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Die Sicherheitspolitik der Europäischen Union | Sicherheitspolitik | bpb.de

Sicherheitspolitik Editorial Entwicklungslinien des Atlantischen Bündnisses Die Sicherheitspolitik der Europäischen Union Die nukleare Nichtverbreitungspolitik in der Krise "Counterinsurgency" - Neue Einsatzformen für die NATO? Deutsche Außenpolitik unter Bundeskanzlerin Angela Merkel

Die Sicherheitspolitik der Europäischen Union

Victor Mauer

/ 17 Minuten zu lesen

Der Beitrag untersucht anhand von drei zentralen Aspekten der europäischen Sicherheitspolitik – Sicherheit durch Integration, Sicherheitsprojektion durch Stabilisierung und Assoziierung und autonome Sicherheit – den schleichenden Wandel der EU.

Einleitung

Wenn die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union am 25. März 2007 unter deutscher Ratspräsidentschaft den 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge begehen, wird die Gemeinschaft der Sechs ihre Mitgliedschaft mehr als vervierfacht und ihre Politikfelder auf sämtliche Bereiche des täglichen Lebens ihrer mehr als 480 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner ausgeweitet haben.

Ein Politikfeld, das in seiner klassischen Ausgestaltung in den Anfangsjahren scheiterte und doch in der Idee des Gründungsprozesses des organisierten Europa wie kein anderes angelegt und "von dem Rückgriff auf die Vergangenheit als einem Gegenbild zur Wirklichkeit der unmittelbaren Nachkriegszeit" geprägt war, hat seit den mit dem Ende des Ost-West-Konflikts einhergehenden tektonischen Verschiebungen des internationalen Systems und verstärkt seit der Jahrtausendwende an Bedeutung und Dynamik gewonnen: die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union. Im außen- und sicherheitspolitischen Bereich hat die EU in den zurückliegenden Jahren in einem sich dramatisch wandelnden weltpolitischen Umfeld die größten Fortschritte erzielt. Gestützt auf die Beschlüsse der Gipfeltreffen von Köln, Helsinki und Feira und einem umfassenden Sicherheitsbegriff verpflichtet, der unter Berücksichtigung internationaler Friedensmissionen der vergangenen Jahre zivile und militärische Aspekte des Krisenmanagements säulenübergreifend miteinander in Beziehung setzt, hat sie ihren ehrgeizigen, institutionelle und operative Elemente verbindenden Stufenplan zur Verwirklichung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorangetrieben, der es ihr in begrenztem Rahmen erlaubt, Aufgaben von der Konfliktverhütung bis zur Krisenbewältigung in politischer Eigenverantwortung zu übernehmen.

Dabei trifft die gemeinsame europäische Außenpolitik seit Jahren in der europäischen öffentlichen Meinung auf große Zustimmung und wird zunehmend mit dem Anspruch auf eine führende weltpolitische Rolle für die EU verknüpft. Noch aufgeschlossener zeigen sich die Bürger des organisierten Europas für Fragen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, während gleichzeitig - und das ist ein neuer Trend - die öffentliche Unterstützung für das Nordatlantische Bündnis vor allem in den traditionell pro-atlantisch ausgerichteten Ländern Deutschland, Italien und Polen schwindet, was wiederum ganz unmittelbar im Zusammenhang mit dem kontinuierlich und dramatisch nachlassenden Wunsch nach einer US-amerikanischen Führungsrolle in Verbindung steht. Während die öffentliche Zustimmung mit dem Begehren nach einer vertieften Integration in dem traditionell zwischenstaatlich angelegten Politikbereich der Europäischen Sicherheitspolitik einhergeht und somit den jüngeren Entwicklungen auf EU-Ebene vorauseilt, bleiben die Vorstellungen der EU-Bürger über deren inhaltliche Ausgestaltung abgesehen von der wenig konkreten Befürwortung der Demokratieförderung, die sich mit der strategischen Prioritätensetzung des europäisch-amerikanischen Gipfels in Wien im Juni 2006 deckt, eher vage.

Es gehört zur Geschichte der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, dass die an sie gestellten Erwartungen mit den jeweils zur Verfügung stehenden Fähigkeiten, das heißt den Institutionen, Instrumenten und Ressourcen, nur selten zur Deckung gebracht werden konnten. In besonderer Weise galt das für die mit dem Vertrag von Maastricht (1993) verbundenen Erwartungen an eine gemeinsame europäische Außenpolitik, die in den von Belgrad initiierten vier blutigen Kriegen um politische Macht und ethnische Vorherrschaft in Europas Hinterhof in den neunziger Jahren ertränkt wurden. Während die Lücke zwischen Erwartungen und Fähigkeiten gegen Ende des vergangenen Jahrzehnts aufgrund sinkender Erwartungen verringert werden konnte, schienen Anspruch und Wirklichkeit mit dem erstmals in der britisch-französischen Erklärung von Saint-Malo vom 4. Dezember 1998 definierten und dann in der Kölner Gipfelerklärung übernommenen ambitionierten Ziel einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erneut weit auseinanderzuklaffen. Den anfänglichen, durch institutionelle und operative Neuerungen zu verzeichnenden Fortschritten setzte jedoch erst das Verhalten der "Großen Drei" - Deutschland und Frankreich auf der einen und Großbritannien, sekundiert von einer amerikanischen Politik des divide et impera, auf der anderen Seite - während der Irakkrise klare Grenzen: Die EU griff als eigenständige internationale Kraft zu keinem Zeitpunkt in das Krisengeschehen ein. Das Ausmaß der Krise erinnerte in mancher Hinsicht an die politischen Zerwürfnisse im Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens, als die Führungsmächte Europas glaubten, ihr Beharren auf nationalen Souveränitäten sei gleichbedeutend mit einem Mehrwert an erfolgreicher Interessenvertretung.

Getreu dem Prinzip, dass Krisen ein wichtiger Teil des europäischen Integrationsprozesses sind und dass aus Scheitern und Versagen neue Ambitionen erwachsen, verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der EU im Dezember 2003 eine gemeinsame Sicherheitsstrategie, in der die EU "zwangsläufig" als "globaler Akteur" beschrieben wird, der "bereit sein (sollte), Verantwortung für die globale Sicherheit und für eine bessere Welt mit zu tragen".

Parallel dazu tagte der Europäische Verfassungskonvent. Die Fortschreibung der Gründungsverträge ist seit der Einheitlichen Europäischen Akte (1987) ein machtvolles Instrument des Integrationsprozesses gewesen. Der von den Staats- und Regierungschefs verabschiedete, in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheiterte Vertragsentwurf hätte die der EU der 25 inhärenten politischen Spannungen ebenso wenig wie die komplizierte institutionelle Säulenstruktur beseitigt. Doch mit der Abschaffung der rotierenden Präsidentschaft und der Einführung des Amtes eines die außenpolitischen Funktionen der Kommission und des Rates zusammenführenden europäischen Außenministers sowie eines europäischen diplomatischen Dienstes wäre ein wichtiger institutioneller Beitrag geleistet worden, um die unverändert vorhandene Lücke zwischen Erwartungen und Fähigkeiten zu schließen und somit das außen- und sicherheitspolitische Handeln der EU mit den ganz unterschiedlichen diplomatischen, sicherheits-, verteidigungs-, entwicklungs- und handelspolitischen Instrumenten zu optimieren.

Sicherheitspolitische Ansätze

Die Geschichte der europäischen Integration ist stets auch die Geschichte eines regional begrenzten sicherheitspolitischen Ordnungsprozesses gewesen; eines Ordnungsprozesses, der im Rahmen der europäischen Institutionen über mehr als drei Jahrzehnte auf militär- und verteidigungspolitische Aspekte der Sicherheitspolitik verzichtete. In diesem Sinne ist die EU als ein Subsystem des internationalen Systems, als einzig wirklich funktionierendes regionales Sicherheitsarrangement nach Kapitel VIII der Charta der Vereinten Nationen, zu begreifen. Entscheidend befördert durch den grundlegenden Wandel des internationalen Systems hat sich der sicherheitspolitische Fokus der EU kontinuierlich erweitert. Sicherheit durch Integration galt als Maxime in der Epoche des Kalten Krieges, während die EU in den neunziger Jahren, ohne ihre Grundprinzipien in Frage zu stellen und ohne ihr sicherheitspolitisches Instrumentarium grundlegend anzupassen, auf eine auf die Nachbarschaft begrenzte Politik der Sicherheitsprojektion durch Stabilisierung und Assoziierung setzte. Aus dem Scheitern im Rahmen der Balkankriege erwuchs Ende der neunziger Jahre der Anspruch, gestützt auf ein umfangreiches ziviles und militärisches Arsenal an außen- und sicherheitspolitischen Instrumenten, als zwischenstaatlich organisierte "Supermacht" über den europäischen Kontinent hinaus ordnungspolitische Aufgaben wahrzunehmen, also das politische, wirtschaftliche und militärische Potenzial der Mitgliedstaaten säulenübergreifend in weltpolitische Gestaltungskraft umzusetzen und den in strategischer Hinsicht bisweilen insularen, wenn nicht gar isolationistischen Charakter der EU grundlegend zu verändern. Heute bestehen die drei ganz unterschiedlichen sicherheitspolitischen Ansätze nebeneinander fort beziehungsweise bauen aufeinander auf. Sicherheitspolitische Mentalität, Institutionen und Politik der EU werden dabei von der europäischen Geschichte geprägt, deren tiefste Abgründe an der Wiege des europäischen Integrationsprozesses Pate standen.

Sicherheit durch Integration

Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in der französischen Nationalversammlung im August 1954 stützte sich das sich organisierende Europa auf einen nach innen gerichteten Sicherheitsansatz, bei dem das an dem besiegten Deutschland orientierte Prinzip der Einbindung des anderen und der freiwilligen Selbsteinbindung in Gestalt der Verflechtung der nationalen Volkswirtschaften so weit ging, dass die Lösung politischer und wirtschaftlicher Streitfragen mittels Gewalt schlechthin unvorstellbar wurde. Unter der amerikanischen Sicherheitsglocke konnte das westliche Europa kräftig gedeihen, der transatlantischen Gemeinschaft durch den Wiederaufbau demokratischer Gesellschaften und die Vertiefung der internen Integration Substanz verleihen und sich auf diese Weise zu einer ernst zu nehmenden Zivilmacht auf der weltpolitischen Bühne entwickeln. Für die europäischen Verbündeten garantierte Amerika eine "pseudo-pazifistische Einhegung, die der aus zwei Weltkriegen verwundeten europäischen Seele gut tat". Die Umsetzung der vertraglich vorgegebenen Zielvorstellungen - der enge Zusammenschluss der europäischen Völker, der wirtschaftliche und soziale Fortschritt der Staaten, die stetige Verbesserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen - trug dazu bei, dass das zentrale Anliegen der Gründergeneration im europäischen Revolutionsjahr 1989 zur erlebten Realität wurde: die Wahrung von Frieden und Freiheit auf dem europäischen Kontinent.

Während das Prinzip der Sicherheit durch Integration in gewisser Weise die Aufgabe der sicherheitspolitischen Rückversicherung nach innen zur Folge hatte, übte die so entstandene Zone des Friedens, der Stabilität, des Rechts und des Wohlstands eine enorme Anziehungskraft auf die Nachbarschaft aus. Für die EU stellte sich nach den drei Erweiterungsrunden während des Kalten Krieges und der Erweiterung im Jahre 1995 die Frage, wie bei gleichzeitigem Handeln in der Welt die Solidarität innerhalb der Union erhalten und die Sicherheit gestärkt werden könne. Dabei richtete sich der sicherheitspolitische Fokus in erster Linie auf die unmittelbare Nachbarschaft im Osten.

Sicherheitsprojektion durch Stabilisierung und Assoziierung

Die Erweiterung der EU im Mai 2004 um acht Staaten Mittel- und Osteuropas und um Malta und Zypern ist letztlich als sicherheitspolitische Antwort auf die tief greifenden Veränderungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Zerfall des Sowjetimperiums zu sehen. Auf diese Weise konnte erstens dem doppelten Sicherheitsbedenken der Mehrzahl der Staaten Mittel- und Osteuropas gegenüber Deutschland und Russland Rechnung getragen werden. Zweitens konnte der politische, wirtschaftliche und kulturelle Transformationsprozess unterstützt werden, so dass aus autoritären, planwirtschaftlichen und zentral gelenkten Systemen ungeachtet bisweilen labiler Parteiensysteme vitale Demokratien, offene Gesellschaften und dynamische Volkswirtschaften geworden sind, die mit ihrer hohen Leistungsbereitschaft, Flexibilität und Mobilität zum wirtschaftlichen Fortschritt ganz Europas beitragen. Auf diese Weise werden ehemalige Nachbarn zu integrierten Partnern, die sich gemeinsam mit den alten Mitgliedern als regionale Friedensmacht EU um eine Stabilisierung der neuen Nachbarschaft bemühen. Nach dem Vorbild der neunziger Jahre wird den neuen Nachbarn als Gegenleistung für politische und wirtschaftliche Reformen eine enge Kooperation angeboten, damit auch jenseits der Grenzen der EU eine Zone der Stabilität und des Wohlstands entstehen kann.

Das Prinzip Sicherheit durch Erweiterung verfolgt die EU gegenüber Rumänien und Bulgarien, die der EU zum 1. Januar 2007 unter Auflagen beitreten werden, ebenso wie gegenüber Kroatien, den Staaten des westlichen Balkans und der Türkei. Das erfolgreichste Instrument der EU zur Herstellung von Stabilität in der unmittelbaren Nachbarschaft - die Aussicht auf Mitgliedschaft in den europäischen Institutionen - trifft aber nicht nur in Teilen der europäischen Bevölkerung auf wachsende Kritik, sondern stößt ganz offensichtlich an seine Grenzen. Mit der erstmals im März 2003 umrissenen und im Mai 2004 konkretisierten Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) steht die Frage im Mittelpunkt, wie man mit den künftigen Nachbarstaaten verfahren soll, die in einer besonderen Beziehung zu der Union stehen, die jedoch auf absehbare Zeit keine Möglichkeit auf Mitgliedschaft sehen oder eine Mitgliedschaft nicht anstreben. Dabei entspricht das von der EU verfolgte Prinzip dem Grundsatz der Erweiterungsstrategie: Um die EU soll ein Ring der Stabilität entstehen. Es geht also um eine Erweiterung ohne institutionelle Erweiterung, mit anderen Worten: um eine "hegemoniale Strategie der EU" mit dem Ziel, durch die enge und individuell abgestimmte und differenzierte Anbindung der ENP-Länder "a) Einfluss auf deren innere Entwicklung zu nehmen und b) einen Ring der Gefolgschaft zu kreieren". Ganz abgesehen davon, dass damit der multilaterale Ansatz des Barcelona-Prozesses gegenüber den Mittelmeeranrainerstaaten in Frage gestellt wird, stellt die Europäische Nachbarschaftspolitik für die EU eine doppelte Herausforderung dar: Einerseits werden eine ganze Reihe von im Mai 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten auf eine langfristige Einbindung - und nicht nur Anbindung - ihrer Nachbarstaaten Moldawien, Ukraine und Weißrussland drängen. Andererseits wird sich zeigen müssen, ob das Angebot der EU für die ENP-Länder ohne Beitrittsperspektive eine ausreichend hohe Anziehungskraft hat.

Autonome Sicherheit

Der dritte zentrale sicherheitspolitische Ansatz der EU, der einer autonomen Sicherheitspolitik, stellt die größte Herausforderung für die EU dar. Die Europäische Sicherheitsstrategie, welche die zentralen globalen Herausforderungen und Hauptbedrohungen erstmals gemeinschaftlich definiert - Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Regionale Konflikte, Scheitern von Staaten und Organisierte Kriminalität -, verlangt ein aktiveres Vorgehen, mehr Handlungsfähigkeit, mehr Kohärenz, eine stärkere Zusammenarbeit mit Partnern sowie die Herausbildung einer "strategischen Kultur", die das frühe, schnelle und, wenn nötig, robuste Eingreifen fördert. Anhand der seit dem Jahr 2003 durchgeführten 15 zivilen, militärischen und zivil-militärischen Missionen lassen sich einige Charakteristika des europäischen Krisenmanagements erkennen: Erstens ist stets eine Mehrheit von EU-Staaten an EU-geführten Missionen beteiligt. Zweitens hat die überwiegende Mehrzahl der Missionen ein ziviles Mandat, orientiert sich also in erster Linie an dem Wesen der EU als Normen setzender Institution. Drittens weisen die meisten Missionen vor dem Hintergrund des jungen Politikfeldes ein gewisses Maß an Risikoaversion auf. Viertens handelt es sich mit Ausnahme der Operation ALTHEA in Bosnien-Herzegowina, welche die SFOR-Mission der NATO im Dezember 2004 ablöste, um Missionen mit relativ kleinem Personalaufwand. Fünftens hat sich der Fokus der europäischen Sicherheitspolitik über den Balkan in den Südkaukasus, nach Asien und vor allem nach Afrika ausgeweitet. Und sechstens setzt die EU auf die enge Zusammenarbeit mit internationalen Partnern, vor allem mit der NATO und der UNO.

Die Herausforderungen, denen sich die EU als sicherheitspolitischer Akteur im Werden gegenübersieht, bleiben gewaltig. Sie wird die außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsabläufe neu überdenken müssen, um ein Maximum an Synergien zwischen den beteiligten Institutionen - Kommission, Rat, Präsidentschaft - herzustellen, so dass die säulenübergreifende Struktur kein Hindernis für ein effizientes Krisenmanagement darstellt. Das gilt sowohl für Aufgaben des internationalen Krisenmanagements als auch für den europaweiten Kampf gegen den internationalen Terrorismus.

In der EU-25 muss ein neues integratives Gleichgewicht geschaffen werden, das sich nicht mehr auf den deutsch-französischen Motor stützen kann, sondern, um der europäischen Sicherheitspolitik wie in dem Streit um das iranische Atomprogramm Gewicht und Stimme zu geben, zumindest aus einem Triumvirat London-Paris-Berlin besteht. Das schließt nicht aus, dass bisweilen auch Initiativen von anderen Mitgliedstaaten ausgehen werden wie zur Zeit der "orangenen Revolution" in der Ukraine. Ohne die enge Abstimmung der "Großen Drei" wird eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik langfristig aber nicht funktionieren.

Darüber hinaus müssen die beträchtlichen Lücken im Rahmen der zivilen und vor allem militärischen Fähigkeiten geschlossen werden. Orientiert an dem Zielkatalog von Helsinki wurde im Jahre 2001 ein "European Capabilities Action Plan (ECAP)" aufgestellt. Projektgruppen unter Federführung eines Mitgliedstaates konzentrieren sich auf erkannte Defizite. Dadurch, dass jede EU-Präsidentschaft einen Fortschrittsbericht des ECAP vorlegt, hatte man sich das Entstehen einer gewissen Eigendynamik erhofft. Am Beispiel der jüngsten Fortschrittsberichte wird aber deutlich, dass die Mitgliedstaaten hinter den selbst gesteckten Zielen weit zurückbleiben. Von insgesamt 64 identifizierten Defiziten waren im Mai 2006 52 weiterhin vorhanden.

Dabei kann allerdings nicht übersehen werden, dass die meisten Defizite nicht kurzfristig behoben werden können. Die EU hat in den zurückliegenden Jahren eine Vielzahl an neuen Projekten lanciert, die sich an den Vorgaben der Sicherheitsstrategie ebenso wie an den zuvor beziehungsweise im Anschluss daran definierten Zielkatalogen orientieren.

So ist sowohl das ursprüngliche Ziel, 13 so genannte Kampfgruppen aufzustellen, mit zurzeit 19 im Aufbau befindlichen Kampfgruppen bereits übertroffen als auch der Aufbau einer europäischen Gendarmerie-Truppe im Zeitsoll, die sich aus französischen, italienischen, spanischen, portugiesischen und niederländischen Kräften zusammensetzt und sich auf die Wiederherstellung von Sicherheit und öffentlicher Ordnung in Krisengebieten, auf den Kampf gegen die Organisierte Kriminalität, die Überwachung, Beratung und das Training lokaler Polizeikräfte sowie auf die Unterstützung von Peace Support Operations konzentriert. Und schließlich hat die neu eingesetzte Europäische Verteidigungsagentur ihre Arbeit aufgenommen mit dem Ziel, die Verteidigungskapazitäten der Union im Bereich des Krisenmanagements fortzuentwickeln, die Rüstungszusammenarbeit der EU-25 zu intensivieren, die industrielle Kooperation im Verteidigungssektor zu stärken und die Zusammenarbeit im Bereich Forschung und Entwicklung zu fördern.

Ausblick und Perspektiven

Wenn die Größe der Lücke zwischen Erwartungen auf der einen und Fähigkeiten in Gestalt von Institutionen, Instrumenten und Ressourcen auf der anderen Seite als Maßstab für den prozesshaften Wandel in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik gelten soll, dann lässt sich gerade vor dem Hintergrund des fünfzigjährigen europäischen Integrationsprozesses und ungeachtet des Traumas der völligen Handlungsunfähigkeit der Europäischen Union während der Irak-Krise festhalten, dass sich die EU bei fortwährender Koexistenz von Fragmentierung und Kooperation, institutioneller Inkohärenz, eines begrenzten Instrumentariums und umkämpfter Ressourcen im außen- und sicherheitspolitischen Bereich zu einer Kraft sui generis entwickelt hat.

Sie hat in den zurückliegenden Jahren eine wachsende Verantwortung für regionale und, noch begrenzt, für globale Sicherheit übernommen - zunächst durch die erfolgreichen Erweiterungsrunden, die das Prinzip der Sicherheit durch Integration der Gründerjahre fortschreiben und die EU zunehmend zur hegemonialen Friedensmacht auf dem eigenen Kontinent werden lassen; dann durch eine Politik der begrenzten Sicherheitsprojektion in die unmittelbare Nachbarschaft, die vor allem mit der magnethafte Wirkung entfaltenden Perspektive der Aufnahme in die EU den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozess in den unmittelbar angrenzenden Ländern entscheidend gefördert hat, aber gerade wegen der beschränkten Aufnahmefähigkeit der EU an ihre Grenzen stößt und eines neuen Denkansatzes bedarf; und schließlich mit den zahlreichen zivilen, militärischen und zivil-militärischen Missionen auf dem Balkan, in Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten bis nach Asien, die mit ihrem weithin noch eng umrissenen Umfang gleichwohl einen umfassenden Ansatz des Krisenmanagements verfolgen und zugleich aufgrund ihres unverzichtbaren Erfahrungsrückflusses für eine Optimierung der Entscheidungsabläufe und des Einsatzes der Mittel sorgen werden.

Der außen- und sicherheitspolitische Einfluss der EU auf das Weltgeschehen hat zugenommen. Doch nicht zuletzt aufgrund seines spezifischen Charakters als Normen setzender und multilateral abgestützter "Staatenverbund" zur Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas wird die EU nicht die Rolle einer traditionellen Großmacht oder eines Balancers zwischen unterschiedlichen Machtblöcken übernehmen. Ihre sicherheitspolitische Ausrichtung wird verstärkt regional orientiert sein.

Die Einsicht in die Sinnhaftigkeit der ursprünglich in einem ganz anderen Kontext praktizierten "Methode des Souveränitätsgewinns durch Souveränitätsverzicht", gegen die das nationalstaatliche, bisweilen auch historisch bedingte (Auf-)Begehren der europäischen Großmächte nach unilateralem Handeln verstößt, um letztendlich in einer angewachsenen EU in eine Politik der Neujustierung des "integrativen Gleichgewichts" innerhalb der Gemeinschaft zu münden, führt dazu, dass die EU heute über eine Außen- und Sicherheitspolitik verfügt, die neben den nationalen Außen- und Sicherheitspolitiken ihrer Mitgliedstaaten existiert und die Funktion einer zentripetalen Kraft übernommen hat. Dabei können die Mitgliedstaaten die gemeinsame Sicherheitspolitik nutzen, um ihre nationalen Interessen sowohl zu verbergen als auch zu fördern, um die Legitimität ihrer Politik durch das Handeln im kollektiven Rahmen zu steigern oder auch, um Kosten und Risiken zu senken. Die Europäische Sicherheitspolitik verfügt nicht über einen Kern mit einer alles überlagernden Autorität, aber doch über ein Dach, unter dem die nationalen Mitgliedstaaten und die Institutionen, Instrumente und Ressourcen der EU zusammengeführt werden können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dietmar Herz, Die Europäische Union, München 2002, S. 132. Vgl. auch Franz Knipping, Rom, 25. März 1957. Die Einigung Europas, München 2004, S. 59ff.

  2. Vgl. Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Europäischer Rat (Köln), 3. und 4. Juni 1999, in: www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/00150.D9.htm (14. 9. 2006); Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Europäischer Rat (Helsinki), 10. und 11. Dezember 1999, in: www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/00300-r1.d9.htm (14. 9. 2006); Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Europäischer Rat (Santa Maria da Feira), 19. und 20. Juni 2000, in: www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/00200-r1.d0.htm (14. 9. 2006); vgl. dazu Victor Mauer, Eine Sicherheits- und Verteidigungspolitik für Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (2000) 47, S. 22 - 30.

  3. Mehr als zwei Drittel (68 Prozent) der europäischen Bürger sprechen sich seit vielen Jahren für eine gemeinsame Außenpolitik aus, während die Zustimmung zu einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit 77 Prozent auf einem sehr hohen Niveau verharrt. Vgl. Europäische Kommission, Standard Eurobarometer 64: Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union, Juni 2006, S. 102 - 108, in: www.ec.europa.eu/public_ opinion/archives/eb/eb64/eb64_de.pdf (14. 9. 2006); Europäische Kommission, Special Eurobarometer: Foreign and Security Policy, Mai 2003, S. 1 - 6, in: www.ec.europa.eu/public_ opinion/archives/notes/csf_pesc_papr03_en.pdf (14. 9. 2006). Vgl. auch Wolfgang Wagner, The democratic legitimacy of European Security and Defence Policy. Occasional Paper No. 57, Paris 2005. Für die Angaben zum Wunsch nach einer europäischen Führungsrolle und zur schwindenden europäischen Unterstützung für die NATO vgl. The German Marshall Fund of the United States u.a., Transatlantic Trends. Key Findings 2006, o. O. 2006, S. 4 ff.

  4. Vgl. Vienna Summit Declaration, EU-U.S. Summit, 21 June 2006: "We recognize that the advance of democracy is a strategic priority of our age."

  5. Vgl. dazu vor allem Christopher Hill, The capability-expectations gap, or conceptualizing Europe's international role, in: Journal of Common Market Studies, 31 (1993) 3, S. 305 - 328; ders., Closing the capabilities-expectations gap?, in: John Peterson/Helene Sjursen (Eds.), A Common Foreign Policy for Europe? Competing Visions of the CFSP, London 1998, S. 18 - 38; Roy H. Ginsberg, Conceptualizing the European Union as an international actor: narrowing the theoretical capability-expectations gap, in: Journal of Common Market Studies, 37 (1999) 3, S. 429 - 454.

  6. In der deutschen Fassung in: Internationale Politik (IP), 54 (1999) 2 - 3, S. 127f.

  7. Ein sicheres Europa in einer besseren Welt. Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel, 12. Dezember 2003, S. 1. Vgl. dazu Anne Deighton/Victor Mauer (Eds.), Securing Europe? Implementing the European Security Strategy, Zürich 2006; Sven Biscop, The European Security Strategy: Implementing a distinctive approach to security, in: Sécurité & Stratégie, Paper No. 82, Brüssel 2004.

  8. Vgl. William Wallace, A treaty too far, in: The World Today, 61 (2005) 7, S. 3 - 7; Erik Jones, Mis-selling Europe, in: The World Today, 62 (2006) 1, S. 17 - 19.

  9. Vgl. Simon Duke, The Elusive Quest for European Security: From EDC to CFSP, Basingstoke 2000.

  10. Tony Blair, Europe's Political Future. Speech to thePolish Stock Exchange, 6. Oktober 2000, in: www.number-10.gov.uk/output/Page3384.asp (14. 9. 2006).

  11. Vgl. Anne Deighton, Foreign Policy and the European Union's Security Strategy, in: A. Deighton/V.Mauer (Anm. 7), S. 17 - 29.

  12. Werner Weidenfeld, Neue Ordnung, neue Mächte, in: Die Welt vom 6. April 2003.

  13. 1973 (Großbritannien, Irland, Dänemark), 1981 (Griechenland), 1986 (Spanien und Portugal).

  14. 1995 traten Schweden, Finnland und Österreich der EU bei.

  15. Vgl. Frank Schimmelfennig, The EU, NATO and the Integration of Europe: rules and rhetoric, Cambridge 2003.

  16. Vgl. Günter Verheugen, Europas neue Identität. Zwei Jahre nach der Erweiterung: Resultate und Lektionen, in: IP, 61 (2006) 5, S. 6 - 16; Reinhold Vetter, Große Dynamik im Osten. Die neuen EU-Staaten wollen zum Westen aufschließen, in: IP, 61 (2006) 5, S. 32 - 40.

  17. Vgl. Europäische Kommission, Special Eurobarometer: Attitudes towards European Union Enlargement, Juli 2006, in: www.ec.europa.eu/public_ opinion/archives/ebs/ebs_255_en.pdf (14. 9. 2006).

  18. Carlo Masala, Die Europäische Nachbarschaftspolitik im Mittelmeerraum und die USA, in: Martin Koopmann/Christian Lequesne, Die Europäische Union und ihre Nachbarn, Baden-Baden 2005, S. 129 - 145; vgl. Karen Smith, The outsiders: the European neighbourhood policy, in: International Affairs, 81 (2005) 4, S. 757 - 773. Zu den 16 ENP-Ländern gehören Aserbaidschan, Armenien, Algerien, Ägypten, Georgien, Israel, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko, Moldawien, Syrien, Tunesien, Ukraine, Weißrussland und die Palästinensischen Autonomiegebiete.

  19. Paul Cornish/Geoffrey Edwards, Beyond the EU/NATO dichotomy: the beginnings of a European strategic culture, in: International Affairs, 77 (2001) 3, S. 587 - 603.

  20. Vgl. Annegret Bendiek, Die Terrorismusbekämpfung der EU. Schritte zu einer kohärenten Netzwerkpolitik, SWP-Studie 21, August 2006; Victor Mauer, The European Union and Counter-Terrorism, in: A.Deighton/V. Mauer (Anm. 7), S. 89 - 97.

  21. Vgl. International Institute for Strategic Studies, Strategic Survey. The IISS Annual Review of World Affairs, London 2006, S. 173.

  22. Eine EU-Kampfgruppe entspricht im Wesentlichen einem verstärkten Infanteriebataillon bestehend aus 1 500 Mann, dessen Einsatzspektrum vom Kampfeinsatz mit hoher Intensität über die Möglichkeit der Demonstration militärischer Stärke im Rahmen der Prävention bis hin zur Katastrophenhilfe reicht.

  23. Vgl. Chr. Hill, Closing ... (Anm. 5), S. 18; ders. (Hrsg.), The Actors in Europe's Foreign Policy, London 1996.

  24. Vgl. Hanns W. Maull, Europe and the new balance of global order, in: International Affairs, 81 (2005) 4, S. 775 - 799.

  25. Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung 1945 - 2000, Stuttgart-München 2001, S. 436.

  26. Werner Link, Integration, Kooperation und das "Gleichgewicht" in Europa, in: Reinhard C. Meier-Walser/Susanne Luther (Hrsg.), Europa und die USA. Transatlantische Beziehungen im Spannungsfeld von Regionalisierung und Globalisierung, München 2002, S. 62.

Geb. 1968; stellvertretender Leiter der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik der ETH Zürich, SEI, CH-8092 Zürich.
E-Mail: E-Mail Link: mauer@sipo.gess.ethz.ch