Computer- und Videospiele beziehungsweise "digitale Spiele" – so der wissenschaftliche Begriff – sind ein globales Phänomen. Wenn in diesem Beitrag also nach dem Stellenwert digitaler Spiele und der Digitalspielbranche in Deutschland gefragt wird, dann ist die deutsche stets als Teil einer internationalen Branche zu betrachten.
Wie lässt sich die deutsche Digitalspielbranche in diesen internationalen Kontext einordnen? Zwischen Leuchtturmprojekten wie "Grand Theft Auto" und ersten Programmierversuchen am heimischen Rechner gibt es zahllose Ausprägungen digitaler Spiele, die auch ohne Millionenbudgets Impulse setzen und zu einer großen Spieler*innenschaft gelangen können. Auch aus Deutschland kommen solche Spiele, die von multinationalen Teams aus Designer*innen, Produzent*innen, Grafiker*innen, Programmierer*innen, Autor*innen, Komponist*innen und Tester*innen erstellt werden (im Folgenden schlicht zusammengefasst als Entwickler*innen) – und auch hierzulande hat die Branche in den vergangenen Jahren sowohl kulturell als auch wirtschaftlich und politisch deutlich an Bedeutung gewonnen.
Zur Annäherung an die Digitalspielbranche werde ich zunächst einen Überblick über die zentralen Akteur*innen geben und beschreiben, wie bestimmte Diskurse die deutsche Digitalspiellandschaft geprägt haben. Anschließend werde ich auf die wirtschaftliche (und damit politische) Bedeutung der Games-Branche eingehen und Deutschland als Produktionsstandort und Umsatzmarkt für digitale Spiele näher beleuchten, um abschließend einen kurzen Ausblick zu geben.
Maßgebliche Player und Arenen
Das Gravitationszentrum der deutschen wie der globalen Digitalspielbranche sind die Spieler*innen selbst, die durch ihre kontinuierlich steigende Zahl für eine zunehmende gesellschaftliche Durchdringung und wachsende Bedeutung des Mediums sorgen. Dem Jahresreport 2018 der deutschen Games-Branche zufolge spielen 42 Prozent der Deutschen mindestens "gelegentlich" digitale Spiele, 35 Prozent "regelmäßig".
Das entspricht rund 34 Millionen Spieler*innen, von denen – entgegen dem gängigen Klischee von fast ausschließlich männlichen Gamern – 47 Prozent weiblich sind. Auch die Angaben zum Alter der Spieler*innen entsprechen nicht dem verbreiteten Vorurteil, dass digitale Spiele vor allem von Kindern und Jugendlichen genutzt werden: Im Schnitt sind Spieler*innen in Deutschland 36,1 Jahre alt, und die Über-50-Jährigen, die sogenannten silver gamer, stellen mit einem Anteil von 28 Prozent beziehungsweise 9,5 Millionen Menschen sogar die größte Altersgruppe. Zum Vergleich: Der Anteil der 10- bis 19-Jährigen, der 20- bis 29-Jährigen, der 30- bis 39-Jährigen und der 40- bis 49-Jährigen liegt jeweils bei 15 bis 17 Prozent (Abbildung 1). Was die beliebtesten Spiele-Plattformen angeht, sind mobile Geräte weiter auf dem Vormarsch: Inzwischen wird häufiger auf Smartphones gespielt als auf PCs.
Weitere wichtige Akteur*innen sind die Produzent*innen von Spielen. In Deutschland sind über 11.700 Beschäftigte bei Entwickler*innen und Publishern tätig, verteilt auf 524 Unternehmen. Zählt man Beschäftigte bei Dienstleistern, im Handel, bei Bildungseinrichtungen, Medien und im öffentlichen Sektor mit Bezug zur Games-Branche hinzu, kommt man auf über 28.700 Menschen, die ihren Lebensunterhalt in diesem Sektor verdienen. Am stetig wachsenden Umsatz auf dem deutschen Games-Markt, der inzwischen über drei Milliarden Euro schwer ist, partizipieren deutsche Publisher und Entwickler*innen indes nur zu einem geringen Anteil.
Game ist Gesellschafter der für die Altersfreigaben zuständigen Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK)
Auch der deutsche Digitalspieljournalismus hat sich in den vergangenen Jahren weiterentwickelt. Mittlerweile können Spieler*innen aus diversen, unterschiedlich ausgerichteten journalistischen Formaten wählen, die sich im Spannungsfeld zwischen sogenanntem new und old games journalism bewegen, das heißt zwischen stärker subjektivierenden Erlebnisberichten und objektivierenden Produktrezensionen.
Zwar nicht im Sinne einer journalistisch vermittelten, kritischen Öffentlichkeit, dafür aber umso einflussreicher sind vor allem Youtuber*innen und Streamer*innen, die sich mit digitalen Spielen auseinandersetzen. Ein beliebtes Format sind die sogenannten Let’s-play-Videos, in denen Spieler*innen ihre Spieldurchläufe aufzeichnen und dabei direkt kommentieren. Über Plattformen wie Youtube oder Twitch finden solche Videos Tausende Zuschauer*innen. Einer der ersten deutschen Youtuber, der erheblichen Anteil am Erfolg solcher Videos hatte und hat, ist Erik Range, bekannt unter dem Pseudonym Gronkh, der mit 4,8 Millionen Abonnent*innen auf Youtube der reichweitenstärkste Let’s-Player Deutschlands ist. Ihre Reichweite macht die erfolgreichsten Streamer*innen auch für die Branche interessant: Mittlerweile werden sie häufig direkt von Publishern angefragt, um als Influencer*innen Spiele auf ihren Kanälen zu präsentieren.
Darüber hinaus finden Spieler*innen in Deutschland eine breite Event- und Festivalkultur zum Thema digitale Spiele vor. Weltweit bekannt ist die jährliche Messe "Gamescom" in Köln, deren Besucher*innenzahlen seit ihrer Gründung 2009 von 245.000 auf 370.000 im Jahr 2018 gestiegen sind.
In den vergangenen Jahren lässt sich zudem eine vermehrte museale und archivalische Praxis in Verbindung mit digitalen Spielen beobachten. Den Anfang machte bereits 1997 das Computerspielemuseum Berlin, das sich mit zahlreichen Wechselausstellungen, einer Dauerausstellung, Veranstaltungen und pädagogischen Angeboten dafür einsetzt, einem breiten Publikum "die Kultur und Geschichte von digitalen Spielen (…) zu vermitteln" und auf diesem Wege "das Verständnis von digitalen interaktiven Unterhaltungsmedien zu vertiefen und so die Medienkompetenz zu erhöhen".
Vom "Killerspiel" zum "Kulturgut"
Die Diskussion um den Status des digitalen Spiels als Kulturgut, die durch die Ankündigung des Literaturarchivs neu angefacht wurde, schwelt bereits seit Langem. Dabei schien sie vor über einem Jahrzehnt – zumindest in einigen Schlagzeilen – bereits beendet. So titelte "Spiegel Online" im August 2008: "Jetzt offiziell. Computerspiele sind Kultur"
Unter dem Begriff "Killerspiel" wurden wirkmächtig all jene Spiele zusammengefasst, in denen das Töten von Menschen oder menschenähnlichen Figuren Kern der Spielerfahrung ist, wobei der Begriff in seiner Auslegung und Nutzung immer unscharf blieb.
Rückblickend ist jedoch festzustellen, dass sich die 2007 noch stark polarisierende Position des Kulturratsgeschäftsführers Olaf Zimmermann, "dass Gewalt nicht automatisch kulturlos" sei und dass es "ein Recht auf Schund"nicht nur in Literatur, Film und Musik, sondern eben auch im Kontext digitaler Spiele gebe,
Während mit der Eröffnung der "Gamescom" durch Bundeskanzlerin Angela Merkel 2017 die Diskussion über den Kulturgutstatus des digitalen Spiels ein vorläufiges Ende gefunden zu haben scheint, wird weiterhin darüber diskutiert, ob digitale Spiele auch Kunst sein können. Diese Frage schwang bereits in der "Killerspiel"-Debatte mit, wurden Verbotsforderungen doch mit Verweisen auf die Kunstfreiheit erwidert.
Zu einer Herausforderung für die Branche könnte in den nächsten Jahren indes die Diskussion um das Thema Digitalspielsucht beziehungsweise problematische Mediennutzung werden. Nicht zuletzt wegen des durchschlagenden Erfolgs des 2017 erschienenen sogenannten Battle-Royale-Spiels "Fortnite", einem Shooter in Comic-Optik, wird wieder vermehrt über das verführerische Potenzial von digitalen Spielen gesprochen – im Falle von "Fortnite" auch im Zusammenhang mit der Darstellung von Gewalt. Seit 2018 führt die Weltgesundheitsorganisation in ihrer Klassifikation von Krankheiten und Gesundheitsproblemen "Gaming Disorder" als eigenständige Diagnose. Zwar kritisieren Forscher*innen, dass es an qualitativ hochwertigen Studien und trennscharfen Kriterien zur Feststellung einer solchen "Digitalspielstörung" fehle,
Allerdings ist die öffentliche Debatte darüber von größter Wichtigkeit, denn sie erhöht den gesellschaftlichen Druck auf große Publisher, die durchaus problematische Spielmechaniken mit Suchtpotenzial einsetzen. Zu diesen zählen beispielsweise die sogenannten lootboxes, bei denen Spieler*innen – zumeist im Tausch gegen spielinterne Währungen oder echtes Geld – auf Zufallsbasis Gegenstände erwerben, die im Spielkontext nutzbar sind. Kritiker*innen vergleichen diese Mechaniken mit Spielautomaten oder Roulette. 2018 erklärten sowohl die Niederlande wie auch Belgien einige dieser lootboxes zu Glücksspiel und zwangen Publisher dazu, sie anzupassen oder aus Spielen wie "Fifa 18" zu entfernen. Publisher wie Electronic Arts sehen diese Mechaniken lieber in Verwandtschaft mit "Überraschungseiern" statt mit Glücksspiel und beschreiben sie als ethisch vertretbar und unterhaltsam, um Regulierungen und Verboten in weiteren Ländern zu entgehen.
Im Koopmodus: Wirtschaft und Politik
Dass die deutsche Digitalspielbranche sich mittlerweile stärkerer politischer Unterstützung erfreut, zeigt sich unter anderem am Deutschen Computerspielpreis, der als ein Inszenierungsinstrument der guten Beziehungen zwischen Branche und politischen Entscheidungsträger*innen gedeutet werden kann. Derart öffentlichkeitswirksam treffen Vertreter*innen der Branche, des Bundes und der Länder sonst selten aufeinander. Dennoch konnte der Preis bislang kaum die erhoffte gesamtgesellschaftliche Strahlkraft entfalten, weshalb verschiedene Anpassungen im Gespräch sind.
Wesentlich handfester manifestiert sich der gewachsene Stellenwert der Digitalspielbranche durch Vereinbarungen im aktuellen Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, die explizit auf die Förderung der Branche zielen: So wolle man zum einen den E-Sport, also das wettbewerbsmäßige Spielen digitaler Spiele, "künftig vollständig als eigene Sportart mit Vereins- und Verbandsrecht anerkennen und bei der Schaffung einer olympischen Perspektive unterstützen". Zum anderen wolle man "seitens des Bundes eine Förderung von Games zur Entwicklung hochwertiger digitaler Spiele einführen, um den Entwicklerstandort Deutschland zu stärken". Auch die Stärkung und Weiterentwicklung des Deutschen Computerspielpreises ist im Koalitionsvertrag verankert.
Erste Maßnahmen wurden bereits eingeleitet: 2019 ist im Bundeshaushalt erstmals ein Budget für die Förderung digitaler Spiele enthalten, insgesamt stehen 50 Millionen Euro zur Verfügung. Bis Ende August 2019 können sich Digitalspielunternehmen beim BMVI für eine sogenannte De-minimis-Beihilfe um bis zu 200.000 Euro Bundesförderung bewerben.
Die Bundesförderung ist insofern ein Novum, als der Bund bisher nur indirekt in die Produktion digitaler Spiele investierte, etwa über die Preisgelder des Computerspielpreises, die zur Hälfte von der Branche selbst getragen werden. So konnten Entwickler*innen bisher nur auf die Fördermechanismen der Länder zurückgreifen, beispielsweise den Film-Fernseh-Fonds Bayern oder die Film- und Medienstiftung NRW. Entscheidend ist, dass jene Mittel aus der Länderförderung in der Regel als "bedingt rückzahlbare Darlehen" vergeben werden, also zurückgezahlt werden müssen, sobald Gewinne erwirtschaftet werden. Die Digitalspielförderung des Bundes ist wiederum als "nicht rückzahlbarer Zuschuss" konzipiert, ist also ein Subventionsinstrument.
Abbildung 2: Handelsumsatz der Computer- und Videospielindustrie im Vergleich zu anderen Kultur- und Kreativbranchen in Deutschland, 2015, in Milliarden Euro (© Oliver Castendyk/Jörg Müller-Lietzkow, Die Computerund Videospielindustrie in Deutschland, S. 90, eigene Darstellung.)
Abbildung 2: Handelsumsatz der Computer- und Videospielindustrie im Vergleich zu anderen Kultur- und Kreativbranchen in Deutschland, 2015, in Milliarden Euro (© Oliver Castendyk/Jörg Müller-Lietzkow, Die Computerund Videospielindustrie in Deutschland, S. 90, eigene Darstellung.)
Dass eine Förderung der deutschen Digitalspielbranche für notwendig erachtet wird, erschließt sich, wenn man die Umsatzzahlen der vergangenen Jahre in den Blick nimmt. So ist Deutschland im internationalen Vergleich ein höchst relevanter Markt für digitale Spiele und damit verbundene Produkte wie Hardware, Software oder Mikrotransaktionen in den Spielen. 2017 wurden in Deutschland 3,3 Milliarden Euro mit digitalen Spielen und entsprechender Hardware umgesetzt, was im Vergleich zum Vorjahr ein Wachstum von 15 Prozent bedeutet.
Allerdings können deutsche Entwickler*innen von diesen erheblichen Umsätzen bislang kaum profitieren: Deutsche Spieleentwicklungen hatten 2017 nur einen Anteil von 5,4 Prozent am Gesamtumsatz mit digitalen Spielen in Deutschland, Tendenz fallend. Das Gros wird von internationalen Entwickler*innen und Publishern umgesetzt, die ihre Produkte auf dem deutschen Markt vertreiben.
Ungeachtet von der Frage, ob staatliche Interventionen überhaupt dazu geeignet sind, den Abstand zu den erfolgreichsten Global Playern aufzuholen, plant Game fest mit den Bundessubventionen und fordert eine Verstetigung dieses Instruments sowie eine Erhöhung der Fördersumme. Im Ende Juni 2019 vorgestellten vorläufigen Entwurf des Bundeshaushalts für 2020 sind jedoch überraschend keinerlei Mittel mehr für eine Games-Förderung enthalten, was seitens des Verbandes auf Unverständnis und Kritik stößt.
Wer in Deutschland in die Digitalspielbranche einsteigen möchte, kann laut Branchenverzeichnis "Gamesmap" aus 112 Bildungseinrichtungen wählen, die Studiengänge und Fortbildungen zum Themenbereich anbieten.
Ausblick
Ob und wie der Digitalspielstandort Deutschland langfristig international aufschließen und mithalten kann, wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen. Breitere Ausbildungs- und Fördermöglichkeiten brauchen Zeit, um Wirkung zu entfalten. Allerdings ist fraglich, ob die Produktionsstudios, die in hyperkompetitiven Zeiten die Grenzen des menschlich Machbaren und des arbeitsrechtlich Vertretbaren ausdehnen, tatsächlich nachahmenswerte Vorbilder sind. So setzte der Spitzentitel "Red Dead Redemption 2" nicht nur neue Maßstäbe, was das Medium an sich angeht. Die Produktion des Spiels zeigte auch, was die Entwicklung der immer größer und fotorealistischer werdenden virtuellen Welten den Menschen abverlangt, die sie produzieren.
Es bedarf daher auch in der Digitalspielbranche einer vitalen organisierten Interessenvertretung der Entwickler*innen, so wie es sie in anderen Kulturbranchen für die Kulturschaffenden bereits gibt. Nicht zuletzt aufgrund der erschreckenden Berichte über institutionalisierten crunch in den Digitalspielstudios auf der ganzen Welt und besonders in den USA entstand 2018 die internationale Organisation Game Workers Unite (GWU), die sich für faire Arbeitsbedingungen in der Games-Branche einsetzt. Zwar (noch) nicht als Gewerkschaft, aber zumindest als selbstorganisiertes Netzwerk hat die GWU mittlerweile Ableger auf der ganzen Welt, unter anderem auch in Deutschland.
Die Digitalspielbranche in Deutschland ist von Umbrüchen und Konsolidierungsprozessen geprägt. Das Fundament der Branche, die sich nach weiterer Anerkennung und internationaler Konkurrenzfähigkeit sehnt, ist die breite und weiter wachsende gesellschaftliche Basis aus immer mehr Spieler*innen. Digitalspielkultur wird in Deutschland in Form diverser Praktiken gelebt; digitale Spiele und ihre Produktionsbedingungen sind in zunehmendem Maße Gegenstand zivilgesellschaftlicher sowie politischer Auseinandersetzung. Diskussionen und Kontroversen werden die Entwicklung der Branche auch in Zukunft begleiten. Doch das gehört dazu, wenn man endgültig kein Nischenphänomen mehr ist, sondern immer mehr zu einem wichtigen Bestandteil der deutschen Wirtschaft sowie des kulturellen und politischen Alltags wird.