Einleitung
Migration (Wanderung, räumliche Bevölkerungsbewegung) bezeichnet die "räumliche Mobilität bzw. geografische Ortsveränderung von Menschen über eine bestimmte Mindestdistanz und für einen bestimmten Mindestzeitraum hinweg zur Errichtung eines neuen dauerhaften oder vorübergehenden Wohnsitzes."
Aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive werden Migrationsprozesse in makroökonomischen Ansätzen als Resultante der Vor- undNachteile des Ziel- und des Heimatortes betrachtet. Die "Push-Pull-Hypothese" geht davon aus, dass bestimmte "Abstoßungsfaktoren" (zum Beispiel schnelles Bevölkerungswachstum, Arbeitsknappheit, niedrige Entlohnung, schlechte Gesundheitsversorgung, Diskriminierung) einer Herkunftsregion in Kombination mit "Anziehungsfaktoren" (zum Beispiel geringes Bevölkerungswachstum, hohes Arbeitsangebot, hohe Entlohnung, ausreichender Wohnraum, ausreichende Gesundheitsversorgung, keine Diskriminierung,) einer Zielregion Wanderungsentscheidungen beeinflussen. Aus mikroökonomischer Perspektive wird davon ausgegangen, dass jeder Einzelne für sich eine individuelle Kosten-Nutzen-Analyse durchführt und sich zur Migration entschließt, wenn - ökonomisch ausgedrückt - "der erwartete Barwert seiner Migrationsrente positiv ist"
Dass Migration mit krankheitswertigen psychischen Problemen, etwa Depression und Schlafstörungen, einhergehen kann, ist für Zuwanderer von außerhalb Deutschlands umfangreich belegt.
Berth, Förster und Brähler begleiteten in ihrer Sächsischen Längsschnittstudie in (fast) jährlichem Abstand seit 1987 damals 14-jährige SchülerInnen aus der DDR (n = 1407), wobei seit 1995 die Migration aus den ost- in die westdeutschen Bundesländer mit erhoben wurde (n = 271-325).
Gunkel und Priebe untersuchten drei Gruppen von kurz nach der Maueröffnung nach West-Berlin umgezogenen Personen:
In einer eigenen Voruntersuchung zeigte sich bei West-Ost-Migranten (n = 41) und auch bei Ost-West-Migranten (n = 76) im Vergleich mit Nicht-Migranten ein beeinträchtigtes psychisches Befinden:
In einer weiteren Untersuchung (54 West-Ost- und 68 Ost-West-Migranten) berichteten Migranten über gegenüber Nicht-Migranten höheren Stress, eingeschränkteres körperliches Wohlbefinden und stärkere körperliche Symptome.
Wir haben in der vorliegenden Studie 202 West-Ost- und 200 Ost-West-Migranten bezüglich ihrer Migrationserfahrungen und ihrer psychischen Gesundheit befragt und die Ergebnisse mit Befunden zur psychischen Gesundheit von altersentsprechenden Nicht-Migranten verglichen.
Innerdeutsche Migranten
Die Daten der vorliegenden Erhebung wurden im Sommer 2005 im Auftrag der Universität Leipzig von dem Institut für Markt-, Meinungs- und Sozialforschung USUMA, Berlin, erhoben. Die Interviewer ermittelten im Rahmen ihrer Befragungen Teilnehmer entsprechend eines vorgegebenen Quotenplanes (für Geschlecht, drei Altersgruppen: 18 - 27, 28 - 45 und 46 - 60 Jahre, drei Zeiträume der Migration: 1989 - 1994, 1995 - 1999 und 2000 - 2005). Als innerdeutsche Binnenmigranten galten Befragte, deren Wohnort zum Zeitpunkt der Befragung nicht in dem Teil des west- bzw. ostdeutschen Bundesgebiets lag, in dem sie überwiegend aufgewachsen waren. Die in die Studie einbezogenen Personen wurden von geschulten Interviewern zu Hause aufgesucht, dort befragt und bekamen im Rahmen der Interviews Fragebögen zur selbständigen Beantwortung vorgelegt. Die Teilnahme erfolgte freiwillig. Jeder Befragte erhielt eine vom Interviewer unterschriebene Datenschutzerklärung. Zum Vergleich lagen die Daten von bevölkerungsrepräsentativen Erhebungen von 2002, 2003, 2004 und 2005 vor. Es wurden Instrumente zur Erfassung von Depressivität (Gesundheitsfragebogen für Patienten
Wer migriert?
Angesichts der Quotierung bezüglich Alter und Geschlecht bei der Erhebung können in der vorliegenden Untersuchung keine Aussagen zur Geschlechts- oder Altersverteilung bei innerdeutschen Migranten insgesamt getroffen werden. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die soziodemografischen Merkmale der untersuchten Stichprobe.
Bezüglich des Familienstandes unterschieden sich beide Gruppen kaum voneinander - die Mehrheit war verheiratet. Der Anteil Verheirateter bei den Migranten lag aber unter dem altersentsprechenden bundesdeutschen Durchschnitt (58,7 %), der Anteil Lediger und Geschiedener war höher. Es kann gemutmaßt werden, dass fehlende familiäre Bindung eine Migration erleichtert.
Auffällig in der untersuchten Stichprobe war eine unterschiedliche Verteilung des Bildungsstandes: Während in der Gruppe der Ost-West-Migranten der Anteil von Befragten mit Abitur lediglich 12 % betrug, lag dieser Anteil in der West-Ost-Migranten-Gruppe bei ca. 50 % (im Bundesdurchschnitt 18 %). In der Ost-West-Migrantengruppe überwogen Befragte mit Hauptschulabschluss (im Bundesdurchschnitt 38 %). Der Anteil von Befragten mit Realschulabschluss war in beiden Gruppen etwa gleich groß (im Bundesdurchschnitt 21 %). Dem Bildungsgrad entsprechend fanden sich bei den Ost-West-Migranten 38 % Arbeiter und Facharbeiter, bei den West-Ost-Migranten aber nur 20 %. Die Mehrzahl der Befragten waren in beiden Gruppen Angestellte. 16 % der West-Ost-Migranten, jedoch nur 6 % der Ost-West-Migranten waren Freiberufler und Selbständige. Beamte machten einen Anteil von 15 % bei den West-Ost-Migranten und von 1 % bei den Ost-West-Migranten aus (Bundesdurchschnitt 3 %). In beiden Gruppen waren die meisten Vollzeit beschäftigt (im Bundesdurchschnitt 50 %).
Insgesamt zeigte sich, dass die hier untersuchten Migranten, verglichen mit dem altersentsprechenden bundesdeutschen Durchschnitt, häufiger nicht verheiratet und höher gebildet waren. Es muss hier offen bleiben, ob sich in diesen Relationen tatsächliche repräsentative Verhältnisse widerspiegeln oder ob es sich um eine Verzerrung etwa aufgrund der Stichprobenziehung handelt, auf die wir keinen direkten Einfluss hatten. Denkbar ist allerdings auch, dass es unterschiedliche Push- und Pullfaktoren gibt, die im Falle Westdeutscher höher Gebildete stärker motivieren als bei Ostdeutschen.
Migrationserfahrungen
Die Verteilung der Migrationsmotive war für West-Ost- und für Ost-West-Migranten ähnlich. Die Mehrheit der Befragten migrierte vor allem aus beruflichen Gründen (Abbildung 1). Dies galt besonders für die Gruppe von Migranten mit Abitur. Der höchste Anteil von Befragten, die aus privaten Gründen migrierten, fand sich bei der Gruppe der West-Ost-Migranten ohne Abitur. Abbildung 1: Aus welchem Grund sind Sie nach Ost- bzw. Westdeutschland übergesiedelt? (relative Häufigkeiten, n = 200 Ost-West-Migranten und n = 202 West-Ost-Migranten). Quelle: Eigene Darstellung.
Deutliche Unterschiede ergaben sich zwischen beiden Gruppen bezüglich der Frage: "Wie gern haben Sie den Wechsel von Ost- nach Westdeutschland (beziehungsweise umgekehrt) auf sich genommen?" (Abbildung 2). Mehr Westdeutsche gaben an, "sehr ungern" nach Ostdeutschland umgezogen zu sein, während ein erheblich größerer Anteil von Ost-West-Migranten den Wechsel eher gern auf sich nahm. Abbildung 2: Wie gern haben Sie den Wechsel von Ost- nach Westdeutschland (beziehungsweise umgekehrt) auf sich genommen? (relative Häufigkeiten, n = 200 Ost-West-Migranten und n = 202 West-Ost-Migranten). Quelle: Eigene Darstellung.
Die beiden Migrantengruppen unterschieden sich kaum bezüglich der Erfüllung ihrer mit der Migration verbundenen Erwartungen - die Mehrzahl der Befragten gab an, dass ihre Erwartungen positiv übertroffen wurden.
Die Befragten wurden gebeten, auf einer 7-stufigen Skala einzuschätzen, wie gut sie sich an ihrem neuen Wohnort integriert fühlen und wie sie als Ost- bzw. Westdeutscher in ihrem beruflichen und privaten Umfeld mit den West- bzw. Ostdeutschen zurechtkommen. Beide Gruppen unterschieden sich kaum und gaben an, dass sie sich größtenteils sehr gut integriert fühlten und in ihrem beruflichen und privaten Umfeld sehr gut zurechtkommen.
Die Migranten wurden außerdem bezüglich ihrer Rückkehrpläne befragt. Insgesamt zeigte sich, dass Ostdeutsche häufiger im Westen bleiben wollen als Westdeutsche im Osten. Für ein Drittel der befragten West-Ost-Migranten war es noch offen, ob sie wieder zurückkehren werden, während fast die Hälfte der Ost-West-Migranten (aber nur 14 % der West-Ost-Migranten) angab, auf keinen Fall zurückkehren zu wollen.
Erwartungsgemäß bestätigte sich, dass in beiden Gruppen diejenigen, die auf jeden Fall zurückkehren wollten, eher aus beruflichen Gründen migriert waren, unerfüllte Erwartungen berichteten, den Wechsel eher ungern auf sich genommen hatten und mehr psychische Beschwerden und weniger soziale Unterstützung angaben.
Psychisches Befinden
Um die von Migranten angegebene Belastung einordnen zu können, wurden Vergleichswerte altersentsprechender nicht migrierter Ost- und Westdeutscher aus repräsentativen Erhebungen der deutschen Allgemeinbevölkerung herangezogen.
Der Vergleich zwischen beiden Migrantengruppen untereinander zeigte, dass Migranten aus Ostdeutschland, die in Westdeutschland leben, ein höheres Maß an psychischen Beschwerden (Depressivität und psychische Symptome s. Abbildungen 3 a und 3 b) und weniger soziale Unterstützung (Abbildung 3 c) angaben als West-Ost-Migranten.
Frauen gaben in allen untersuchten Gruppen mehr Depressivität und psychische Beschwerden an als Männer. Bei den Nicht-Migranten schilderten Frauen mehr soziale Unterstützung als Männer, bei den Migranten hingegen gaben Frauen weniger soziale Unterstützung als Männer an.
Für beide Geschlechter galt, dass Ost-West-Migrantinnen ein höheres Maß an Depressivität angaben als ostdeutsche Männer bzw. Frauen, während West-Ost-Migrantinnen sich als weniger depressiv als westdeutsche Frauen bzw. Männer beschrieben (Abbildung 3 a).
Männliche West-Ost-Migranten unterschieden sich von westdeutschen Männern nicht bezüglich psychischer Beschwerden. Männliche Ost-West-Migranten beschrieben sich aber erheblich belasteter als ostdeutsche Männer. Bei den Frauen ergab sich für ost- und westdeutsche Migranten ein deutlich höheres Maß an psychischen Beschwerden als bei den jeweiligen nicht-migrierten Frauen (Abbildung 3 b).
Ein ähnliches Bild zeigte sich für die wahrgenommene soziale Unterstützung: Sowohl West-Ost- wie auch Ost-West-Migranten erfuhren weniger soziale Unterstützung als die Nicht-Migranten, wobei die Ost-West-Migranten die niedrigsten Werte angaben (Abbildung 3 c). Auch männliche Ost-West-Migranten erleben weniger soziale Unterstützung als ostdeutsche Männer, wobei es sich aber lediglich um schwache Effekte handelt. Männliche West-Ost-Migranten hingegen geben mehr soziale Unterstützung als westdeutsche männliche Nicht-Migranten an (Abbildung 3 c).
Vor allem für die Gruppe der Ost-West-Migranten zeigte sich in der vorliegenden Untersuchung ein höheres Maß an psychischer Belastung, das deutlich über den von ostdeutschen Nicht-Migranten angegebenen Werten lag.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass innerdeutsche Migration einen Belastungsfaktor darstellt, wobei allerdings die von uns untersuchten männlichen West-Ost-Migranten von der Migration profitiert zu haben scheinen - sie schildern sich als weniger belastet als alle anderen Gruppen.
Bezüglich der ermittelten Belastung bei Migranten muss offen bleiben, inwieweit diese Beeinträchtigungen klinisch relevant sind. Natürlich lassen diese Untersuchungen keine kausalen Rückschlüsse zu. Anhand der vorliegenden Querschnittsstudien sind keine Rückschlüsse darüber möglich, ob die Migration zu psychischen Beeinträchtigungen führt oder ob diejenigen Probandinnen und Probanden, die psychisch beeinträchtigt sind, migrieren (möglicherweise verbunden mit der Hoffnung, dass die Migration diesen Zustand verbessert). Selbst wenn die Migration als ursächlich für die psychische Belastung angenommen wird, erlaubt unsere Erhebung keine Rückschlüsse darüber, ob diese erhöhte Belastung ein spezifisches Resultat einer Migration zwischen neuen und alten Bundesländern darstellt. Es ist denkbar, dass eine Migration von Nord- nach Süddeutschland oder umgekehrt zu einer ähnlichen Belastung führen würde, dass innerdeutsche Migration also per se belastend ist.
Bei den hier untersuchten Westdeutschen im Osten fiel auf, dass in dieser Gruppe ein besonders hoher Anteil von AbiturientInnen, Beamten und Selbständigen vertreten war. Vor allem die männlichen West-Ost-Migranten beschrieben sich als besonders wenig belastet. Möglicherweise stellt Bildung eine Ressource zur Bewältigung des Lebensereignisses "Migration" dar.
Wenn innerdeutsche Migration mit psychischer Belastung einhergeht, könnte es nützlich sein, Migranten gezielter auf mögliche (unerwartete) Belastungen am neuen Lebens- und Arbeitsort vorzubereiten und in deren Bewältigung zu unterstützen, zum Beispiel durch den Aufbau eines sozialen Netzes. Schwarzer und Jerusalem ermittelten einen Rückgang von Depression und Ängstlichkeit bei Übersiedlern von Ost- nach Westdeutschland nach dem Aufbau von Freundschaften.
Dass ein höherer Anteil der Westdeutschen im Osten wieder nach Westdeutschland zurück will, ist vielleicht Ausdruck dafür, dass alltagskulturelle Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschen nach wie vor hoch relevant sind und die "Wiedervereinigung" sehr viel begrenzter vollzogen ist als politisch dargestellt und erwünscht.
Diese Hypothese müsste jedoch eigens empirisch geprüft werden. Untersuchungen an umfangreicheren Stichproben sind notwendig und sollten dann neben Ost-West- beispielsweise auch Nord-Süd-Migrationsprozesse mit einbeziehen. Die besondere Rolle der Migration als eigenständiger Belastungs- bzw. Risikofaktor ließe sich ferner klarer explorieren, wenn das Augenmerk auf besonders auffällige Migranten gerichtet würde, die sich z.B. als extrem niedergeschlagen und unzufrieden beschreiben.
Bildung und Herkunft
Im Land der Dichter und Denker scheint etwas im Argen zu liegen. Nicht zuletzt seit den PISA-Studien, die das international vergleichend schlechte Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler im Lesen, in der Mathematik und den Naturwissenschaften wiederholt öffentlichkeitswirksam aufzeigten, wird die Bildungsmisere in Deutschland beklagt. Bildungsdebakel, Bildungsrückstand und soziale Ungleichheit sind die Schlagworte, welche die Diskussion um das deutsche Bildungswesen bestimmen. Im Kreuzfeuer der Kritik steht dabei der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und erzielten Bildungsleistungen. Verglichen mit anderen Ländern gelingt die Förderung von Kindern aus sozial benachteiligten Schichten und aus Zuwandererfamilien hierzulande schlechter.
Der Ausgangspunkt dieses Beitrags ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildung, der mit Ergebnissen der internationalen PISA-Studie, des ersten nationalen Bildungsberichts "Bildung in Deutschland" und Analysen der empirischen Bildungsforschung belegt wird. Im Anschluss werden die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der nationalen Sozialpolitik und ihre Auswirkungen auf die Bildungspolitik diskutiert. Der Beitrag schließt mit einer Diskussion von Reformvorschlägen in der Familien- und Bildungspolitik, die zur Qualitätssteigerung der Schulbildung und Verbesserung der Chancengleichheit derzeit diskutiert werden.
Soziale Herkunft und Bildung
Zweifellos hat die Bildungsexpansion der sechziger und siebziger Jahre insgesamt zu einer Steigerung des Bildungsniveaus in allen Sozialgruppen geführt. War die Hauptschule zu Beginn der fünfziger Jahre noch die Regelschule, an der drei Viertel der Schülerinnen und Schüler lernten, so belief sich deren Anteil 2003 nur noch auf 30 Prozent. Im gleichen Zeitraum hat sich der Anteil der Schülerinnen und Schüler an den Realschulen (von 7 auf 23,5 Prozent) verdreifacht und an den Gymnasien (von 15 auf 32,5 Prozent) verdoppelt.
Während die Bildungsexpansion konfessionelle, regionale und geschlechtsspezifische Ungleichheiten abbauen konnte, war sie beim Abbau der schichtenspezifischen Ungleichheiten weniger erfolgreich.
Nach wie vor hängen die Bildungschancen für eine höhere Ausbildung an Gymnasien und Universitäten für Jugendliche stark von ihrer sozialen Herkunft ab. Infolgedessen istder durchschnittliche Anteil der Kinder aus "bildungsnahen Schichten", also aus der "oberen Dienstklasse", die ein Gymnasium besuchen, mehr als viermal so hoch wie der Anteil der Kinder aus Facharbeiterfamilien.
Auch international vergleichende Schülerleistungstests wie PISA und IGLU haben auf den starken Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und erreichten Kompetenzen aufmerksam gemacht. Zwar schnitt in der zweiten PISA-Studie von 2003 Deutschland in den Kompetenzbereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften im internationalen Vergleich durchschnittlich, im "Problemlösungsbereich" sogar überdurchschnittlich ab; das bessere Abschneiden Deutschlands gegenüber der ersten PISA-Studie von 2000 sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Verbesserung der Bildungskompetenzen nicht gleichmäßig auf die Schulformen verteilt. Der Zuwachs an Kompetenzen geht vor allem auf die Gymnasien zurück und weniger auf die Hauptschulen, die kaum Lernzuwächse verzeichnen konnten.
Auch und gerade diese Daten zeigen, dass in kaum einem anderen vergleichbaren Industrieland der Bildungserfolg so eng mit der sozialen Herkunft verknüpft ist wie in Deutschland.
Wie stark auslesend das deutsche Schulsystem weiterhin ist, lässt sich an folgenden Zahlen ablesen: Etwa 45 Prozent der Schülerinnen und Schüler in den Hauptschulen kommen aus den unteren sozialen Schichten, welche die PISA-Studie im untersten ESCS-Quartil verortet. Aus dem obersten ESCS-Quartil besuchen dagegen rund die Hälfte der Schülerinnen und Schüler das Gymnasium. Auch im nationalen Bundesländervergleich der Schülerleistungen ist der familiäre Hintergrund von Schülerinnen und Schülern der stärkste Erklärungsfaktor für Bildungskompetenzen. Die Chancen für Jugendliche, das Gymnasium zu besuchen, ist in den ostdeutschen Bundesländern weniger schichtenabhängig als in den westdeutschen. Am stärksten ist der Zusammenhang zwischen Bildungsbeteiligung und sozialer Herkunft in Bayern, Rheinland-Pfalz und in Schleswig-Holstein.
Neben der sozialen Herkunft ist der "Migrationshintergrund" der Jugendlichen mitentscheidend für die Bildungskarriere. In den internationalen Vergleichstests und im nationalen Bundesländervergleich zeigt sich, dass in Deutschland Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunft ein geringeres Bildungsniveau erreichen.
Bildungspolitik als präventive Sozialpolitik
Die deutschen Ergebnisse stimmen bildungs- und gesellschaftspolitisch bedenklich. Der soziale Status prägt hierzulande nicht nur den Bildungserfolg, sondern auch die späteren Berufsaussichten der Kinder und ihre soziale Integration. Diese "Sozialvererbung" der Bildungschancen ist in anderen europäischen Ländern, allen voran in den skandinavischen Staaten, markant weniger ausgeprägt. Bildungsungleichheiten setzen sich auch bei der beruflichen Integration fort. Die zunehmende Flexibilisierung der Arbeit wird in Zukunft noch mehr hochqualifizierte Arbeitskräfte als heute erfordern. Jugendliche aus bildungsfernen Schichten und mit Migrationshintergrund drohen sich zu einer neuen Bildungsunterschicht zusammenzuballen. Die starke Korrelation zwischen einer geringen Qualifikation und Arbeitslosigkeit zeigt, dass Bildungsförderung auch eine präventive Beschäftigungspolitik ist. Junge arbeitslose Erwachsene rekrutieren sich zu einem großen Teil aus Jugendlichen ohne Schulabschluss oder mit einfachen Abschlüssen.
Die Unterausbildung ist hierbei nicht nur inhuman, sondern auch wirtschaftlich höchst ineffizient, da Geringqualifizierte überdurchschnittlich stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind und durch staatliche Transferzahlungen unterstützt werden müssen. Der Zusammenhang von Bildung und Sozialpolitik ist - im Gegensatz etwa zu den angelsächsischen Ländern - in Deutschland immer noch nicht erkannt worden.
Mit Blick auf die Gesamtstruktur des Sozialbudgets zeigt sich, dass ein Großteil des deutschen Sozialbudgets in sozialpolitische Sektoren mit einem eher geringen Zukunftsprofil fließt, wie etwa in die hohen Ausgaben für die Alterssicherung, deren Ausgabenhöhe nur noch von der Schweiz und Griechenland übertroffen werden.
Aktuelle Reformansätze
Forderungen nach höheren Investitionen in das Bildungswesen stehen schon seit längerem auf der bildungspolitischen Agenda. Eine Erhöhung der Bildungsausgaben allein würde nicht zwangsläufig zu besseren Schülerleistungen führen. Wie die Tabelle auf Seite 34 zeigt, erreicht es eine Vielzahl von Ländern mit geringeren öffentlichen Bildungsausgaben, dass die Bildungsungleichheit zwischen Kindern verschiedener sozialer Herkunft geringer ausfällt. Es kommt neben einer verbesserten finanziellen Ausstattung also auch auf institutionelle Strukturreformen an. An umfassenden Förder- und Betreuungsangeboten zur Vermeidung ungleicher Bildungschancen fehlt es nach wie vor weitgehend. Das Ziel, die Bildungschancen von der sozialen Herkunft abzukoppeln, kann nur über eine integrierte Bildungs- und Sozialpolitik erreicht werden. Neben einem durchlässigeren Schulsystem, das auch Spätentwicklern eine Chance für den Bildungserwerb bietet, ist eine verbesserte Infrastruktur im Bildungswesen erforderlich, etwa durch den Ausbau der frühkindlichen Bildung, ein breiteres Netz anKinderkrippen und Vollzeit-Kindergärten und durch den konsequenten Ausbau von Ganztagsschulen. In der aktuellen Diskussion zur Verbesserung der Bildungschancen im deutschen Bildungswesen werden ferner eine gezielte Sprachförderung und auch Studiengebühren gefordert. Wie könnten sich solche Reformansätze in der Familien- und Bildungspolitik auf den festgestellten Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildung auswirken? Dieser Frage soll nun nachgegangen werden.
Nicht zuletzt aufgrund des schlechten Abschneidens deutscher Schüler in internationalen Vergleichen von Schülerleistungen - so in den PISA-Studien - hat die Ganztagsschule eine Renaissance in der Diskussion um mögliche institutionelle Reformen erlebt. Dadurch können zum einen Ziele wie die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Mit dem Investitionsprogramm des Bundes "Zukunft Bildung und Betreuung", durch das den Ländern bis 2007 rund vier Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden, damit sie ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagsschulen schaffen können, sollen benachteiligte Kinder zusätzlich gefördert werden. Die Gefahr ist allerdings groß, dass angesichts der leeren Kassen im Bildungswesen der Ausbau der Ganztagsschulen in den Kinderschuhen stecken bleibt, insbesondere da das Bildungswesen und damit die Einrichtung von Ganztagsschulen in die Kulturhoheit der Länder fällt. Die Kulturhoheit der Bundesländer, parteipolitisch-ideologische Präferenzen und Unterschiede in der Finanzkraft der Länder haben bislang weniger zu einer Vereinheitlichung als zu einer Differenzierung in der Qualität der Schultypen und in den Abschlüssen geführt, so dass im Zuge der Föderalismusreform eher ein ausufernder Bildungsföderalismus mit zusätzlichen Spreizungen zu befürchten ist.
Eine weit reichende und auch nachhaltige Reform im Bildungsbereich erfordert ein Bildungskonzept aus einem Guss, die Ergebnisse der Föderalismusreform weisen jedoch in eine andere Richtung. Da der Bund im Zuge der Föderalismusreform die Rahmengesetzgebung für das Hochschulwesen, die Bildungsplanung und das Instrument der Mischfinanzierung aufgegeben hat, wird sein Handlungsspielraum für Initiativen eingeschränkt sein. Vor allem die Mehrkosten für die Personalaufwendungen, die sich nach Schätzungen auf rund 30 Prozent belaufen, werden die Ländern nur schwer schultern können. Nach wie vor ist die Finanzierung ungeklärt, etwa ob der Bund durch eine einmalige Anschubfinanzierung den Ausbau der Ganztagsschulen unterstützt oder ob dies fortlaufend und regelmäßig erfolgen soll. Ebenso ist unklar, wie die historisch gewachsene Vielzahl von freien Trägern in der Freizeitgestaltung und bei den Erziehungsaufgaben in die Ganztagsschulen eingebunden werden kann, um Synergieeffekte zu erzeugen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Diskussion um den Ausbau der Ganztagsschulen bislang wohl mehr von wahlpolitischen Kalkülen als von einem wirklichen, nachhaltigen Reformwillen geprägt wird.
Ein seit Jahren stark diskutiertes Thema ist die Einführung von Studiengebühren an den deutschen Hochschulen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Januar 2005, in dem das Verbot von Studiengebühren für verfassungswidrig erklärt wurde, können die Bundesländer nun Studiengebühren erheben. Ein wesentlicher Streitpunkt bei der Ausgestaltung dieser Gebühren besteht darin, wie sie sozialverträglich gestaltet werden können. Nach wie vor entscheidet die soziale Herkunft darüber, wer ein Studium aufnimmt. Laut der 17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes begannen 2003 nur 12 Prozent der jungen Erwachsenen aus einkommensschwachen, bildungsfernen Familien ein Studium, vier Fünftel der Studierenden kamen dagegen aus einkommensstarken Haushalten.
Das deutsche Bildungswesen steht vor der Herausforderung, das Qualifikationsniveau anzuheben und mehr Hochqualifizierte ausbilden zu müssen. Angesichts des drohenden Fachkräftemangels muss die Zahl der Hochschulabsolventen langfristig erhöht werden, dabei darf das Bildungspotenzial von Kindern aus bildungsfernen Schichten aber nicht verschenkt werden. Die bisherige Gebührenfreiheit und das seit rund drei Jahrzehnten existierende staatlich finanzierte BAföG konnten nicht ausreichend dafür sorgen, dass junge Erwachsene aus einkommensschwachen Familien studierten.
Mit Blick auf die Verteilungsgerechtigkeit sei auf Folgendes hingewiesen: Das deutsche Hochschulsystem ist weitgehend steuerfinanziert, das heißt es wird überwiegend durch die unteren bis mittleren Einkommensgruppen finanziert. Tatsächlich studieren aber vor allem Kinder aus den oberen sozialen Schichten. Beobachter fürchten nun, dass die Einführung von Studiengebühren junge Menschen aus einkommensschwachen Familien noch stärker vom Studium abhalten könnte. Im Gegensatz zu den USA oder Australien hat Deutschland kein weit ausgebautes Stipendiensystem. Mit rund 150 Stipendiengebern und zwölf Begabtenförderungswerken werden hierzulande nur etwa zwei Prozent der Studierenden unterstützt. Da sich daran in kurzer Zeit nichts ändern wird, ist die Einführung eines sozialverträglichen Finanzierungssystems notwendig, das es jedem jungen Erwachsenen erlaubt, unabhängig vom Einkommen der Eltern zu studieren. Instrumente hierfür könnten Bildungskredite sein, um Studierenden aus einkommensschwachen Familien die notwendige Kreditwürdigkeit zu verschaffen. Diese müssen Zugang zu Darlehen erhalten, die sie nach dem Studienabschluss im Laufe ihres Erwerbslebens zurückzahlen können. Unabhängig davon, ob Studiengebühren gerecht sind oder nicht, kann ein sozialverträgliches Finanzierungssystem etwa in Form von darlehensfinanzierten Hochschulgebühren gewährleisten, dass potenzielle Studenten ohne Rücksicht auf das Einkommen der Eltern ein Studium aufnehmen können. Ohne grundlegende Veränderungen können jedoch auch Studiengebühren die Bildungschancen von Abiturienten aus einkommensschwachen Familien nicht verbessern.
Die Herausforderungen gehen über ein enges schulisches Bildungsverständnis hinaus. Derzeit ist aber noch nicht absehbar, ob die jeweiligen Reformen langfristig greifen und ob sie zu den gewünschten verbesserten Bildungschancen führen werden. Die aktuelle Bildungspolitik lässt daran eher zweifeln. Nach wie vor fehlt ein gemeinsames bildungspolitisches Konzept der Bundesländer - von einer Kooperation mit dem Bund nicht zu reden. Eher herrscht in der Bildungspolitik Kleinstaaterei vor, da die Länder im Bildungswesen eigene Wege gehen wollen: Bei gleichzeitiger Beibehaltung des dreigliedrigen Schulsystems werden dann verschiedene Konzepte zur Anwendung kommen. Unklar ist nach wie vor die Finanzierung der Ganztagsschulen, das heißt wie die Förderbedingungen an den Hauptschulen verbessert und wie Studiengebühren sozialverträglich ausgestaltet werden können. Dass der Bildungserfolg hierzulande Lebensläufe, Berufschancen und soziale Risikolagen bestimmt, schreit danach, Bildungs- und Sozialpolitik nicht getrennt voneinander, sondern als Ganzes zu sehen; es gilt, die politischen Gestaltungschancen endlich zu ergreifen.