Einleitung
Von der slowenischen Hauptstadt Ljubljana fährt man mit dem Auto in nur einer Stunde nach Triest an der nördlichen Adria. Triest war einst der wichtigste Hafen der K.-u.-k.-Monarchie, ein Ort verschiedenster ethnischer und religiöser Gemeinschaften, in dem jahrhundertelang auch Slowenen lebten. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Grenze zwischen Italien und Jugoslawien festgelegt wurde, wurde das Siedlungsgebiet der Slowenen und das Hinterland von Triest Teil Jugoslawiens. Die Stadt selbst fiel an Italien. Der Hafen war nicht mehr wichtig, und als italienische Sackgasse geriet Triest in eine staatlich gepäppelte Dunkelheit.
Doch für die Slowenen, deren sozialistische Republik als Teil Jugoslawiens eine gemeinsame Grenze mit Italien hatte, wurde Triest aus neuen Gründen wichtig. In der Vorstellung verschiedener Generationen erschien die Stadt als verführerischer Ort voller Geschäfte, die wahre Schätze feilboten, die zu Hause kaum zu haben waren. Triest war die glitzernde (und kitschige) Verkörperung des Westens. Das Schmuggeln über die Grenze hinweg erleichterte den Transfer von Menschen und Finanzmitteln, und ganz gewöhnliche Familien reisten regelmäßig nach Triest, um sich ihre Konsumphantasien zu erfüllen. In Triest wurde ein besonderer Hunger gestillt, der Hunger nach "Fiat"-Ersatzteilen, eleganten Deosticks, Schlafsäcken aus Gänsedaunen, duftendem Espresso-Kaffee, modernen Levi's Jeans und nach anderen Insignien einer Konsumgesellschaft, die im vom "weichen Kommunismus" geprägten Ljubljana nicht erhältlich waren.
Triest hat für Slowenen noch eine weitere Bedeutung. Bei unserem ersten Besuch in der Stadt erklärte ich sie meiner amerikanischen Ehefrau, die Anfang der neunziger Jahre in das postkommunistische Slowenien gekommen war, um mit mir eine Familie zu gründen. In Triest hatten die italienischen Faschisten in der Zwischenkriegszeit das slowenische Kulturzentrum niedergebrannt und eine Anzahl slowenischer Nationalisten erschossen, um das Gebiet von seinem slawischen Element "zu reinigen". Auch heute noch verfügt die slowenische Minderheit in Italien wie auch in Kärnten im benachbarten Österreich nicht über die verfassungsmäßigen Rechte einer anerkannten Minderheit. Erica hörte mir zu und bemerkte trocken: "Ihr Slowenen seht Triest nur als Extrem: entweder als Brutstätte des Faschismus oder als große Shopping Mall." Das wäre auch eine überaus treffende Metapher für die Sicht vieler Slowenen auf den Westen überhaupt: Er wirkt entweder bedrohlich, oder aber er dient nur dazu, Vergnügen zu vermitteln.
Obwohl die Slowenen immer ein fester Bestandteil des Westens in einem ganz traditionellen, historischen Sinn gewesen sind - sie erlebten die Renaissance, Reformation und Gegenreformation, die Aufklärung und die Totalitarismen faschistischer wie kommunistischer Provenienz -, litten sie immer auch unter ihrer Marginalität. Die Slowenen erfuhren Industrialisierung und Modernisierung nur am Rande. Diese waren stets vom anhaltenden Appetit von Fremden begleitet, dieses südslawische Volk zu erobern und zu unterjochen. Niemals gab es einen eigenen Nationalstaat. Karl der Große, die Franken, Napoleon, die Habsburger, Mussolini und Hitler haben zu ihren Zeiten die Gebiete Sloweniens für sich beansprucht.
Es ist daher kein Wunder, dass ein feiner Unterschied enorme Bedeutung für die kollektive Selbstwahrnehmung der Slowenen angenommen hat, eine Differenz, die für westliche Beobachter in den Zuckungen der neuen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg verloren gegangen war. Es geht darum, dass Slowenien im Unterschied zum übrigen Osteuropa nicht von der Roten Armee befreit worden ist. Hier waren starke nationale Partisanenverbände tätig, die sich gegenüber den Partisanengruppen unter Marschall Tito lange Zeit eine beträchtliche Autonomie bewahrt hatten. Die slowenischen antifaschistischen Partisanen trugen jahrelang auf ihren Mützen allein die slowenische Flagge und nicht den roten Stern der Kommunisten. Das ist deshalb so wichtig, weil damit symbolisch der Hauptantrieb belegt wird, der hinter dem Widerstand des Volkes gegen die faschistischen und nazistischen Armeen steckte: die nationale Befreiung. Erst ab 1943 gewann auch in Slowenien die kommunistische Revolution die Oberhand.
Immerhin brach Jugoslawien bereits 1948 mit der Sowjetunion und war niemals ein Teil der von den Sowjets konstruierten Militärallianz, des Warschauer Paktes. Zudem öffnete Jugoslawien bereits in den frühen sechziger Jahren seine Grenzen, um seinen Bürgerinnen und Bürgern zu ermöglichen, im Westen und insbesondere in Westdeutschland zu arbeiten. Diese vergleichsweise stark ausgeprägte Vertrautheit mit dem westlichen Lebensstil und mit westlichen Gewohnheiten bewirkte, dass der Kulturschock des postkommunistischen Übergangs in Slowenien weniger drastisch ausfiel als anderswo.
Und doch gab es dramatische Veränderungen. Die Slowenen erlebten drei große Wendemarken. Erstens konnten sie sich erfolgreich gegen die kommunistisch geführte Armee Jugoslawiens im Zehntagekrieg vor 15 Jahren verteidigen. Zweitens verabschiedeten sie sich vom totalitären Regime und bauten eine pluralistische Demokratie auf. Und drittens ging es darum, einen Nationalstaat zu errichten. In gewissem Sinne war diese enorme Aufgabe einmalig, denn die meisten anderen osteuropäischen Länder konnten auf eine Geschichte einer mehr oder weniger ausgeprägten Eigenstaatlichkeit zurückgreifen. Das war in Slowenien nicht der Fall. Zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte der Marginalität konnten die Slowenen frei und verantwortlich über ihre Zukunft entscheiden.
Dieses umwälzende Ereignis war indes bereits von romantischen Hoffnungen von vielen slowenischen Schriftstellern und Dichtern vorweggenommen worden, auch wenn es aller Rationalität zu widersprechen schien. Die Schriftsteller beschäftigten sich traditionellerweise mit der Verpflichtung und dem Risiko, als nationale Fackelträger zu fungieren, als Wächter der moralischen, gesellschaftlichen und geistigen Werte, die in der slowenischen Sprache enthalten seien. Es war die Sprache, die vor allem den nationalen Schatz widerspiegelte und als Unterscheidungsmerkmal der slowenischen Identität diente. Erinnert sei nur an den wichtigsten romantischen Schriftsteller Sloweniens, France Preseren (1800 - 1849), der mit "Die Taufe an der Savica" (1836) ein Epos in Versform schuf. Er dramatisiert und mythologisiert darin den verlorenen Kampf der heidnischen Ahnen Sloweniens und ihre Konversion zum Christentum im 8. Jahrhundert. Savica, der Wasserfall in den Julischen Alpen, ist beinahe eine Wallfahrtsstätte für Slowenen, an der sie mehr oder weniger spontan das Modell für das Zusammenleben aller Slowenen begreifen, wie es Preseren in seinem epischen Gedicht formuliert hat: widerstandene Konversion und schwierige Anpassung. Der slowenische Gründungsmythos ist natürlich kein Mythos im Sinne eines anonymen kollektiven Narrativs. Er wurde von einer Person formuliert, die selbst zum Teil des Mythos wurde.
Die deutsche Öffentlichkeit mag nur wenig über Preseren wissen. Umso bekannter dürfte ein viel gespieltes Produkt slowenischer Musizierkunst sein. Die Polkas und Walzer der Band Avseniki wurden auf der ganzen Welt bekannt, wenn auch unter dem besser zu vermarktenden Bandnamen "Slavko Avsenik und seine Original Oberkrainer". Ich schlage vor, dass man besser der modernen Fassung des Volksliedes "Vsi so venci beli" ("Alle Kränze sind weiß") zuhören sollte, wie sie von dem höchst populären Liedermacher und Ethno-Musiker Vlado Kreslin eingespielt wurde. Die Melancholie des Liedes trägt eine volkstümliche Vorstellung des Flachlands in die nordöstliche Ecke Sloweniens. Sein Text formuliert die Klagen einer jungen Frau, deren Hochzeitskranz noch immer grün, noch immer nicht fertig ist. Dieses uneinsichtige, geradezu behagliche Streben nach dem Unerreichbaren lässt die Slowenen kaum für bedeutsame Entscheidungen geeignet erscheinen.
Doch als Slowenien im März 2003 in einem Referendum den Beitritt zur Europäischen Union beschloss, wurde eine Entscheidung mit historischer Tragweite gefällt, ähnlich dem Referendum, das im Juni 1991 die Unabhängigkeit legitimiert hatte. Man kann daher sagen, dass die Mehrheit der Sloweninnen und Slowenen nach dem tragischen Zusammenbruch ihres "größeren Zuhauses" Jugoslawien erkannten, dass es unmöglich wäre, halbwegs vernünftig zu leben, ohne in einem Kollektiv verankert zu sein - auch wenn es ebenso möglich ist, in dessen Namen einen sinnlosen Tod zu sterben.
Die Aussicht, einem neuen "größeren Zuhause", der Europäischen Union, beizutreten, hatte seinerzeit kaum Befürchtungen unter den Slowenen geweckt. Ausgestattet mit ihren historischen Erfahrungen, richteten sie ihre Hoffnungen auf die föderale Struktur des Gemeinsamen Europäischen Hauses, damit beides gewährleistet ist - das demokratische Leben der einzelnen Bürgerinnen und Bürger und tragfähige Bedingungen für die Wahrung des Besonderen im Kollektiv. Weil das kollektive Leben vor allem von einer gemeinsamen Sprache abhängt, enthält die slowenische historische Erfahrung eine wertvolle Anleitung für die europäische Integration.
Diese Anleitung hat der österreichische Essayist Karl-Markus Gauß in seinen Essays "Europäisches Alphabet" (1997) entwickelt: Europa wird blühen, wenn es ein Europa der Muttersprachen und der spezifischen Kulturen ist und nicht allein ein politisches Europa der Staaten. Weil sie so lange ohne einen Nationalstaat auskommen mussten, haben die Slowenen und die slowenischen Minderheiten in Italien, Österreich und Ungarn sehr gut gelernt, dass Verfassungsordnungen und Staaten kommen und gehen. Was bleibt, um Zeugnis über ein besonderes kollektives Leben abzulegen, ist die Sprache und ihre wunderbaren und verwunderlichen Eigentümlichkeiten.
Wenn wir, die Bürgerinnen und Bürger Europas, uns auf unser Zusammenleben freuen und nach vorne schauen, sollten wir zuerst einen ernsten Versuch unternehmen, uns mit den kulturellen Eigenheiten der verschiedenen europäischen Länder vertraut zu machen. Die Kunst des Lernens, das räume ich gerne ein, ist langwierig, und das Leben ist kurz und voller Vorurteile. Doch es ist einen Versuch wert, dem altmodischen Verlangen nachzugeben, nach dem "Nachbarn Freunde, nicht Feinde sein sollen", wie es einst France Preseren sang.
Übersetzung aus dem Englischen: Hans-Georg Golz, Bonn.