nutzung

Artikel IV des NVV spricht allen Vertragsstaaten weitgehende Rechte hinsichtlich der zivilen Nutzung der Kernenergie zu. Heute scheint es jedoch geboten, die zivile Nutzung der Kernenergie differenzierter zu betrachten. Der Betrieb von Leichtwasserreaktoren ist relativ unproblematisch. Solange ein Land unter IAEO-Kontrolle steht, kann aus Leichtwasserreaktoren kein Plutonium heimlich abgezweigt werden. Im Falle einer Kündigung der entsprechenden Verpflichtungen ist dies prinzipiell möglich, doch wäre es sehr aufwändig. Dagegen erhöht sich das Proliferationsrisiko beispielsweise drastisch, wenn ein Land außerdem selbst Uran fördert (oder importiert) und in eigenen Anlagen aufbereitet sowie für die Herstellung von Brennelementen, also zu zivilen Zwecken, anreichert. Für Brennstäbe wird Uran benötigt, das zu etwa drei bis fünf Prozent angereichert ist, während für Atombomben ein Anreicherungsgrad von mindestens 80 Prozent erforderlich ist. Ohne nennenswerte technische Umstellungen können beide Ziele mit im Prinzip baugleichen Urananreichungsanlagen verfolgt werden. Der Zugang zu hoch angereichertem Uran ist die entscheidende Hürde, die ein Staat nehmen muss, der eine Atomwaffe auf Uranbasis entwickeln will.

In einer Rede vom 11. Februar 2004 hat der amerikanische Präsident George W. Bush vorgeschlagen, den Zugang sowohl zur Urananreicherungstechnologie als auch zur Wiederaufbereitungstechnologie (damit kann Plutonium aus abgebrannten Brennstäben abgezweigt werden) zu beschränken. Die in der Welt führenden Nuklearexporteure sollten dafür sorgen, dass diejenigen Länder, die Reaktoren zu zivilen Zwecken betreiben wollen, gesicherten Zugang zu nuklearem Brennstoff haben, solange sie auf den Betrieb von Anreicherungs- und Wiederaufbereitungsanlagen verzichten.

Auf den ersten Blick könnte einiges für die Bush-Vorschläge sprechen. Die meisten Staaten haben selbst kein Interesse an der Entwicklung von Atomwaffen und sind an effektiven Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung dieser Waffen interessiert. Sie müssten außerdem den gesicherten Zugang zu nuklearem Brennstoff begrüßen. Dennoch dürfte der von Präsident Bush vorgeschlagenen Politikstrategie kaum Erfolg beschieden sein. Denn würde im Zuge der Verwirklichung der Bush-Vorschläge nach dem Klub der fünf anerkannten Kernwaffenmächte auch ein Kreis von Staaten eröffnet werden, die einzig das Recht hätten, Uran anzureichern, würde dies die ohnehin schon durch den NVV festgelegten Diskriminierungen verdoppeln.

Doch gibt es noch einen anderen möglichen Weg, um den militärischen Missbrauch von Urananreicherungsanlagen zu verhindern: Sie müssten internationalisiert werden. In diese Richtung argumentiert der IAEO-Direktor Mohammed El-Baradei. Kern der Baradei-Vorschläge ist es, eine Reihe regionaler Zentren für die Urananreicherung zu schaffen. Sie würden interessierte Staaten mit niedrig angereichertem Uran für den Betrieb von Kernreaktoren versorgen. Auch könnte die IAEO eine Reserve an niedrig angereichertem Uran verwalten und so den Zugang für die zivile Nutzung garantieren.

Diese Überlegungen bedürfen allerdings noch eingehender Diskussion. So ist unklar, ob diejenigen Länder, die Uran zu zivilen Zwecken anreichern und das Produkt gewinnbringend exportieren, auf diese nationale Einnahmequelle zugunsten einer Beteiligung an einem multinationalen Consortium verzichten würden. Darüber hinaus würde die Internationalisierung der Urananreicherung möglicherweise zu einer Weiterverbreitung des Wissens um diese Technologie auch für Waffenzwecke führen. Und genau dies soll ja verhindert werden. Schließlich setzte die internationale Kooperation auf einem so sensiblen Gebiet wie dem der Urananreicherung ein hohes Maß an Vertrauen voraus. Ansätze der multinationalen, auf Regionen bezogenen Kooperation bei der Urananreicherung dürften also bis auf Weiteres gerade dort an der mangelnden Vertrauensgrundlage scheitern, wo wegen regionaler Konflikte die Verbreitung von Kernwaffen droht.

Der nukleare Nichtverbreitungsvertrag befindet sich in einer tiefen Krise. Ein Ende des NVV hätte unabsehbare Folgen. Ohne nukleare Nichtverbreitungsnorm würde sich möglicherweise eine Reihe von Staaten entscheiden, Kernwaffen zu bauen. Die zu vermutende Folge wäre internationale Instabilität, ja vielleicht sogar eines Tages der Einsatz von Atomwaffen. Auf jeden Fall würde gerade zu einem Zeitpunkt, zu dem immer mehr Länder mit der zivilen Nutzung der Kernenergie liebäugeln, diejenige Transparenz verloren gehen, welche die IAEO-Inspektionen derzeit gewährleisten. Eine politische Alternative zu multilateraler Rüstungskontrolle im Allgemeinen und dem NVV im Besonderen existiert nicht. Deutschland sollte sich daher gemeinsam mit seinen europäischen Partnern auch weiterhin darauf konzentrieren, das Abkommen zu erhalten und zu stärken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Harald Müller, Nichtverbreitung: Regime kaputt, in: Internationale Politik (IP), (2006) 8, S. 16 - 23.

  2. Im Juli 2006 glaubten 85 Prozent der Bundesbürger, dass durch die weitere Ausbreitung des Kernwaffenbesitzes eine ernste Gefahr für den Weltfrieden bestehe. Vgl. IP, (2006) 8, S. 5.

  3. Vgl. Hans Rühle, Mit Blindheit geschlagen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 14. 11. 2004, S. 13.

  4. Vgl. Judith Miller, How Gadhafi Lost His Groove, in: The Wall Street Journal vom 16. 5. 2006, S. A14; dies., Gadhafi's Leap of Faith, in: The Wall Street Journal vom 17. 5. 2006, S. A 18.

  5. Vgl. Herbert Wulf, Nordkoreas Griff zur Bombe, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, Studie 14, Berlin 2006.

  6. Vgl. Oliver Thränert, Das iranische Atomprogramm, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (2005) 48, S. 10 - 15; ders., Das große internationale Iran-Puzzle, in: IP, (2006) 8, S. 28 - 35.

  7. Vgl. Sebastian Harnisch, Das Proliferationsnetzwerk um A. Q. Khan, in: APuZ, (2005) 48, S. 24 - 30.

  8. Vgl. Wolfgang Fischer, Nuclear Non-Proliferation and Safeguards: From INFCIRC/153 to INFCIRC/540 and Beyond, in: Erwin Häckel/Gotthard Stein (Eds.), Tightening the Reins. Towards a Strengthened International Nuclear Safeguards System, Berlin u.a. 2000, S. 9 - 21.

  9. Vgl. IAEA Board of Governors, Implementation of the NPT Safeguards Agreement in the Islamic Republic of Iran, Resolution adopted by the Board on 26.11. 2003.

  10. Vgl. Hans-Christian Rößler, Der "tollwütige Hund" nimmt Vernunft an, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 12. 2003, S. 2.

  11. Das Protokoll wurde vom IAEO-Gouverneursrat am 15. Mai 1997 einstimmig angenommen und von der IAEO als INFCIRC/540 veröffentlicht. Es ergänzt für diejenigen Staaten, die es in Kraft setzen, das alte Sicherungsabkommen INFCIRC/153. In deutscher Sprache ist das Dokument im Bundesgesetzblatt Nr. 4 vom 7. 2. 2000 erschienen.

  12. Kernpunkt dieses Rahmenabkommens sind Bestimmungen, wonach keine der beiden Seiten am 31.12. 2012 über mehr als je 1 700 bis 2 200 stationierte strategische nukleare Sprengköpfe verfügen darf. Jede Seite ist völlig frei, die Zusammensetzung ihrer verbleibenden strategischen Nuklearstreitkräfte zu bestimmen.

  13. Vgl. Harald Müller, Vertrag im Zerfall? Die gescheiterte Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages und ihre Folgen, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Report Nr. 4, Frankfurt/M. 2005.

  14. Vgl. Paul Webster, Just like old times, in: Bulletin of the Atomic Scientists, (July/August 2003), S. 31 - 35; Rose Gottemoeller, Nuclear Necessity in Putin's Russia, in: Arms Control Today, (April 2004), S. 7 - 11.

  15. Vgl. Chinese Nuclear Forces, 2001, in: Bulletin of the Atomic Scientists, (October/November 2001), S. 71 - 72.

  16. Vgl. Rede von Staatspräsident Jacques Chirac vor den strategischen Luft- und Seestreitkräften in Lille Longue (Auszüge), 19. 1. 2006, Frankreich-Info vom 23. 1. 2006.

  17. Vgl. Wolfgang Koydl, Großbritannien plant Modernisierung seiner Atomwaffen, in: Süddeutsche Zeitung vom 23. 6. 2006, S. 8.

  18. Vgl. Michael A. Levi/Charles D. Ferguson, U.S.-India Nuclear Cooperation. A Strategy for Moving Forward, Council on Foreign Relations Report Nr. 16, Washington, D.C., Juni 2006.

  19. Für den zweiten Weg zur Bombe auf der Basis von Plutonium wird die Wiederaufbereitungstechnologie benötigt.

  20. Vgl. Remarks by the President of the United States, George W. Bush, on Weapons of Mass Destruction Proliferation, National Defense University, Washington, D.C., 11. 2. 2004.

  21. Der IAEO-Generaldirektor hat zu dieser Thematik eine ganze Serie von Interviews gegeben. Vgl. u.a. Towards a safer World, in: The Economist vom 18. 10. 2003, S. 43f.

  22. Vgl. zu dieser Thematik auch Oliver Thränert, Die Zukunft des Atomwaffensperrvertrages, Stiftung Wissenschaft und Politik, Studie 28, Berlin 2004.

Dr. rer. pol., geb. 1959; leitet die Forschungsgruppe Sicherheitspolitik in der Stiftung Wissenschaft und Politik - Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Berlin, Ludwigkirchplatz 2 - 4, 10719 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: Oliver.Thraenert@swp-berlin.org